E-Book, Deutsch, 688 Seiten
Hunter Die dritte Kugel
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-98676-161-5
Verlag: Festa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller
E-Book, Deutsch, 688 Seiten
ISBN: 978-3-98676-161-5
Verlag: Festa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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1
BALTIMORE
Der Bürgersteig vor ihm bockte und schwankte, aufgewühlt von dem kräftigen Wind, der durch die Nacht jaulte.
Nein, halt. Ändern wir das. Da war kein Bocken und Schwanken. Das Gleiche gilt für ›aufgewühlt‹ und den ›kräftigen Wind, der durch die Nacht jaulte‹.
Es kam Aptapton lediglich so vor, weil der Wind, der mit der Stabilität des Bürgersteigs spielte, nur in seinem Kopf ›jaulte‹. Es war die milde Abendbrise des Wodkas, und sie beeinträchtigte ganz entschieden seine Einschätzung der Solidität des kleinen Fleckchens Erde zwischen der Bar, die er gerade verlassen hatte, und dem Haus, in dem er nur wenige Hundert Meter entfernt wohnte.
James Aptapton – Alkoholiker, Journalist, Erfolgsautor, Melancholiker und Waffennarr – befand sich in dem Zustand, den man nicht mehr als Schwips, aber noch nicht als Vollrausch bezeichnen konnte. Er war ein Blatt im Wind, könnte man sagen, in jener schwerelosen Hochstimmung, wie sie drei Wodka Martini bei jemandem hervorrufen können, der nur mittelmäßig viel verträgt, und was vor ihm lag, mochte es auch eine gewisse Herausforderung darstellen, erschien ihm eigentlich nicht unüberwindlich. Schließlich musste er nur noch ein paar Schritte gehen, die Straße überqueren und dann …
Abschweifung. Innehalten für ein autobiografisches Zwischenspiel. Das ist erlaubt, wenn man einen im Kahn hat. Eine Assoziation führt zur nächsten, und in diesem Fall ist die Assoziation nur passend.
Die Straße hieß Light Street, und das legte einen mehr oder weniger hoffnungsvollen Abschluss des Abends nahe. ›Light‹ wie ›Licht‹ oder ›leicht‹. Leichten Herzens, Licht des Geistes, Licht am Ende des Tunnels, leichtfüßig, amüsant, magisch, geistreich, Licht als Symbol für Hoffnung und Leben. Aber auch: Light for All, ›Licht für alle‹, wie es eine berühmte Zeitung, deren Redaktionsgebäude sich ungefähr eine Meile entfernt in ebendieser Light Street befand, seit gut 175 Jahren verkündete, von denen Aptapton 26 dort angestellt gewesen war und wo seine Frau auch heute noch knechtete.
Ja, er war der James Aptapton, Journalist mit gewissem lokalem Bekanntheitsgrad, zu gewissem Ruhm gelangt als Autor von Büchern über Schießereien und die stoischen Helden, die siegreich aus ihnen hervorgingen, und jetzt, mit 65, war er unglaublich erfolgreich (in begrenztem Umfang) und sehr mit sich selbst zufrieden. Er hatte alles: eine schöne Frau, eine oder zwei Millionen auf dem Konto, ein hübsches Haus in einem fantastischen Teil der Stadt, ein kleines bisschen Berühmtheit (genug, um Freude daran zu haben), eine großartige Zukunft, einen lukrativen Vertrag über mehrere Bücher, ein echt cooles Projekt vor sich und jede Menge Waffen.
Der Grund für die drei Wodka Martini war Freiheit, nicht irgendein feierlicher Anlass. Seine Frau war nicht da, hahaha, ihr Pech! Sie war bei irgend so einer Frauensache von der Zeitung, eine Geburtstagsfeier vielleicht – warum nahmen Frauen Geburtstage eigentlich immer so ernst? –, und so war er allein zum nahe gelegenen Bistro spaziert und hatte sich einen Burger mit einem Bud gegönnt und dann Wodka Martini Nr. 1, der seine Entschlossenheit geschwächt hatte, W. M. Nr. 2 zu widerstehen, welcher seine Entschlossenheit zerstörte, W. M. Nr. 3 zu widerstehen. Glücklicherweise hatte es keinen W. M. Nr. 4 gegeben, sonst wäre er auf der Herrentoilette eingeschlafen.
Genau.
Wo war ich vor der Abschweifung?
Was ist das hier für ein Ort?
Wo bin ich gerade?
Hahahaha.
Ach ja: Der Jäger kehrt heim. Er war auf dem Weg nach Hause.
Die Straße neigte sich und schlingerte. Ein Stück voraus bäumte sie sich auf und kippte dann abwärts, um einen Blick ins Tal zu gewähren. Sie schaukelte. Sie schwankte. Sie zitterte, schüttelte sich, krümmte sich zusammen, warf Blasen, blubberte und machte Schwierigkeiten.
Er lachte.
Findest du dich amüsant?, fragte seine Frau ihn immer, und die Wahrheit war: Ja, er fand sich amüsant.
Die Stimmung, die ebenso wie die interessante Geografie durch von Kulakenabkömmlingen destillierte rote Kartoffeln chemisch verstärkt wurde, war ziemlich gut. Der James Aptapton war erkannt worden. Das kam vor. Selten zwar, aber es war nichts ganz Neues für unseren lokalprominenten Trivialautor.
»Mr. Aptapton?«
Auf halbem Weg durch Wodka Martini Nr. 3 hatte er zu einem ernsten jungen Mann aufgeblickt, vielleicht der stellvertretende Geschäftsführer.
»Ich wollte nur sagen, ich habe alle Ihre Bücher gelesen. Mein Dad hat sie mir empfohlen. Ich liebe jedes einzelne Buch von Ihnen!«
»Na«, sagte Aptapton, »vielen Dank auch.«
Der junge Mann setzte sich und überschüttete Aptapton für eine Weile mit seiner Verehrung, und Aptapton bemühte sich, ihm als Gegenleistung eine authentische Aptapton-Begegnung zu bieten. Tatsächlich verlief die Transaktion für beide zufriedenstellend, und gegen Ende von W. M. Nr. 3 verschaffte eine Pause in der Lobhudelei Aptapton die Gelegenheit, sich würdevoll zu entschuldigen, Tom – Jack? Oder Sam? – Auf Wiedersehen zu sagen und sich aus dem Staub zu machen. Aus diesem Grund war seine Stimmung heiter und fröhlich. Er hatte gerade die Light Street überquert, und jetzt lag nur noch die schmale Gasse, die Churchill hieß, zwischen ihm und seinem Ziel: der Horizontalen seines Bettes.
Der Russe beobachtete ihn aus dem gestohlenen schwarzen Camaro, der in der Light Street parkte. Dies schien der geeignete Abend zu sein. Er beschattete den Mann jetzt seit drei Tagen auf seine geduldige, professionelle Weise, und ein nicht geringer Teil seines Talents bestand darin, genau zu wissen, wann die Umstände günstig für ihn waren und wann nicht.
Denn jetzt kamen über den mitgehörten Polizeifunk die üblichen Bullen-Zahlencodes und lakonischen Ortsangaben, die darauf hindeuteten, dass hier in der unmittelbaren Umgebung von Federal Hill mit keiner Polizeipräsenz zu rechnen war. Und es war spät genug, dass in diesem nächtlichen Bezirk nicht mehr viel los war und die feucht glänzenden Straßen größtenteils leer waren und nur gelegentliche Grüppchen betrunkener junger Leute hierhin und dorthin wankten. Und schließlich war die Zielperson aufgetaucht, funktionell beeinträchtigt durch Alkohol und Selbstliebe, und stolperte jetzt die Straße entlang.
Der Russe sah einen Mann in Jeans und Tweedjacke mit einer Schriftstellerbrille, Trotzki aus einem Orwell-Roman mit Armanijacke oder irgendwas in der Art. In New York sah man solche Brillen. Der Mann hatte ein rundes, zufriedenes Gesicht mit einem Bart wie Hemingway, um seine Hängebacken zu verbergen, und Narzissmus strahlte mächtiger von ihm aus als jedes andere menschliche Attribut. Teure Schuhe. Schöne Schuhe. Ein Mann, der es zu etwas gebracht hatte.
Sofern sich nicht irgendeine unvorhersehbare Schicksalsmacht einmischte, die besondere Sympathien für Thrillerautoren hegte, würde es wohl heute Abend geschehen. Der Russe glaubte nicht an unvorhersehbare Schicksalsmächte; er glaubte an die Fähigkeit eines schnellen Wagens, einem armen, nichts ahnenden Idioten wie dem hier in 100 Prozent aller Fälle das Rückgrat zu brechen. Er hatte es gesehen, er hatte es selbst getan, er besaß die Nerven, die Coolness und die Herzenskälte, um eine solche Tat ohne große emotionale Beteiligung zu begehen. Er war ein Profi und wurde gut bezahlt.
Die Zielperson des heutigen Abends schaffte es trotz ihrer alkoholbedingt unkoordinierten Gliedmaßen, die Light Street zu überqueren, ohne hinzufallen. Der Mann navigierte mit der für Betrunkene typischen Übertreibung. Eine schwungvolle Vorwärtsbewegung, aber ohne die nötige Feinkontrolle; er bewegte sich dahin, wohin sein Schwung ihn zog, nicht wohin er zielte, und im letzten taumelnden Moment stolperte er durch eine Seitwärtskorrektur wie bei einer übertriebenen Clownsvorstellung.
Das alles bedeutete dem Russen nichts, denn er fand nichts lustig. Entfernungen, Winkel und Oberflächen dienten ihm nur dazu, Beschleunigung in Aufprallgeschwindigkeit umzurechnen. Er brachte die beiden herausgerissenen Drähte der Zündung in Kontakt, und das Automobil erwachte zum Leben. Der Russe hielt nichts von Angeberei oder Klischees, deshalb drehte er nicht den Motor im Leerlauf hoch, um die Pferde unter der Haube aufbrüllen und den Auspuff toxische Gase ausrülpsen zu lassen. Gemächlich legte er den ersten Gang ein, lenkte auf die leere Straße und wartete einen Moment, denn er musste die letzten drei Sekunden der Beschleunigungszeit in der Gasse zurücklegen, um auf 80 Stundenkilometer zu kommen, die tödliche Aufprallgeschwindigkeit.
Auf beiden Seiten war nichts außer Baltimore. Am Eingang der Churchill – auf der einen Seite flankiert von einer Kirche und auf der anderen von einem der typischen Baltimore-Reihenhäuser, die für die kleinen Menschen der 1840er-Jahre gebaut worden waren – richtete Aptapton seinen Kurs neu aus und wankte in den Durchgang. Auf den Stadtplänen war die Churchill als vollwertige Straße verzeichnet, aber sie war vor vielen Jahren als bloße Gasse angelegt worden, mit winzigen Backsteingebäuden, die als Wohnungen für das Personal dienten oder als Betriebsgebäude für die größeren Häuser vorn an den stolzeren, breiteren Straßen. Über 100 Jahre war dieser Durchgang von Schweine- und Pferdemist beherrscht worden, vermischt mit dem Blut und Schweiß der Afroamerikaner und Einwanderer. Hier hatten die...




