E-Book, Deutsch, 130 Seiten
Huber / Ermann Geschlechter
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-17-043228-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neuere psychodynamische Aspekte
E-Book, Deutsch, 130 Seiten
ISBN: 978-3-17-043228-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. med. Dr. phil. Dorothea Huber ist Professorin an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin und in der wissenschaftlichen Leitung der Lindauer Psychotherapiewochen tätig. Sie war Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in München.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Genderaspekte in Gruppenpsychotherapie
Bernhard Strauß
»Doing Gender« in der Psychotherapie ist eine relativ neue Entwicklung in der klinischen Praxis53. Obwohl Geschlechteraspekte in Therapietheorien unterschiedlich ausgeprägt immer schon eine Bedeutung hatten, ist eine zunehmende Sensibilität für Geschlechteraspekte in der psychotherapeutischen Behandlung vermutlich auch durch allgemeine gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurse der letzten Jahre mit angestoßen worden54. In der Genderforschung blicken wir inzwischen auf vielfältige Geschlechtertheorien, die zum einen zeigen, dass wir eine ausgeprägte Diversifizierung des Geschlechts beobachten können55, die sich auch in juristischen und alltäglichen Phänomenen widerspiegelt, man denke bspw. an die Ermöglichung eines dritten Geschlechtes, die bevorstehende Reform des sog. Transsexuellengesetzes oder die große, wenngleich kontroverse Sensibilität für das Geschlechterthema in der Sprache.
Demgegenüber weisen Soziolog:innen56 darauf hin, dass sich Geschlechterstereotype in einem nicht unbeträchtlichen Anteil der Bevölkerung durchaus auch wieder restituieren, was unter dem Stichwort einer »Retraditionalisierung« zu beobachten ist. Diese Phänomene und die Debatten um das Geschlecht, um Cis-, Trans- und dazwischenliegende Identitäten prägen unsere heutige Gesellschaft und bilden gewissermaßen einen sozialen Makrokosmos, in dem auch Psychotherapie und Gruppenpsychotherapie stattfinden.
Geschlechtsunterschiede und Geschlechterpassung in der Einzeltherapie
Da sich dieser Beitrag primär auf Genderaspekte in der Gruppenpsychotherapie konzentriert, sei nur kurz darauf hingewiesen, dass die Psychotherapieforschung bisher zu geschlechtsspezifischen Aspekten in der Psychotherapie nach wie vor vermutlich als unzureichend gesehen werden kann, was sich z.?B. darin ausdrückt, dass in vielen Lehrbüchern der Psychotherapie dieser Aspekt zumindest nicht explizit aufgegriffen ist.
Eine Ausnahme stellte das von Senf und Broda herausgegebene Lehrbuch »Praxis der Psychotherapie«57 dar, in dem (in der vierten Auflage) Sellschopp-Rüppell und Dinger-Broda58 in einem Kapitel zu dem Thema zu der Auffassung kommen, dass »die Bedeutung des Geschlechts [...] für den Beginn und Verlauf, die Wahl des therapeutischen Verfahrens und mögliche Kombinationen sowie insbesondere den Erfolg von Psychotherapien nach klinischer Erfahrung und ersten spärlichen empirischen Befunden eine determinierende Einflussvariable« darstelle. Die Autorinnen monieren, dass dieser Einfluss »ein Stiefkind des Interesses« geblieben sei und das Thema auch in den Aus- und Weiterbildungscurricula weitgehend fehle. In den Folgeauflagen des Lehrbuches 2012 und 2021 war das Kapitel zu den geschlechtsspezifischen Therapieeffekten bezeichnenderweise verschwunden.
In der Forschungsliteratur finden sich über die letzten Jahrzehnte unterschiedliche Auffassungen bzgl. der Geschlechterpassungen, die vereinzelt darauf hindeuten, dass gleichgeschlechtliche Patient:innen-Therapeut:innen-Dyaden potentiell erfolgreichere Behandlungen generierten59. Dies führte in der feministischen Literatur schon früh zu der Forderung, dass männliche Psychotherapeuten darauf verzichten sollten, weibliche Patientinnen zu behandeln60. Relativ unstrittig ist es, dass bei geschlechtsspezifischen Themen bzw. Erfahrungen eine gleichgeschlechtliche Dyade zu bevorzugen sei, so bspw. bei Problemen im Kontext von Sexualität, Reproduktion, aber auch Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und Traumatisierung.
Im Großen und Ganzen finden sich in der Literatur bzgl. der potentiellen Passungen aber mehr klinische Erfahrungsberichte und Vermutungen als handfeste Evidenz. So wird bspw. von Schigl61 angenommen, dass männliche Patienten möglicherweise einem männlichen Therapeuten gegenüber mehr Leistungsdruck empfinden als gegenüber einer Psychotherapeutin. Schigl weist auch zurecht darauf hin, dass es sowohl für die gleichgeschlechtliche als auch gegengeschlechtliche Behandlung Argumente gäbe, die aber reflektiert werden sollten. Schigl spricht hier von »Doing Gender«. Dieses Doing Gender62 meint, dass Geschlecht nicht (nur) etwas ist, was wir qua Biologie statisch besitzen, sondern auch etwas, das permanent in unseren Interaktionen miteinander hergestellt wird. So bestätigen wir einander als Frauen und Männer in unserer Geschlechtsidentität. Das bietet auch die Erklärung dafür, warum Menschen, die sich der binären Kategorisierung in ihrem Aussehen und Handeln entziehen, so große Irritationen auslösen. Doing Gender zeigt sich in allen Interaktionen – modifiziert durch weitere Diversity-Merkmale wie Alter oder ethnische, (sub)kulturelle Zugehörigkeit (s.?u.). Nachdem jede alltägliche wie auch professionelle Interaktion subtil von Doing Gender geprägt ist, können wir davon ausgehen, dass diese Phänomene auch in der psychotherapeutischen Behandlung stattfinden.
Bestimmte Zuschreibungen, die allgemein mit den (binären) Geschlechtern verbunden sind, scheinen auch in der Psychotherapie eine Rolle zu spielen, so gelten sowohl männliche Patienten als auch Therapeuten als handlungsorientierter, strukturierender, problemfokussierter etc., während Patientinnen und Therapeutinnen eher beziehungs- und gefühlsorientiert und ganz allgemein als »mütterlicher« gesehen werden. Die von Berger63 dargelegten Zuschreibungen zu Männern und Frauen werden somit auch in der Psychotherapie eine Rolle spielen (? Tab. 5).
Tab. 5:Traditionelle Zuschreibungen der männlichen und weiblichen Geschlechtsrolle
Dimension | Männer | Frauen | Erfassung/Skala |
---|
Gesellschaft | verändernd, weltgewandt | bewahrend, häuslich | Philosophischer Diskurs |
Vollzeit-erwerbstätig | nicht oder Teilzeit-erwerbstätig | Statistik Erwerbsarbeit |
rebellisch | normorientiert | Soziologische Analyse (Geschlechtsrollen-Theorie) |
karriereorientiert | gemeinschaftsorientiert |
Persönlichkeit | aggressiv, aufbrausend | weniger aggressiv, besonnen | Hormonstatus Testosteron |
selbstsicher, gelassen | emotional, sorgenvoll | NEO-Neurotizismus |
süchtig | nüchtern | DEGS1-Daten |
genießend | vorausschauend | LebensstilStudien |
unvernünftig | vernünftig | Erfragung Verhalten |
draufgängerisch, leichtsinnig | behutsam, vorsichtig | Analyse Statistik Unfälle |
rücksichtslos, narzisstisch | empathisch | NEO-Verträglichkeit |
kompetitiv | kooperativ | NEO-Verträglichkeit |
mehr leistungsmotiviert | weniger leistungsmotiviert | LM-B5T |
mehr machtmotiviert | weniger machtmotiviert | MM-B5T |
mehr sicherheitsmotiviert | weniger sicherheitsmotiviert | SM-B5T |
Sexualität | dominant | unterwürfig | Befragungen |
werbend | wählend | Verhaltensbiologie (Analogie zum Tierreich) |
erobernd | hingebungsvoll |
sadistisch | masochistisch | Befragungen |
groß | klein | Körpergröße (Messung) |
muskulös, markant | grazil, kurvig | Figur... |