E-Book, Deutsch, 234 Seiten
Hüttemann / Parpan-Blaser Innovative Soziale Arbeit
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-17-040454-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Grundlagen, Praxisfelder und Methoden
E-Book, Deutsch, 234 Seiten
ISBN: 978-3-17-040454-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Soziale Arbeit wird stetig herausgefordert, sich methodisch, konzeptionell und organisational zu erneuern. Der Anspruch zur Innovation steht in enger Verbindung mit den Transformationsprozessen der Gesellschaft und sich verändernden sozialen Problemlagen. Akteurinnen und Akteure der Sozialen Arbeit reagieren aber nicht nur auf gesellschaftliche Veränderungen. Vielmehr gestalten sie den sozialen Wandel proaktiv mit. In diesem Band wird das Profil innovativer Sozialer Arbeit geschärft: durch theoretisch-konzeptionelle Diskussionen, den Blick auf Innovationsebenen und -bereiche und die Erörterung von Methoden und Kompetenzen zur Innovation.
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1 Normativität im Konzept »sozialer Innovation«
Georg Mildenberger & Judith Terstriep »Soziale Innovation« ist ein Konzept, das weniger in wissenschaftlichen Kreisen ersonnen, sondern stark praxisgetrieben entwickelt wurde. Im folgenden Beitrag werden wir zeigen, dass jede Verwendung des Begriffs mit Normativität zu tun hat. Die Unterscheidung von »normativen« und »nicht-normativen« Konzepten wird vorgestellt und diskutiert. Dabei wird deutlich, dass schon mit der Intentionalität, die bereits im Innovationsbegriff begründet liegt, Normativität ins Spiel kommt. Durch die changierende Bedeutung von »sozial« als Zeichen für »menschliche Interaktion«, »die Gesellschaft betreffend«, »altruistisch oder solidarisch gesinnt«, »gut für Gesellschaft« wird dies verstärkt. Forschung zum Thema »Soziale Innovation« muss daher immer mit Normativität in den unterschiedlichsten Ausformungen rechnen. Dabei genügt es nicht, zu betonen, dass die wissenschaftliche Perspektive sich normativer Aussagen enthält, vielmehr können sich jederzeit implizite normative Aspekte in wissenschaftliche Aussagen einschleichen. Normativität selbst kann unter den Bedingungen der Moderne nicht essentialistisch, quasi objektiv verstanden werden, sondern muss diskursiv »verflüssigt« und mit einem Zeitindex versehen werden. Die Sustainable Development Goals (SDGs; dt. Ziele für nachhaltige Entwicklung) sind international weithin anerkannte Prinzipien, die hier als Anker dienen können. 1.1 Begriffliche Vorverständigungen
In vielen wissenschaftlichen Disziplinen finden sich zentrale Begriffe, die zunächst als deskriptive Begriffe erscheinen, zugleich aber auch eine Wertung mit sich bringen. Solche Begriffe finden sich fast notwendig in allen stark anwendungsbezogenen Disziplinen, die eng mit Professionen verknüpft sind. In der Medizin etwa beschreibt »Gesundheit« nicht allein einen möglichen Zustand eines Individuums oder Organismus. Vielmehr ist damit zugleich das Ziel der Profession beschrieben: Gesundheit ist, was anzustreben ist. Neuere Entwicklungen in Gesellschaft und Wissenschaft haben zudem disziplinübergreifende Begriffe hervorgebracht, wie der Begriff der »Entwicklung«, der viel mehr Programm als Beschreibung ist. Ähnlich verhält es sich mit Begriffen wie: »inklusiv«, »resilient«, oder »gerecht«. Inklusion etwa beschreibt eher einen Wert, der zu verwirklichen wäre, als einen erreichten Zustand. Solche Begrifflichkeiten haben die Eigenart, einerseits in gesellschaftlichen Diskursen vielfältig Verwendung zu finden und zugleich in wissenschaftlichen Diskursen verhandelt zu werden. Dies steht dem Anspruch der Wissenschaft gegenüber, Phänomene zu beschreiben und zu erklären; also zu klären, was der Fall ist, nicht, was sein sollte. Deskriptive Wissenschaft soll sich dabei jedoch allen wertenden und vorschreibenden (präskriptiven) Aussagen enthalten. Sie soll lediglich Empfehlungen aussprechen, welche Wege zu vorgegebenen Zielen führen, also die rechten Mittel zu Zwecken finden, die der Wissenschaft vorgegeben und nicht von ihr gesetzt werden. Es gilt als methodischer Fehler, wenn ex cathedra normative Sätze verkündet werden (Schmid 2020). Dessen ungeachtet schleichen sich jedoch immer wieder leicht wertende, normative Gehalte in wissenschaftliche Aussagen. In den Sozialwissenschaften etwa gibt es die Tendenz, Ordnung zu bevorzugen und Störungen von Ordnung als problematisch zu erachten (Luhmann 1984, 162?ff). Schwierig wird es besonders dann, wenn Wissenschaft auf gesellschaftliche Problemlagen reagiert oder reagieren soll und in enger Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Akteuren versucht, Wissen bereitzustellen oder gemeinsam mit den Akteuren zu produzieren, um deren Probleme zu bearbeiten (Terstriep/Mildenberger/David 2021). Hier wird es grundsätzlich schwierig, die Rollen von Aktivist*innen, beratenden Akademiker*innen und distanzierten Beobachter*innen auseinanderzuhalten. Gerade beim Thema »Soziale Innovation« stößt Wissenschaft dabei immer wieder auf das Problem, ob mit sozialer Innovation ein gesellschaftliches Phänomen bloß bezeichnet wird, oder ob der Begriff zugleich eine Wertung impliziert. 1.2 Zur Unschärfe des Konzeptes »soziale Innovation«
»Soziale Innovation« ist nicht zuerst ein Thema der Forschung. Vielmehr wird es, zumindest in der Rezeption des frühen 21. Jahrhunderts, zunächst stark im Kontext des aufkeimenden neuen Konzepts »Social Entrepreneurship«1 verhandelt, das dann zu Reaktionen im Bereich von Politik und Gesellschaft führt. Manche begrüßen enthusiastisch die neuen Ideen, die zu versprechen scheinen, nun könnten endlich Lösungen für Probleme gefunden werden, ohne dass dabei die Sozialbudgets weiter erhöht werden müssten. Sozialunternehmer*innen würden die nötigen Ressourcen auf Märkten mobilisieren (Göler von Ravensburg/Mildenberger/Krlev 2021). Andere wiederum sehen gerade darin den Ausverkauf des Sozialstaates, der nun monetarisiert werde und die Sorge um die Benachteiligten der Gesellschaft werde selbst zum Geschäftsfeld (Meichenitsch/Neumayr/Schenk 2016). Damit ist eine Reflexionsebene angesprochen, auf die wir noch zurückkommen werden. Nicht allein die Frage, ob eine soziale Innovation wünschenswert ist oder nicht, ob sie ihre Ziele erreicht, ohne neue Probleme aufzuwerfen, steht zur Debatte. Darüber hinaus wird der Modus gesellschaftlicher Problemlösung selbst in Frage gestellt (Mildenberger/Schimpf/Streicher 2020). Diese grundlegende Kontroverse ist nur ein Aspekt einer weiterreichenden Unschärfe des Begriffs »soziale Innovation«, die wohl auch seiner proteischen Natur als »Quasi-Konzept« geschuldet ist (Jenson 2015). Ein Aspekt, den der Begriff mit anderen teilt, die ebenfalls – vor allem auch in den EU-Politiken – eine große Rolle spielen. Gemeint sind Begriffe wie: »Social Cohesion«, »Social Investment« oder auch »Sustainable Development«. Ebenso wie »soziale Innovation« wecken diese Begriffe eine Reihe von Assoziationen zu mehr oder minder wohlumschriebenen Theoremen und Phänomenen. Allerdings sind die Konnotate bei jedem etwas anders gelagert, so dass bestenfalls von einem überlappenden Konsens bzw. Schnittstellenkonsens im Rawls'schen Sinne gesprochen werden kann (Rawls 1987). Ziegler greift Gallies (1956) auf, der von »contested concepts« (umstrittenen Konzepten) spricht. Im Gegensatz zu Gallie versteht Ziegler (2020) die Debatte um Begriffe jedoch konstruktiv. Er argumentiert, dass die unterschiedlichen Perspektiven weniger um Deutungshoheit ringen, als sich wechselseitig ergänzen. Diese Komplementarität berücksichtigend spricht er von einem kollaborativen Konzept (»collaborative concept«) und deutet damit an, dass sich der Gehalt des Phänomens »soziale Innovation« erst in Zusammenarbeit und wechselseitiger Ergänzung unterschiedlicher Disziplinen und Herangehensweisen erschließt (Ziegler 2020). Für die Wissenschaft könnte dies eine Herausforderung darstellen. Denn es wäre zu klären, wie die Perspektiven der Aktivist*innen mit denen der Wissenschaftler*innen zusammenkommen können. Würde dies etwa bedeuten, dass Wissenschaft die Kontrolle über ihre eigenen Begrifflichkeiten aufgeben müsste? Diese Frage erscheint aufgrund der Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Praxis von besonderer Relevanz. Um die vielfältigen Facetten und Mehrdeutigkeiten im Begriff »soziale Innovation« weiter zu ergründen, wollen wir daher im Folgenden zunächst die beiden Bestandteile diskutieren. 1.3 Normative Aspekte des Konzepts »soziale Innovation«
1.3.1 Ausgangslage – Vielfalt der Definitionen
Bislang existiert weder national noch international eine eindeutige allgemein akzeptierte und damit verbindliche Definition von »sozialer Innovation«. In einer umfassenden Literaturstudie zu sozialen Innovationen identifizierten Edwards-Schachter und Wallace (2017) 252 Definitionen »sozialer Innovation«. Diese Diversität von Begriffsverständnissen manifestiert sich ebenfalls in der europäischen Forschungslandschaft (Pelka/Terstriep 2016). Ein Überblick zu den unterschiedlichen Begriffsverständnissen basierend auf den genannten Arbeiten gibt die nachfolgende Tabelle (? Tab. 1.1). Tab. 1.1:Auswahl variierender Definitionen Sozialer Innovation Autor*innen/Projekt Definition Mumford (2002, 253) »[...] the generation and implementation of new ideas about how people should organize interpersonal activities, or social interactions, to meet one or more common goals« Phills et al. (2008, 36) »[...] a novel solution to a social problem that is more effective, efficient, sustainable, or just than existing solutions and for which the value created accrues primarily to society as a whole rather than...