Hughes | Perlen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Hughes Perlen

Roman | »Ein zartes Buch über großen Kummer, darüber, wie er uns verändert und wie er doch heilen kann« Elke Heidenreich
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7558-1077-3
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman | »Ein zartes Buch über großen Kummer, darüber, wie er uns verändert und wie er doch heilen kann« Elke Heidenreich

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-7558-1077-3
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Marianne ist acht Jahre alt, als ihre Mutter verschwindet. Sie bleibt mit ihrem Bruder Joe und ihrem Vater in einem Haus am Rande eines kleinen Dorfes zurück, neben dem ein Fluss entspringt. Die bruchstückhaften Erinnerungen an die Liebe ihrer Mutter geben ihr Kraft: der Duft frischer Kräuter, die Spiele, die sie spielten, die Lieder und Märchen aus ihrer Kindheit, die in Mariannes Fantasie weiterleben. Doch da ist so vieles, das verborgen liegt im Dunkel ihrer eigenen Geschichte. Die drängendste Frage: Warum ist ihre Mutter gegangen, wie hat sie Marianne nur zurücklassen können? Die abwesende Mutter begleitet sie durch ihre gesamte Kindheit und Jugend, bleibt auch bei ihr, als sie längst erwachsen ist. Erst Jahre, nachdem sie selbst eine Tochter bekommen hat, beginnt Marianne, sich auf die Spur ihrer Erinnerungen zu begeben und stößt auf ein Geheimnis. >Perlen< erzählt davon, wie es gelingen kann, trotz widriger Umstände den eigenen Weg zu finden. Ein zarter Roman, poetisch und unprätentiös zugleich, über das Wesen der Trauer und den Trost, den wir finden können, wenn es uns gelingt, uns mit der eigenen Vergangenheit auszusöhnen.

SIÂN HUGHES wuchs in dem kleinen Dorf in Cheshire auf, wo >Perlen< auch spielt. Ihr Gedichtband >The Missing< (2009) stand auf der Longlist des Guardian First Book Award, kam in die engere Wahl für den Felix Dennis und den Aldeburgh Prize und gewann den Seamus Heaney Centre Prize for Poetry. >Perlen< ist ihr erster Roman, erschienen bei dem kleinen unabhängigen Verlag Indigo Press. Er stand auf der Longlist für den Booker Prize und auf der Shortlist für den Author's Club Best First Novel.
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2

Wilbur und Charlotte

Cinderella, dressed in yella,

Went to a ball to kiss a fella,

By mistake, kissed a snake,

How many doctors did it take?

Was weiter passiert ist, nachdem ich der Hebamme das gesagt hatte, weiß ich nicht mehr. Ich sagte damals viel in der Art. Und war zu verwirrt, um mir zu merken, in welcher Reihenfolge alles ablief. Es kamen massenhaft Menschen, um auf mich einzureden. Die meisten waren nett. Ein paar hatten diese Miene, die ich noch aus der Schule und von der Polizei kannte, sie suchten die Sollbruchstelle in meinem Gesicht, das Falsche.

(Mit acht glaubte ich noch, sie würden in meinem Gesicht nach dem Grund suchen, aus dem meine Mutter verschwunden war. Dem einen Entsetzlichen, was mit mir nicht stimmte und sie veranlasst hatte, zur Tür hinauszugehen und nie mehr zurückzukommen. Als ich älter wurde, glaubte ich, sie suchten nach Ähnlichkeiten, nach einem Warnsignal, dass ich es ihr bald gleichtun würde.)

Nach ein paar solchen Besuchen sahen für mich alle gleich aus. Ich hörte kaum noch zu, wenn sie mit mir redeten. Susannah wurde immer properer und fröhlicher, und mit der Zeit färbte ihre Fröhlichkeit auf mich ab. Ich hatte die Aufgabe, ihr das Lächeln beizubringen. Da blieb mir nichts anderes übrig, als selbst zu lächeln.

Letztes Jahr, als Susannah mit einer Mandelentzündung zu Hause bleiben musste, kamen die Fragen zurück. In der Nacht hörte ich, dass sie auf war, und wollte ihr ein Glas Wasser bringen. Als ich in ihr Zimmer kam, hockte sie auf dem Boden und zerschnitt ihr Kopfkissen in kleine Schnipsel, die sie im Kreis um sich anordnete. Um ihren Kopf schwebte eine Wolke aus winzigen Daunenfedern, wie ein Heiligenschein.

»Was ist denn hier los?«, fragte ich und gab mir Mühe, normal zu klingen. Sie schnipselte weiter.

»Der mit den Locken ist seit Stunden hier, du drehst das Radio immer viel zu laut, und da kommt so was Komisches aus deinen Füßen.«

Ich fühlte ihr die Stirn. Mit vier hatte sie einmal wegen einer Mittelohrentzündung hohes Fieber gehabt und war dauernd aus dem Bett gesprungen, um im Zimmer Vögel einzufangen, aber diesmal war sie nicht besonders warm. Eher sogar etwas klamm, weil sie mitten in der Nacht auf dem Boden saß.

Mir zog es besagten Boden unter den Füßen weg, und ich erkannte das Gefühl, eine Erinnerung an meine Mutter tauchte auf, wie ich mit ihr in der Küche war, wie sie manchmal redete. Es war nur ein kurzer Moment. Ich wusste nicht genau, welche Erinnerung an meine Mutter da durch meine fantasierende Tochter heraufbeschworen wurde, aber es fühlte sich an, als würde unter meinen Füßen eine Schublade aufgezogen und dann schnell wieder zugeknallt, um mich an fast derselben neuralgischen Stelle einzuklemmen. Fast war es die richtige Stelle, aber doch nicht ganz.

Ich legte die Hand an den Türrahmen und konzentrierte mich mit aller Kraft auf dieses Stück lackiertes Holz, auf meine Erwachsenenhand mit Resten von Ölfarbe unter den Fingernägeln, auf die Farbe an den Wänden, die Susannah selbst ausgesucht hatte, dachte an den Namen der Farbe außen auf der Dose, Meeresbrise. Ich gab ihr das Wasserglas, dann ging ich nach unten, um den ärztlichen Notdienst anzurufen.

Diesmal war ich auf die Fragen vorbereitet. Als sie kamen, konnte ich ihnen in die Augen sehen und sagen: »Als ich acht Jahre alt war, ist meine Mutter einfach fortgegangen, sie wurde nie gefunden. Mein Bruder war noch ein Baby. Nein, eine Diagnose gab es nie, weil sie sich immer vor Ärzten versteckt hat. Sie hat sich vor allen versteckt. Mich hat sie zu Hause unterrichtet, weil … also, eigentlich weiß ich nicht, warum. Aber ja, es gibt eine Vorgeschichte. Von Wahn.« Diesmal nannte ich es anders. Wahn? Trauer? Ich meinte doch ein und dasselbe.

Als ich den Heimunterricht erwähnte, kam ich mir wie eine Verräterin vor. Und beantwortete die nächste Frage schon, bevor sie überhaupt jemand stellte. Warum? Warum hatte sie mich zu Hause behalten? Alle wollten ständig wissen, was mit ihr los gewesen war. Was hatte ihr solche Angst gemacht? Ich weiß es nicht. Das große Gebäude? Die Lehrkräfte? Die anderen Eltern? Aus dem Haus zu gehen? Nie hat mir jemand die Fragen gestellt, die ich eigentlich beantworten möchte. Was habt ihr denn den ganzen Tag gemacht? Was hat sie dir beigebracht? Wie war das für dich?

Sie hat mir den Fall Jerichos aus der King-James-Bibel vorgelesen, Alice im Wunderland und Sara, die kleine Prinzessin, wir ließen Stangenbohnen am Treppengeländer emporwuchern, bauten Insektenhotels aus Balsaholz, wir sangen sämtliche Strophen von »The Raggle Taggle Gypsies«, nähten Puppen aus Stoffresten und tauften sie später unten am Fluss, wir hielten Kaninchen und Entenküken, ernteten ganze Eimer voll Himbeeren und bauten Buntglasfenster aus Kuchenteig und Bonbonmasse.

Meine ersten Schulerfahrungen bestärkten mich in dem Verdacht, dass das Leben zu Hause besser war, und wenn jetzt jemand von mir wissen will, warum ich zu Hause unterrichtet wurde, sage ich: Weil meine Mutter das eben einfach richtig gut konnte. Und wie sich zeigte, sollte ich auch nicht allzu viel Zeit mit ihr haben, darum bin ich froh, dass wir all diese Tage gemeinsam verbringen konnten. Es gelang mir aber erst, als ich schon ein gutes Stück über dreißig und selbst Mutter war, das so zu betrachten, den Mut aufzubringen, auf diese Weise für sie einzustehen, und für mein Recht darauf, mich positiv an meine Mutter zu erinnern.

Wenn jemand sich das Leben nimmt, zieht diese Person nicht nur uns die Zukunft unter den Füßen weg, sie entweiht auch ihre eigene Vergangenheit. Das macht es sehr schwer, an dem festzuhalten, was diese Person Gutes an sich hatte. Aber kein Mensch hat es verdient, nach den schlimmsten fünf Minuten seines Lebens beurteilt zu werden, auch nicht, wenn diese fünf Minuten die letzten sind.

Wie oft wollte ich mit ihr reden, als Susannah klein war. Um ihr zu erzählen, dass Susannah ein neues Wort konnte, dass sie zum ersten Mal selbst ihre Jacke zugeknöpft oder ohne Hilfe ihre Schuhe angezogen hatte. Um sie irgendetwas Belangloses zu fragen, etwa: Glaubst du, ich kann Spinat in den Reisbrei tun? Oder schmeckt das dann eklig?

Auch jetzt würde ich mich oft noch gern an sie wenden. Es gibt ein anderes Wort dafür, möchte ich ihr sagen, und es ist überhaupt nicht nötig, ein ganzes Leben in so großer Angst zu verbringen. Du kannst Tabletten dagegen nehmen, dir einen Plan machen, um wieder gesund zu werden, dich an die zuständige Sozialarbeiterin wenden, und wenn du dann immer noch Engel auf der Treppe siehst, erzählst du das einfach der Therapeutin.

Es ist nicht deine Schuld, dass du krank warst, möchte ich ihr sagen. Ich habe dich so in Erinnerung, wie du gewesen bist. In deinen besten Zeiten. Ich erinnere mich an deinen Garten, an den langen Küchentisch, wo wir Kartoffeldrucke gemacht und Lebkuchenfiguren ausgestochen haben, und an die Fensterbank, auf der du mir Wilbur und Charlotte vorgelesen hast, um mich abzulenken, damit ich nicht an meinen Windpocken kratze.

Ich erinnere mich an den Text von »Green Gravel«. Ich erinnere mich an die Muster aus Salz, auf dem Boden verstreut, um den Teufel in Schach zu halten, an die Algen, die in Flaschen am Küchenfenster hingen, um böse Geister abzuwehren, an den Geschmack von Salzteig an meinen Fingern, den Geruch der Teerseife auf der Toilette unten, wie die Hintertür über die Beule im Steinboden schabte. Das alles verwahre ich sicher in mir. Verleibe es mir ganz ein. Ich weigere mich, auch nur etwas davon wieder herzugeben.

Das Haus war voller Geheimnisse: Viele Generationen von An- und Umbauten, Stufen zwischen den Zimmern, die mal aufwärts, mal abwärts führten, beharrlich eisige Ecken, mindestens vier verschiedene Fensterformen. Großonkel Matthew hatte meinen Eltern das baufällige Haus zur Hochzeit geschenkt, mitsamt der Scheune, die bis unters Dach mit seinen verworfenen Erfindungen vollstand, hauptsächlich Gartengeräte und andere Werkzeuge, die er für Menschen im Rollstuhl oder mit amputierten Gliedmaßen angepasst hatte.

Meine Mutter ließ das Haus außer acht und legte in einer Ecke des ummauerten Obstgartens perfekt symmetrische Kräuterbeete an, jedes einen knappen Quadratmeter groß. Sie hatte ihr Leben lang über einem Ladenlokal gewohnt: Vom Pflanzen und Züchten verstand sie nichts. Sie säte planlos, zu jeder Jahreszeit, und die Kräuterbeete durchmischten sich, sprossen oder verdorrten, wie sie lustig waren.

Als wir aus dem Garten meiner Mutter fortgingen, war er längst völlig verwildert. Die Erde braucht nie lange, um zurückzufordern, was ihr gehört. Wenn man Unkraut einfach als Pflanze am falschen Ort betrachtet, dann wurde in den Jahren, die wir dort im Haus auf ihre Rückkehr warteten, alles, was im Garten meiner Mutter wuchs, zu Unkraut. Vielleicht ist so ein Vorher-Nachher-Bild aber auch zu einfach. Vielleicht haben diese Pflanzen immer schon gemacht, was sie wollten, auch als sie noch von ihr betreut wurden.

Wir hatten nie vor, alles so verkommen zu lassen, die Wege versperrt von verrottenden Grashaufen, die Ränder der Beete dreckig und durchweicht. Aber wir gaben uns auch keine große Mühe, es zu verhindern. Wir ließen zu, dass die Äpfel von den Bäumen fielen und sich im Gras die Wespen darauf sammelten, und futterten stattdessen Süßkram aus großen Plastikpackungen, was sie entsetzlich gefunden hätte.

Wir kippten das Verbot, mit dem sie Fernsehen und Fast Food belegt hatte. Das kam uns wie eine Mutprobe vor. Eine Art böser Zauber, um sie zurückzuholen, fuchsteufelswild und bereit, alles...


Handels, Tanja
TANJA HANDELS übersetzt Belletristik und Sachtexte aus dem Englischen, zuletzt u. a. Bernardine Evaristo, Zadie Smith, Toni Morrison und Virgina Woolf. Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den Preis der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung.

Hughes, Siân
SIÂN HUGHES wuchs in dem kleinen Dorf in Cheshire auf, wo ›Perlen‹ auch spielt. Ihr Gedichtband ›The Missing‹ (2009) stand auf der Longlist des Guardian First Book Award, kam in die engere Wahl für den Felix Dennis und den Aldeburgh Prize und gewann den Seamus Heaney Centre Prize for Poetry. ›Perlen‹ ist ihr erster Roman, erschienen bei dem kleinen unabhängigen Verlag Indigo Press. Er stand auf der Longlist für den Booker Prize und auf der Shortlist für den Author’s Club Best First Novel.



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