E-Book, Deutsch, Band 6, 320 Seiten
Reihe: Inspektor Kajetan
Hültner Am Ende des Tages
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-10847-2
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 6, 320 Seiten
Reihe: Inspektor Kajetan
ISBN: 978-3-641-10847-2
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In den Chiemgauer Alpen stürzt ein Flugzeug ab. Ein Bauer, der gleich nach dem Unglück aufgestiegen ist, um Verletzte zu bergen, kommt bald danach mitsamt seiner Familie bei einem Brand seines Hofes um. Hat er etwas gesehen, was er nicht hätte sehen sollen? Kajetan, der in einem ganz anderen Fall ermittelt und dem Hoffnungen gemacht wurden, dass er wieder in den Polizeidienst zurückkönne, gerät bald mitten hinein in eine politische Verschwörung, in der es um mehr als nur um Flugzeugabstürze geht.
Robert Hültner wurde 1950 in Inzell geboren. Er arbeitete unter anderem als Regieassistent, Dramaturg, Regisseur von Kurzfilmen und Dokumentationen, reiste mit einem Wanderkino durch kinolose Dörfer und restaurierte historische Filme für das Filmmuseum. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen gehören neben historischen Romanen und Krimis auch Drehbücher (u. a. für den Tatort), Theaterstücke und Hörspiele. Sein Roman 'Der Sommer der Gaukler' wurde von Marcus H. Rosenmüller verfilmt. Für seine Inspektor-Kajetan-Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem dreimal mit dem Deutschen Krimipreis und mit dem renommierten Glauser-Preis.
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3.
Dr. Leopold Herzberg hatte Mühe, seine Erschütterung zu verbergen. Obwohl erst einige Wochen vergangen waren, seit er seinen Mandanten zum letzten Mal besucht hatte, schien ihm Ignaz Rotter während dieser Zeit um Jahre gealtert. Das Gesicht des einst stämmigen Mittdreißigers war grau, seine Schultern hingen schlaff herunter, seine dunkel umrandeten Augen waren tief in die Höhlen gesunken. Der Anwalt stellte seine Aktenmappe ab und streckte ihm die Hand entgegen.
»Wie geht es Ihnen, Herr Rotter?« Herzberg hörte, wie seine Stimme im kahlen Besprechungsraum des Straubinger Zuchthauses nachhallte. Was für eine jämmerliche Frage, dachte er. Ein Blinder würde erkennen, dass der Mann nicht mehr lange durchhält.
Der Zellenwärter wandte sich teilnahmslos ab und ließ sich auf einem Schemel neben der Tür nieder.
Ignaz Rotter ergriff die Hand des Anwalts, drückte sie kraftlos und murmelte eine Begrüßung. Herzberg erwiderte sie beklommen.
»Und …?«, flüsterte der Gefangene.
Der Anwalt wies auf Tisch und Stühle in der Mitte des Raums. Er hüstelte sich die belegte Stimme frei. »Nehmen wir doch erst einmal Platz, Herr Rotter«, sagte er. Er wiederholte seine Geste.
Der Gefangene, den Blick an die Brust seines Gegenübers geheftet, bewegte sich nicht. Der Anwalt ließ seine Schultern fallen und gab ein beredtes Seufzen von sich.
Rotters Kinn sank auf seine Brust.
Der Anwalt bestätigte mit einem bekümmerten Nicken. »Die Strafkammer des Landgerichts hat den Antrag auf Wiederaufnahme verworfen«, sagte er und fügte hinzu: »Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich anderes erwartet habe.«
»Und … warum diesmal, Herr Doktor?«
»Die übliche Floskel. Der Antrag sei unbegründet. Man habe unsere Einwände schon einmal überprüft, überzeugende neue Fakten seien nicht hinzugekommen, weshalb bei einer erneuten Verhandlung nichts anderes als die Bestätigung der lebenslangen Zuchthausstrafe zu erwarten sei.«
Der klobige Schädel des Gefangenen sank zwischen seine Schultern. »Aber … das ist doch keine Gerechtigkeit nicht«, flüsterte er, »ich hab meine Frau nicht erschossen … Ich bin doch gar nicht an dem Platz gewesen, wo es passiert ist …«
»Aber das wissen wir doch!«, rief der Anwalt mit demonstrativer Überzeugtheit. »Und deshalb, Herr Rotter, geben wir nicht auf, hören Sie?«
Der Gefangene stierte auf die Brust des Anwalts.
Herzberg griff nach einer Stuhllehne. »Setzen wir uns doch erst einmal.« Er legte seinen Homburg auf die abgeschabte Tischplatte und setzte sich. Mit einer unwillkürlich ungeduldigen Handbewegung, die er sofort wieder bereute, bedeutete er seinem Mandanten, es ihm gleichzutun.
Der Sträfling löste sich aus seiner Starre und ließ sich auf der anderen Seite des Tisches nieder, während Herzberg eine Schriftmappe aus seiner Tasche zog und mit geschäftiger Geste aufschlug. »Ich habe natürlich sofort Beschwerde beim Obersten Landesgericht eingereicht. Ich rechne damit, dass wir in spätestens zwei Monaten eine Antwort haben. Ich weiß, dass das für Sie erneutes Warten bedeutet und es für Sie wie Hohn klingen muss, wenn ich sage: Sie sitzen nun schon seit fast zehn Jahren hier ein, da kommt es auf ein paar weitere Monate nicht mehr …« Er beendete den Satz nicht. Es klingt nicht nur wie Hohn, dachte er. Es ist Hohn.
Rotters Stimme war kaum zu hören: »Und wenn … wenn das auch wieder abgelehnt wird?«
»Dann gibts die nächste Beschwerde«, tönte der Anwalt mit gezwungener Zuversicht. »Das ist doch wohl selbstverständlich, Herr Rotter! Wir sind im Recht und werden Recht bekommen!« Er setzte ein überlegenes Lächeln auf. »Alles, was ich in den vergangenen Jahren an entscheidenden neuen Erkenntnissen beigebracht habe, als unmaßgeblich zu bezeichnen, wäre ja nun wahrlich ein starkes Stück.«
Er wich zurück. Der Gefangene hatte den Stuhl mit lautem Scharren zurückgestoßen und war aufgesprungen. Seine Augen brannten. »Es hat doch keinen Zweck mehr!«, brüllte er.
»Hock dich hin, Naz«, ließ sich der Wärter vernehmen.
»Bitte«, sagte Herzberg beschwörend. »Behalten Sie Ruhe, Herr Rotter. Wir wollen doch jetzt nichts riskieren.«
»Hinhocken«, wiederholte der Beamte ruhig. »Schreierei vertrag ich nicht. Da kann ich ganz ekelhaft werden. Das weißt ja, Naz. Oder nicht?«
»Bitte, Herr Rotter«, sagte der Anwalt.
Der Gefangene blickte wild um sich. Dann nickte er, tastete nach dem Stuhl und setzte sich wieder. Sein Kinn bebte. Er verbarg sein Gesicht in seinen Händen.
»Ich bins doch nicht gewesen …«, flüsterte er.
»Und genau deshalb geben wir nicht auf! Menschenskind! Rotter!«
Der Sträfling wischte sich mit dem Handrücken über die Wange.
»Aber … das … das geht doch ewig so weiter, und … und mir geht doch auch langsam das Geld aus …«
»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Das wird sich regeln, wenn die Sache ausgestanden ist. Bestätigen Sie mir lediglich, dass Sie sich mit meinem weiteren Vorgehen einverstanden erklären.«
Der Gefangene brütete eine Weile vor sich hin. Schließlich nickte er.
»Was anderes … was anderes bleibt mir eh nimmer.«
»Es ist in der Tat das einzig Richtige, Herr Rotter«, munterte ihn Herzberg auf. »Noch einmal: Wir dürfen nicht aufgeben, hören Sie? Fassen Sie Mut. Achten Sie auf Ihre Gesundheit. Versprechen Sie es mir?«
Der Sträfling schien die Frage überhört zu haben. Er schüttelte kraftlos den Kopf und murmelte: »Wieso … wieso hätt ich meine Frau denn umbringen sollen?«
Herzberg beugte sich fragend vor. Wieder stieg Widerwillen in ihm auf. Wann würden die Landschulmeister den Landbewohnern endlich beibringen, sich verständlich auszudrücken. »Bitte was?«, fragte er beherrscht.
Rotter sah auf, als würde ihm erst jetzt wieder die Anwesenheit seines Anwalts bewusst. »Wieso ichs getan haben soll«, sagte er. »Dafür hätts doch gar keinen Grund nicht gegeben.«
»Das wissen wir doch, Herr Rotter.«
Nicht schon wieder, dachte Herzberg. Tausendmal haben wir das jetzt schon durchgekaut. Aber du musst ihn jetzt reden lassen. Er hat keinen anderen mehr. Es hilft ihm.
Er fuhr fort: »Leider wissen wir aber auch, dass das Gericht glaubt, darauf eine Antwort gefunden zu haben. Man sieht das Tatmotiv eben darin, dass es um Ihre Ehe nicht zum Besten gestanden hat. Es sei erwiesen, dass Sie und Ihre Frau häufig lautstark gestritten haben.«
Der Gefangene blickte zur Seite. »So schlimm wars doch gar nicht«, sagte er leise. »Was meinen die denn, wies anderswo zugeht? Die Fanny ist halt eine arg ungeschickte Person gewesen. Eine große Hilfe ist sie mir nicht gewesen, und mit dem Geld hats erst recht nicht umgehen können. Aber was willst machen? Ich hab sie nun einmal geheiratet.«
Herzberg musterte ihn nachdenklich. Was Rotter über seine Frau äußerte, war für diese nicht weniger als vernichtend. Zumindest in einer ländlichen Gegend.
»Haben Sie eigentlich nie in Erwägung gezogen, sich scheiden zu lassen?«
Rotter schüttelte entgeistert den Kopf. »Wo denkens hin. Auf dem Land geht das nicht.«
»Verstehe«, sagte der Anwalt. Ich bemühe mich jedenfalls, dachte er. Auch wenn mir die Vorstellung widerstrebt, dass es ein Mann im besten Alter hinnimmt, sein Leben mit einer Frau zu verbringen, die er nicht mehr achten kann. War dieser Mann ein seelenloser Klotz? Oder hatte er trotzdem noch etwas für sie empfunden? Zumindest Dankbarkeit, dass sie ihm, dem zuvor mittellosen Fuhrknecht, den Traum vom eigenen Hof ermöglicht hatte? Die kraftlose Stimme seines Mandanten holte Herzberg aus seinen Gedanken: »Und überhaupt … was mir allweil noch nicht in den Kopf gehen möcht … die Ludmilla hats dem Kommissär doch bezeugt, dass ichs nicht getan haben kann. Weil ich im Stall gewesen bin.«
Der Anwalt seufzte tief. Genau das ist unser Problem, dachte er. Wann geht das endlich in seinen Schädel?
»Wieso glaubt ihr denn keiner?«, hörte er Rotter.
Herzberg hob die Hände. »Das alles haben wir doch nun schon oft genug erörtert, Herr Rotter. Man stufte Ihre ehemalige Magd als unglaubwürdig ein, weil man den Verdacht hatte, sie könnte Ihnen« – er hielt inne, suchte nach dem geeigneten Wort – »zugetan gewesen sein.«
»Freilich … die Ludmilla und ich … Wir haben uns gut vertragen. Sie ist gut zum Haben gewesen bei der Arbeit. Ich hab nichts an ihr auszusetzen gehabt.«
»Ich weiß es«, sagte der Anwalt ungeduldig. Sag es nur immer wieder, dachte er. Der Staatsanwalt reibt sich die Hände.
»Wir sollten diesen Fakt aber nicht allzusehr betonen, Herr Rotter.«
»Warum sollt ich lügen? Ist das eine Sünd? Muss doch nicht allweil Krieg sein zwischen dem Bauern und seinen Dienstboten.«
Herzberg betrachtete ihn nachdenklich. Wieder flackerte ein unbestimmtes Misstrauen in ihm auf. Er räusperte sich. »Herr Rotter, ich wiederhole mich jetzt vielleicht, wenn ich Ihnen sage, dass wir ganz offen zueinander sein müssen. Wie ich Ihnen auch noch einmal versichere, dass mir nichts Menschliches fremd ist.«
Rotter sah ihn verständnislos an.
Den Anwalt überkam eine plötzliche Gereiztheit. Er fixierte seinen Mandanten scharf. »Und deshalb zum letzten Mal, Herr Rotter. Ich lege mein Mandat augenblicklich nieder, wenn ich auch nur den leisesten Hinweis darauf erhalte, dass Sie mir keinen reinen Wein eingeschenkt haben, als sie mir beteuerten, mit...