E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Hunder MORDsJAHRE
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8375-2726-1
Verlag: Klartext
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kurzkrimis aus dem Ruhrgebiet
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-8375-2726-1
Verlag: Klartext
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Steffen Hunder ist Jahrgang 1957 und war von 1985-2021 evangelischer Pfarrer an der Essener Kreuzeskirche. 1999 Debüt als Krimiautor mit 'Das Ritual des 11. Gebotes'. 2005 gründeten Steffen Hunder & Lars Schafft die Essener Krimi-Couch, die Hunder seit 2021 im Alten Bahnhof in Kettwig moderiert.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Norbert Horst
Willis letzte Reise
„Verdammt, was machen wir denn jetzt?“
Der Mann war vom Stuhl geglitten, aber das war schon eine Weile her. Er lag vor dem kleinen Tisch in der Küche auf dem Rücken und nichts an ihm bewegte sich mehr.
Beide hatten wiederholt ihr Ohr auf seine Brust gedrückt, zuletzt ein Streichholz vor Mund und Nase gehalten, aber das Wärme und Licht spendende Flämmchen war so ruhig geblieben wie eine LED-Kerzenimitation aus Plastik zu Weihnachten.
Grunwald zog den linken Arm am Stoff des Ärmels noch einmal nach oben und ließ los. Mit einem hellen kleinen Geräusch landete die Hand auf den Fliesen und blieb regungslos.
„Der lebt nicht mehr. Ich hab dir gleich gesagt, sei vorsichtiger mit dem Zeug.“
Bolte nahm das Glas, in dem ein Rest Bier schwamm, und roch noch einmal daran, als ob er auf diese Weise eine Bestätigung seiner Einschätzung finden könnte.
„Zehn Tabletten sind zu viel.“
Der Mann in der Horizontalen war ihr Vermieter Wilhelm Härtel, bei dem sie mit mehreren Monatsmieten in der Kreide standen. Schon von der Grundstimmung her kein Menschenfreund hatte er zuletzt immer giftiger damit gedroht, sie rauszuschmeißen. Der Plan war, ihn mit Schlaftabletten halbwegs zu betäuben, mit einer Prostituierten verfängliche Fotos zu produzieren und ihn mit der Drohung, das gehe viral, zu beruhigen, wie Grunwald das nannte.
Es klingelte. Die Dame für die Fotos war pünktlich, bestand aber auf dem abgemachten Preis, auch wenn sie keine Gegenleistung erbringen musste. Ihre Zeit sei knapp, Verdienstausfall, andere Kunden warteten etc.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Bolte, als sie gegangen war. „Der Typ muss weg hier. Übermorgen kommt meine Mutter.“
Grunwald steckte die Hände in die Hosentaschen und ging schweigend ans Fenster, das nach vorn raus ging. Auf der Bohnekampstraße, die im nieseligen Novemberregen lag, war kein Verkehr mehr, nur ein Hundemensch führte einen Terrier an der Leine. Dann fiel sein Blick auf die eingezäunte Ruine der Schlägel-und-Eisen-Siedlung auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
„Wir bringen ihn rüber.“
„Wie rüber?“ Bolte kniete immer noch neben der Leiche und sah auf.
„In die Siedlung. Da finden sie ihn erst mal nicht. Und wer weiß, wann da wieder was passiert. Bis dahin besteht der nur noch aus Knochen.“
Bolte stellte sich neben ihn und blickte ebenfalls auf die eingezäunten und zum Teil schon verfallenen Gebäude auf der anderen Straßenseite. „Im großen Koffer zum Auto, der kleine Mirz passt da rein. Dann fahren wir in die Schlägelstraße, da ist tote Hose, und gehen von hinten ran. Da sieht uns kein Schwein.“
Grunwald sah ihn an und wiegte den Kopf. Bolte wusste, dass das Zustimmung bedeutete.
Exxxplorer15 schwang sich über den metallenen Baustellenzaun, der das Gelände abgrenzen sollte, was für einen erfahrenen und vor allem fitten Urbexer kein Problem war. Er blickte auf die Uhr, 02:42 Uhr, eine gute Zeit.
Durch das feuchte Unkraut ging er an der Fassade entlang und fand ein Fenster, in dessen Verbarrikadierung sich ein paar Bretter gelöst hatten. Mit etwas Mühe stieg er durch den Spalt und erst jetzt schaltete er seine Stirnlampe ein. Der Lichtkreis tastete den Raum ab und beleuchtete die übliche Szene aus Verfallenem und Müll.
Die Siedlung hatte den Ruf, dass es hier spuken würde, weshalb sie als Lost Place fast verbrannt war, weil einfach zu viele Menschen hier auftauchten. Manchmal sogar Familien am Sonntagnachmittag. Aber es ging dennoch eine Faszination von den Gebäuden aus und er wollte selbst die Stimmung erkunden nach all den Jahren, die er an solchen Orten unterwegs war.
Einige der Möbel waren noch vorhanden, und weil viele der Fenster und das Dach noch weitgehend intakt waren, hatte die Feuchtigkeit bisher noch keine so große Chance gehabt, zumindest nicht in diesem Teil des Gebäudekomplexes. Er ging durch die Räume, die offensichtlich Wohnungen gewesen waren, inspizierte ein paar Schränke, aber es war nichts mit privaten Daten zu finden, was immer das Highlight in der Szene war. Briefe an Oma, Notizbücher, Krankenakten, solche Dinge. Hier gab es nur ein paar alte Töpfe, Teller und Haushaltsmüll.
Er stieg die Kellertreppe nach unten und in dem Moment, als er dachte, dass er an anderen Orten häufiger einen größeren Kick erlebt hatte, erschienen ein paar Schuhsohlen im Schein der Lampe, die nur deshalb senkrecht blieben, weil in den Schuhen noch Füße steckten, die zu einem Mann gehörten, der auf dem Rücken lag.
Kleine Wärmeexplosionen überall auf der Haut ließen ihn schaudern. Der Kick war nicht von schlechten Eltern, dachte Exxxplorer15, trat näher heran und sah auf den ersten Blick, dass der Mensch tot war. Zur Sicherheit stieß er ihn mit den Füßen an und spürte, dass die Leichenstarre schon ausgeprägt war.
Was war jetzt zu tun? Eine Leiche hatte er tatsächlich noch nie gefunden. Sein Haftbefehl wegen permanenten Schwarzfahrens existierte noch, das wusste er, darum musste er anonym bleiben, aber weil sein Handy auf eine Fake-Person registriert war, wählte er die 110 und gab der Polizei den genauen Fundort einer Leiche durch. Seinen Namen nannte er nicht.
Dann verschwand er, so schnell es ging.
„Anonyme Hinweise sollten wir gar nicht mehr annehmen, schon gar nicht bei so einem Scheißwetter“, sagte Kriminaloberkommissar Mattiza von der Kriminalwache Recklinghausen, als er mit seinem Kollegen Manke vor der Schlägel-und-Eisen-Siedlung anhielt.
„Und hier kommt man doch nirgendwo rein, alles abgesperrt.“ Langsam ließ er den Wagen am Zaun entlangrollen.
„Fahr mal in die Schlägelstraße, vielleicht haben wir hinten mehr Glück.“
Kurze Zeit später standen sie im Inneren der Umzäunung. Da nirgendwo ein Durchlass erkennbar gewesen war, hatte Mattiza mit dem Seitenschneider aus seinem Einsatzrucksack ein paar Kabelbinder, die die Zaunelemente verbanden, durchgeknipst.
Sie versuchten, den spärlichen Hinweisen, die die Leitstelle dem Anrufer aus der Nase gezogen hatte, nachzugehen, und standen nach zehn Minuten tatsächlich vor einer Leiche.
„So eine Scheiße, immer zum Feierabend. Dabei habe ich am späten Vormittag schon einen Termin“, sagte Manke.
„Pass auf“, sagte Mattiza, nachdem sie eine Weile stumm vor dem Toten gestanden hatten, „ich habe auch keinen Bock auf Überstunden, denn bis der Bestatter kommt und wir den Bericht geschrieben haben, ist es bald Mittag. Wir halten gegenüber der Leitstelle erst mal die Füße still, schauen uns den Burschen an, und wenn der kein Messer im Rücken hat, machen wir die Leichensache morgen Nacht. Wir haben doch noch einen Nachtdienst. Sollte der Anrufer sich noch mal melden, sagen wir einfach, wir hätten in diesem Riesending nichts gefunden. Und ob er hier einen Tag länger liegt oder in China platzt das textile Behältnis mit den körnigen Grundnahrungsmitteln ...“
Manke fand die Idee hervorragend. Nach zwanzig Minuten hatten sie den Mann aus- und wieder angezogen, hatten ihn professionell begutachtet, aber keinerlei Hinweise dafür gefunden, dass er gewaltsam in die ewigen Jagdgründe geritten war.
Anschließend deponierten sie die Leiche so, wie sie sie vorgefunden hatten, und ließen sie am Platz liegen, weil der ihnen im Keller ziemlich günstig erschien. Danach verschloss Mattiza den Zaun wieder mit einem Kabelbinder, der eigentlich als Handfessel vorgesehen war, und beide fuhren dem wohlverdienten Feierabend, der ein Morgen war, entgegen.
In ihrer Angst, dass sie doch entdeckt werden könnten, hatten Grunwald und Bolte hinter der Gardine ihres Fensters die An- und Abfahrt der beiden Polizisten beobachtet.
„Das sind Bullen gewesen, ich erkenne den Wagen auf zehn Kilometer, auch wenn er zivil ist. Außerdem: Zwei Kerle nachts in so einer Karre, wer soll das sonst sein?“
„Und was sollen die da gemacht haben? Meinst du, die waren wegen Härtel da?“
„Warum sonst? Was macht man mitten in der Nacht in der Schlägelstraße, wo der Hund verfroren ist?“
„Aber woher sollen die das wissen?“
„Da laufen doch tagsüber häufiger Leute rum, seit das mit dem Spuken in der Zeitung gestanden hat. Vielleicht hat einer angerufen.“
„Aber warum fahren die Bullen dann wieder weg? Ohne was gemacht zu haben?“
„Ich habe keinen Schimmer. Vielleicht kommen die ja wieder.“
„Meinst du, die holen jetzt Verstärkung?“
„Kann sein. Ich fände es jedenfalls besser, wenn wir ihn wieder zurückholen. Vielleicht haben sie ihn ja noch nicht gefunden, sonst wäre hier mehr los.“
„Oder sie haben einfach einen anderen Einsatz bekommen und kommen gleich wieder.“
„Auch möglich, auf jeden Fall ist es besser, wenn er erst mal wieder da weg ist.“ Grunwald sah auf seine Uhr. „Aber wir müssen uns beeilen, bevor gleich alle wach sind.“
Keine dreißig Minuten später lag Wilhelm Härtel wieder an seinem alten Platz in der Küche und die beiden Mietgläubiger wechselten sich die nächsten Stunden beim Beobachtungsposten am Wohnzimmerfenster ab.
Aber nichts tat sich. Gegen Mittag fuhr einmal ein Streifenwagen die Bohnekampstraße entlang, allerdings ziemlich zügig. Ansonsten lag die verfallene und abgesperrte Siedlung in trüber Herbststimmung so friedlich und ruhig da wie ihr Vermieter auf den Küchenfliesen.
„Die haben ihn nicht gefunden“, sagte Mattiza, als es schon zu dämmern begann....




