E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Huber Trauma und die Folgen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7495-0140-3
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Trauma und Traumabehandlung, Teil 1
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-7495-0140-3
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Michaela Huber, psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin in Traumabehandlung. Sie ist seit deren Gründung 1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation (DGTD).
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1. Was ist ein Trauma – und was ein belastendes Lebensereignis?
In meinen Ausbildungskursen fordere ich gern am Anfang die KollegInnen zum Brainstorming auf, was denn ein Trauma im Gegensatz zu einem belastenden Lebensereignis kennzeichne, und beginne mit einem fiktiven Beispiel, etwa: „Als ich mir 1972 beim Skifahren ein Bein brach“, sei das für mich zwar ein belastendes Lebensereignis gewesen, nicht aber ein Trauma. Was denn dann wohl ein Trauma sei? Zunächst versuchen die KollegInnen dann häufig, mir Ereignisse zu nennen, die sie mit Traumata gleichsetzen. Etwa „Kriegserlebnisse“ – „Vergewaltigung“ – „Banküberfall“ – „Grubenunglück“ – „Sexuelle Gewalt in der Kindheit“. Woraufhin ich weiter frage: „Sind Sie sicher, dass dies alles Traumata sind? Ich behaupte, viele Menschen, die solche Ereignisse erleben, verarbeiten sie als zwar äußerst belastende, aber nicht als traumatische Ereignisse. Um Sie noch mehr zu verwirren:
Manche Menschen werden einen Skiunfall, bei dem sie sich ein Bein brechen, als Trauma verarbeiten. Ein Trauma ist eine Wunde. Also das Ergebnis von Ereignissen, die verletzend waren. Nehmen Sie solche realen Ereignisse, schauen Sie aber nun auf die innere Verarbeitung. Was kennzeichnet wohl ein Trauma im Vergleich zum belastenden Lebensereignis?“ Jetzt kommen andere Antworten. Etwa:
Abbildung 1.1: Wir wird ein Trauma im Innern verarbeitet?
Was die KollegInnen so oder ähnlich mit ihren eigenen Worten auszudrücken pflegen und was ich hier so dargestellt habe, als würde ein Stein ins Wasser geworfen, der immer weitere Kreise zieht, sind tatsächlich einige der wesentlichen Merkmale, durch die sich Traumata von anderen stressreichen Lebensereignissen unterscheiden.
Bei Traumata handelt es sich nicht um reine innere Konflikte, wie etwa das Problem: „Soll ich Abitur machen oder in Vaters Geschäft einsteigen?“ – auch wenn ein solcher Konflikt sicherlich großen inneren Stress bedeuten kann.
Ausgangspunkt sind vielmehr tatsächliche, extrem stressreiche äußere Ereignisse. Damit ein Ereignis aber zum Trauma für einen Menschen werden kann, muss eine Dynamik in Gang kommen, die sein Gehirn buchstäblich „in die Klemme bringt“ und es geradezu dazu nötigt, auf besondere Weise mit diesem Ereignis umzugehen. Diese „Klemme“ nenne ich seit Jahrzehnten die „traumatische Zange“ – ein Begriff, der sich inzwischen eingebürgert hat.
Abbildung 1.2: Traumatische Zange
Wie kann es zu so einer Klemme kommen? Das hängt mit unserem „dreieinigen Gehirn“ zusammen, ein Begriff, der von Paul D. MacLean geprägt wurde.
Abbildung 1.3: Paul D. McLean
Abbildung 1.4: Das dreieinige Gehirn
Abbildung 1.5: Die Zuständigkeiten des dreieinigen Gehirns
Wir haben in der Evolution drei große Hirnbereiche entwickelt: Zunächst unser Stammhirn, das „Reptiliengehirn“, das für unsere basalen Instinkte und Reaktionen zuständig ist. Darüber entwickelte sich das Zwischenhirn, das für unsere Gefühlssteuerungen und die Erinnerung emotionaler Erlebnisgehalte steht. Und ganz oben darüber unser Großhirn, das Wunderwerk. Es ermöglicht unser rationales Denken, Planen, gezieltes Bündeln von Handlungsimpulsen und Problemlösen.
Wird das Gehirn durch zu viel Stress „in die Zange genommen“, fällt als Erstes das Großhirn mehr oder weniger aus. Als Nächstes der Teil des Zwischenhirns, der dafür zuständig ist, unsere biografischen, episodischen, raum-zeitlichen und sprachlich kodierten Gefühls-Erinnerungen zu speichern. Übrig bleibt dann ein angstgesteuertes instinkthaftes Reagieren, bei dem der älteste Hirnteil, das Stammhirn, mehr oder minder die Regie übernimmt, mit archaischen, tierähnlichen Reaktionen: Flucht, Angriff, Sich-Wegducken, Erstarren, Erschlaffen und Krampfen, Erbrechen, In-Ohnmacht-Fallen bzw. auf andere Weise zusammenbrechen.
Die Abbildungen machen deutlich, wie sehr unser Gehirn bei einem extremen Stressor bemüht ist, auf möglichst rasche und effektive Weise mit dem Ereignis fertigzuwerden. Ein traumatisierendes Erlebnis muss ein Ereignis sein, das vom Gehirn als eine äußerste Bedrohung erkannt wird, man nennt dies die Annihilationsdrohung: Das Informationsverarbeitungssystem Gehirn – in der Wahrnehmung der Person das eigene Selbst, in Großhirn und Zwischenhirn angesiedelt – wird so überflutet, dass die Person den Eindruck bekommt, als „ginge jetzt nichts mehr“, als sei „jetzt alles aus“, als täte sich ein Abgrund auf, in den man hineinstürzt; oder als müsse man jetzt sterben. Hierfür einige unterschiedliche Erlebnis-Beispiele:
Beispiel 1: Eine Fahrradfahrerin fährt durch einen Park. Plötzlich springt ihr ein Mann in den Weg, zerrt sie vom Rad und ins Gebüsch.
Beispiel 2: Ein Mann biegt als Fußgänger abends um eine Ecke – und zwei junge Männer greifen ihn von hinten an, während ein dritter mit einem im Laternenlicht aufblitzenden Springmesser in der Hand auf ihn zukommt.
Beispiel 3: Ein kleines Mädchen liegt im Bett. Ihr Vater schmust mit ihr und beginnt sie unvermutet an ihren „geheimsten Stellen“ auf eine Art zu berühren, die ihr unangenehm ist und ihr zunehmend wehtut; dabei beginnt sich das Gesicht des Vaters zu verändern, es wird rot, sein Blick wird glasig, er fängt an, stoßweise zu atmen …
Beispiel 4: Ein Polizist wird mit seinen Kollegen zu einem „Familienstreit“ gerufen. Er klingelt an der Haustür – und wird plötzlich aus einem Fenster beschossen.
Beispiel 5: Eine junge Frau mit chronischer Bronchitis geht zum Röntgen. Zwei Stunden später weiß sie, dass sie wahrscheinlich unheilbar an Lungenkrebs erkrankt ist.
Beispiel 6: Ein frisch verheirateter Mann erfährt, dass seine Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.
Beispiel 7: Ein kleiner Junge muss zusehen, wie sein Vater seine Mutter brutal zusammenschlägt und -tritt.
Beispiel 8: Eine Frau tötet ihren Peiniger im Affekt mit mehreren Schlägen mit einem schweren Gegenstand, den sie in ihrer Not gegriffen hat.
Beispiel 9: Eine Mutter sitzt alkoholisiert am Tisch und beschimpft ihre Tochter: „Ich habe noch niemanden im Leben so gehasst wie dich. Hätte ich dich doch nie geboren!“ Sie geifert und schreit sich immer mehr in Rage, bis sie tatsächlich Blut spuckt.
Beispiel 10: Ein Kleinkind ist nachts im Dunkeln oft allein. Es weint, es wirft sich herum, es ruft und sucht – und niemand kommt.
Alle diese Beispiele haben etwas gemeinsam: Die hier betroffenen Menschen durchleben eine Extremsituation. Eine Situation, auf die sie nicht angemessen vorbereitet sind und die all ihre Bewältigungsmechanismen überfordert. Dies nennen wir in der Psychotraumatologie eine „Überflutung mit aversiven Reizen“. Diese Situation kann man als Opfer bzw. Betroffene/r erleben, doch auch als Zeuge (Beispiel 7) oder TäterIn (Beispiel 8 und 9), in Extremsituationen kann man von aversiven, also sozusagen giftigen (toxischen), zunächst unbewältigbar erscheinenden Reizen überflutet werden. Solche Reize können sehr unterschiedlich sein. In den oben genannten Beispielen kann man die aversiven Reize unter anderem so beschreiben:
Beispiel 1: Plötzlich von einem Unbekannten angegriffen und weggeschleift werden.
Beispiel 2: Gepackt werden und eine tödliche Waffe in der Hand des Gegners sehen.
Beispiel 3: Die „Verwandlung“ des Vaters in einen Angreifer wahrnehmen; körperlich unangenehm bis schmerzhaft berührt werden.
Beispiel 4: Das Geschoss sirren hören und erkennen: Das ist eine möglicherweise tödliche Kugel; sie gilt mir; es können noch weitere folgen.
Beispiel 5: Völlig unvorhergesehen die Nachricht erhalten, unheilbar krank zu sein; Röntgenbilder sehen, die den Tumor und seine Metastasen zeigen.
Beispiel 6: Der Gedanke: Die Frau, mit der er sich eine lange Zukunft erträumte, ist tot; sie wird nie wieder nach Hause kommen.
Beispiel 7: Sehen und fühlen, dass der Vater völlig außer Kontrolle ist und die Mutter töten könnte. Ohnmacht, Scham und Verzweiflung darüber, nicht eingreifen zu können.
Beispiel 8: Die Entladung der Wut in den tödlichen Schlägen; sehen wie der Körper unter den Schlägen sich aufbäumt, blutet, zusammenfällt; wissen, dass der Mann jetzt tot ist; Gedanken wie: dass er ihr nie wieder etwas tun kann; dass sie dafür viele Jahre ins Gefängnis muss; dass sie ihn mochte; dass das alles ihre Schuld ist …
Beispiel 9: Als Mutter auf die erstarrte Tochter schauen, die entsetzten Augen sehen und statt Mitgefühl nur bodenlosen Hass zu empfinden und das Bedürfnis, das Gegenüber (das ihre eigene zarte Seite widerspiegelt, die sie im Suff immer wieder zu ertränken versucht) am liebsten umzubringen. Als Tochter: Zusehen, wie die Mutter rasend wird (Zeugin des Außer-sich-Seins werden), Todesangst bekommen vor dem Hassausbruch der Mutter, Entsetzen, Verzweiflung, sich schlecht und schuldig fühlen.
Beispiel 10: Sich als Kleinkind im Dunkeln und völlig allein in extremer Not und Angst wiederfinden, vielleicht einkoten und einnässen, Hunger haben, sich außer Raum und Zeit in uferlosem Entsetzen fühlen.
In solchen Situationen, wie in den Beispielen beschrieben, kann niemand „cool“ bleiben. Instinktiv weiß man, dass...