Buch, Deutsch, 232 Seiten, PB, Format (B × H): 120 mm x 190 mm, Gewicht: 250 g
Buch, Deutsch, 232 Seiten, PB, Format (B × H): 120 mm x 190 mm, Gewicht: 250 g
ISBN: 978-3-9810177-9-3
Verlag: HSB-Verlag
Fünf Frauen – fünf Schicksale. Jede Einzelne von ihnen hat ihre Geschichte, muss im Leben ihren Mann stehen. Und dennoch sind die Geschichten auf gewisse Weise miteinander verwoben. Sei es nun Elisabeth, Paula, Erika, Birgit oder Ayleen, wenn sie ein Kind erwarten, sehen sie sich immer wieder vor dieselben Fragen ge-stellt: Von Beruf Mutter – was gehört dazu? Wie soll eine gute Mutter sein? Braucht sie einen Mann? Soll sie auch noch Geld verdienen – muss sie das?
Beides unter einen Hut zu bringen war schon von jeher ein Spagat. Vom Ende des 19. Jahrhunderts, als in den kleinen Stuben der Häusler noch der Webstuhl stand, über hundert Jahre, bis hin zur Wendezeit spannt sich der Bogen, und stets musste sich die Mutter fragen: wohin mit meinem Kind?
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Elisabeth
Das Fest
Auf Wanderschaft
Der Stülpner, Karl
Die neue Heimat
Ein Wiedersehen
Paula
In der Fabrik
Gefangen im Schacht
Kein Christkind
Der Grunderwerb
Zucht und Ordnung
Geld wie Heu
Erika
Maikäfer flieg
Neuer Keimling
Birgit
Das Tauziehen
Zwei Mütter
Vor der Mauer
Ein neuer Anfang
Aussichten: veränderlich
Berlin ade
Mutterglück
Mutterstolz und Mutterleid
Die Abiturientin
Ayleen
Ein knallrotes Cabrio
Eigene Wege
Kindlein mein
Wind of change
Das weiße Pferd
Im Sturzflug
Das Fest der Liebe
Kommen und Gehen
Elisabeth
Das Fest
Die böhmische Polka ging ins Blut. Mit sichtlichem Vergnügen ließen sich die jungen Frauen und Mädchen in ihren in hohe Steh-falten gelegten dunklen Leinenröcken von den Burschen im Takt der beschwingten Melodien über die Wiese dirigieren. Wenn die Röcke flogen, eine Handbreit über dem Saum mit einer hübschen Webborte verziert, blitzten die weiß bestrumpften Beine auf, die in schwarzen Halbschuhen steckten. Die Arme in die Hüften ge-stemmt, galoppierten die Tänzerinnen ausgelassen über den Platz, drehten sich anmutig und warfen ihrem Partner ein strahlendes Lächeln zu, als sei auch dieses unmittelbarer Bestandteil der rhythmischen Bewegungen, zu denen sie die klingende Musik in-spirierte und mit der sie eins zu werden schienen, je länger sie sich dem Zauber des Tanzes hingaben. Die weißen Puffärmel, die ihre kräftigen Arme bis zu den Ellenbogen hinunter bedeckten, wippten im Takt der Melodie.
Elisabeth war das bunte Schultertuch auf die Seite gerutscht. Ihre Wangen glühten, und erste Schweißtröpfchen bildeten sich auf der hohen Stirn, die durch das in der Mitte gescheitelte Haar auf eine edle Herkunft hätte schließen lassen. Die großen braunen Augen umspielte ein Zug von Wehmut, der dann und wann über-hand nahm, wenn sie sich für einen Moment unbeobachtet glaubte.
Die Sonne meinte es gut mit dem Fleckchen Erde an der böhmisch-sächsischen Grenze an diesem Junitag des Jahres 1862. Sie strahlte mit den Feiernden um die Wette, die in einem fein herausgeputzten Kronsaal nicht hätten fröhlicher sein können. Die alten ehrwürdigen Kastanien hatten ihre Lichter aufgesetzt, weiße und rote, und auch die Büsche und Sträucher hatten ihr Fest-gewand angelegt und reckten ihre Blüten dem wärmenden Strahl der Sonne entgegen. Die Holunderblüten unweit des kleinen Kirchleins von Graslitz waren wie in jedem Jahr die ersten, und Marianne, die umsichtige Wirtin vom Gasthof „Waldfrieden“, hatte sie schon vor ein paar Tagen gezupft und köstlichen Wein angesetzt, der nun zur Erfrischung bereitstand. Die Mehrheit der Gäste sprach jedoch eher dem böhmischen Bier zu, das aus einem hölzernen Fass floss, welches ein paar kräftige Burschen soeben aus dem kühlen Keller gerollt hatten. Dazu tischte die Wirtin dampfende Knödel auf, die zusammen mit dem mild gesäuerten Weißkraut zu gegrillter Schweinshaxe genüsslich verspeist wurden.
Elisabeth blieb auch beim Essen recht schweigsam und warf mehrmals einen verstohlenen Blick zu der munteren Kinderschar hinüber, die an den Bänken unter den Schatten spendenden Linden Platz genommen hatte. Die Kleinen schwitzten ebenfalls, hatten sie sich doch vor Kurzem noch an Spaß und Spiel ergötzt, beim Eierlaufen etwa, oder aber beim Sackhüpfen. Auch beim Wettrennen hatten sie ihr Bestes gegeben, ging es doch um nichts Geringeres als um eine frische Schlackwurst, die der Mittelbach-Bauer vom Schlachtfest beigesteuert hatte. Nun waren alle hung-rig und löffelten gierig die gute Hühnersuppe, die ihnen eine Magd mit der großen hölzernen Kelle ausschenkte.
Edeltraud rüttelte Elisabeth leicht an der Schulter, da diese noch immer ihren schweren Gedanken nachhing. „Traurig?“ Suchend tastete Edeltraud nach ihrer Hand, die sie unter der Schürze vergraben hatte. „Und das gerade jetzt, da der vornehme Grünbacher ein Auge auf dich geworfen hat? Eine bessere Partie kannst du doch gar nicht machen!“
Elisabeth blickte finster vor sich hin. Seit sie vor zwei Jahren so früh und unverhofft Witwe geworden war – ihr Heinrich war beim Roden eines Waldstückes für ein neues Fabrikgebäude von einem Baum erschlagen worden – hatte sie den Gedanken an eine zweite Heirat immer weit von sich geschoben. Und nun sollte sie sich in die Gewalt eines Mannes geben, für den sie nicht das Geringste empfand?
Der Grünbacher, der mit Sack und Pack erst vor ein paar Monaten in Graslitz aufgetaucht war, stammte aus dem Egerland. Dem Vernehmen nach war er reicher als der Fabrikbesitzer Weber und begüterter als der verschlagene Kunz, und auch der dicke Jacobi-Bauer, dem das riesige Bauerngut am Ende des Ortes ge-hörte und der saftigen Wiesen und Weideland in Hülle und Fülle sein eigen nannte, konnte ihm nicht das Wasser reichen. Der Grünbacher hatte auch keinerlei Ambitionen, irgendjemandem etwas streitig zu machen, gab es doch mehr als genug Land, auf dem er seine Tuchfabrik bauen lassen konnte. Ja, es sollte eine richtige Tuchfabrik werden, wie es bis jetzt noch keine in der Umgebung gab. Zu diesem Zweck hatte er schon seit geraumer Zeit schweres Gerät aus England kommen lassen, darunter auch zwei Webstühle ganz besonderer Art. Elisabeth wurde an ihnen angelernt. Zwar verstand sie die schwächliche Mrs. Kingstone nicht, die weißhaarige Alte mit dem Spitzenhäubchen auf dem Kopf, die beständig in einer ihr fremden Sprache auf sie einredete, um sie mit der Handhabung der Maschine vertraut zu machen. Aber Elisabeth hatte eine schnelle Auffassungsgabe und erkannte recht bald, wie sie mit dem Webstuhl umzugehen hatte. Andächtig folgte sie den flinken Fingern der Engländerin, die nicht müde wurde, das Schiffchen über das knarrende Gebälk zu ziehen, ein-mal in der einen, einmal in der anderen Richtung, bis es Abend wurde und beinahe ein ganzer Meter feinster Leinenstoff ent-standen war. Der Grünbacher wiederum war stolz auf Elisabeth, und je länger er sie bei der Arbeit beobachtete, desto wohl-gefälliger ruhte sein Blick auf ihr, und mit einem Male wurden seine Blicke begehrlicher. Sie aber blieb standhaft und ver-weigerte sich ihm. Nein, gegen den vereinbarten Lohn von zwölf Mark die Woche wollte sie ihm als Vorarbeiterin gern zu Diensten sein, aber mehr kam für sie nicht in Frage. Sie dachte dabei an die kleine Paula, die sie bei ihrer Schwester Hiltrud untergebracht hatte und die jeden Abend die kleinen Ärmchen so verlangend um ihren Hals schlang, dass es ihr ganz weh ums Herz wurde und sie sich insgeheim geschworen hatte, sie nicht mehr lange in der Obhut ihrer Schwester zu lassen.
Edeltraud gab sich alle Mühe, Elisabeth aufzumuntern, konnte allerdings nicht verhindern, dass sich dann und wann ein Anflug von Neid auf ihrem blassen Gesicht zeigte. Elisabeth war zwar arm wie eine Kirchenmaus, aber mit ihrem engelsgleichen Ge-sicht, den scheuen rehbraunen Augen und den langen dunkel-blonden Haaren zog sie die Blicke der Männer auf sich. Mit ihrer ebenmäßigen Nase und dem sanft geschwungenen Mund, der zu-weilen trotzig zusammenzucken konnte, hätte sie so manchem Maler Porträt sitzen können. Dazu besaß sie eine Figur, wie sie ebenmäßiger nicht sein konnte. Über ihren sanft gerundeten Hüften spannte sich eine schmale Taille, und das eng geschnürte Mieder gab zwei volle runde Brüste preis, die schon so manchem Burschen in der Nachbarschaft begehrlich erschienen waren. Die schlichte heimatliche Tracht brachte ihre Reize besser zum Vor-schein, als es bei anderen Frauen Samt und Seide vermochten.
Elisabeth bemerkte den neiderfüllten Blick der anderen und zog widerwillig die Schultern hoch. Sie brauchte nicht erst in den Spiegel zu sehen, sie wusste auch so, dass sie ungewöhnlich hübsch war. Das hatte sie in letzter Zeit schon oft zu hören be-kommen. Die Komplimente waren ihr jedoch nicht in den Kopf gestiegen, und wenn sie die kleine Paula küsste und herzte, ver-spürte sie immer aufs Neue das Glück einer jungen Mutter und verlangte nach nichts anderem.
„Mit dem Grünbacher fährst du doch am besten“, zischte ihr Edeltraud ins Ohr. „Hat er dir denn noch keinen Antrag ge-macht?“
Elisabeth vergrub den Kopf zwischen den Schultern, hob die Augen und nickte schwach. „Doch, das hat er“, gab sie kläglich zu. „Aber ich habe noch nicht Ja gesagt.“
Dem Grünbacher, bei dem sie nun schon seit geraumer Zeit in Diensten stand, konnte sie nun einmal nichts abgewinnen. Etwa mittelgroß war er und hager, wie viele junge Männer, die sie kannte. Er hatte ein scharfes kantiges Gesicht, was ihn überaus klug und berechnend erscheinen ließ, seine Augen aber schienen alles und jeden zu durchdringen. Das erste Mal, als sie sich bei ihm vorgestellt hatte, hatte ihr die schlaffe Berührung seiner kalten, beinahe leblosen Hand Schauer über den Rücken gejagt. Und nun sollte sie mit ihm das Bett teilen? Sie konnte wohl keinem begreiflich machen, warum der Gedanke an eine Hochzeit mit diesem Menschen sie nicht in einen Glückstaumel versetzte, und Edeltraud erst recht nicht.
„Wie kannst du da nur einen Augenblick zögern“, schalt sie diese. „Wo das auch noch so ein gut aussehender Mann ist! In ein paar Jahren wird er der Besitzer der größten Weberei in Graslitz sein, das weiß ich gewiss. Eine Spinnerei und eine Färberei will er angliedern lassen, wie es heißt, und das wird uns allen mehr als genug Arbeit verschaffen.“ In Vorfreude auf derlei Aussichten rollte sie die Augen: „Wenn du mich fragst, der hat das Zeug da-zu. Und auch das Geld. Wenn die Fabrik erst fertig ist, sollen gleich achtzig von den neumodischen Dingern hinein. Die lässt er extra aus Übersee kommen. Und damit wird er alle anderen in den Schatten stellen, da kannst du Gift drauf nehmen!“
Elisabeth schürzte gelangweilt die Lippen und unterbrach die Lobeshymne auf den Grünbacher mit trockenen Worten. „Weißt du was, du kannst ihn haben, wenn du unbedingt in ein herrschaft-liches Brautbett steigen willst. Aber pass bloß auf, dass du dir darin keine kalten Füße holst!“
Edeltraud tat entrüstet. „Wie kannst du nur so etwas sagen. Statt dass du dich freust! Dass er dich über deinen Stand hinaus erhebt! Eine so gute Partie kann man doch nicht so einfach in den Wind schlagen!“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf.
„Er will Paula nicht“, hauchte Elisabeth und biss gleich wieder die Lippen zusammen.
Edeltraud konnte auch das gut nachvollziehen. „Ph“, machte sie abfällig. „Paula ist doch sowieso den ganzen Tag bei deiner Schwester! Als ob sie dich da vermissen würde. Du solltest jetzt wirklich an deine Zukunft denken, Elisabeth, und das Kind dabei ganz und gar aus dem Spiel lassen.“
„Das kann ich nicht. Und für ihn empfinde ich nichts.“
Edeltraud lächelte spöttisch. „Ach, du suchst wohl noch mal die große Liebe? Dabei solltest du froh sein, dass so ein feiner Herr sich überhaupt mit dir eingelassen hat. Was bist du denn schon!“
Jetzt hielt es Elisabeth nicht mehr länger auf der Bank. Mit einer Entschlossenheit, die man ihr gar nicht zugetraut hätte, schob sie ihren Teller von sich und stand auf. „Ich will einmal zu Paula hinüber gehen“, erklärte sie schroff. „Sieh nur, die Mädchen holen gerade die Seile. Ob ich auch noch so leicht darüber springen kann?“ Sie drängte sich an Edeltraud vorbei und ent-fernte sich ohne jedes weitere Wort. Die Freundin sah ihr kopf-schüttelnd nach.
Paula hüpfte ihrer Mutter entgegen. Die Enden des Seiles fest in den Händen, wirbelte sie es durch die Luft und sprang leicht-füßig darüber. Elisabeth setzte die Geschicklichkeit des Kindes in großes Erstaunen. Es ist gut, dass sie so gewandt ist, dachte sie bei sich, mit innerer Befriedigung, und dass sie so eine Ausdauer hat. Das Leben ist hart genug, da können ihr solche Eigenschaften nur von Nutzen sein.
Paula schmiegte das erhitzte Gesichtchen an die Brust der Mutter. Die nahm sie liebevoll in die Arme, und sie setzten sich auf eine Bank, damit das Kind ein wenig verschnaufen konnte. Danach steuerte Elisabeth auf eine Gruppe von Männern zu, die gerade damit beschäftigt war, ein weiteres Fass anzustechen. „Wisst ihr vielleicht, wo ich Rupert Neubert finden kann?“
Rupert war ein in ihren Kreisen wohlbekannter Mann, dem man die sechzig Jahre noch lange nicht ansah, ein Musik-instrumentenbauer, der schon immer alleine gelebt hatte, seit seine Frau vor vielen Jahren im Kindbett gestorben war. Er schien nie so recht darüber hinweg gekommen zu sein, und all das Leid und den Schmerz, den er durch den erlittenen Verlust noch immer in sich spürte, vertraute er den Saiten an. Wenn er diese zum Klingen brachte, wurden daraus Töne, die einem das Herz er-weichten. Nicht von ungefähr zählte er deshalb zu den besten Geigenbauern weit und breit. Sein Bruder Ewald war mit seiner Familie ausgewandert, ins Sächsische hinüber, und andere Ver-wandte hatte der Alte nicht mehr.
Mit vereinten Kräften richteten die Männer das Fass auf, und einer deutete zu den Bläsern hinüber, die es sich neben ihren Instrumenten auf der Wiese wohl sein ließen. Rupert, eine Pfeife im Mund, hatte sich neben den Hörnern niedergelassen und schraubte an einer Zither herum. Elisabeth schob Paula vor sich her und hub schüchtern an, als sich der Gesuchte ihr endlich zu-gewandt hatte: „Ich möchte euch fragen nach einer Mund-harmonika, hab ich dem Kind doch schon lange eine ver-sprochen.“ In ihrem Beutel klimperte es. „Mehr als zwei Mark sind es aber nicht“, gestand sie und schlug die Augen nieder.
Der Angesprochene war aufgestanden, strich sich ein paar Mal über die Weste aus dunklem Schweineleder und streckte dem kleinen Mädchen die Hand hin. Ohne Scheu erwiderte Paula den Gruß. „Na, da wird sich schon was machen lassen“, brummte er bereitwillig. „Wenn du nur recht schön darauf spielen lernst. Schau her, so einfach ist das.“
Bei den letzten Worten hatte er eine glänzende Harmonika aus der Hosentasche gezogen und auch schon an den Mund gesetzt. Verlangend streckte Paula die Ärmchen danach aus. Der Mann schmunzelte und reichte ihr mit großem Wohlwollen das Instrument. „Bitte schön. Na, nun probier einmal“, sagte er gönnerhaft. Eine Weile drehte Paula das Instrument in den Händen hin und her, ehe sie es vorsichtig zum Mund führte.
„Habt Ihr wieder einmal etwas von Eurem Bruder gehört?“, erkundigte sich Elisabeth angelegentlich. Es sollte beiläufig klingen, aber in Wahrheit brannte sie regelrecht darauf, etwas vom Leben auf der anderen Seite des Gebirges zu erfahren. Der Alte nickte bedächtig. „Ach, der Ewald. Dem geht es recht gut. Er ist gleich in Klingenthal hängen geblieben und da drüben zu be-scheidenem Wohlstand gelangt. Als Geigenbauer kann er seine Familie ganz gut durchbringen.“
Mit diesen Worten nahm er das Instrument wieder an sich und zeigte Paula einige Tonsprünge, die diese fieberhaft nachzu-spielen versuchte. „Seine Frau hatte noch viel weiter ins Sächsische hinein wollen, nach Dresden hinunter, wo der Kurfürst August regiert. In der Richtung soll es auch genügend Spinnereien und Webereien geben, viel mehr als hier bei uns.“
Für Elisabeth waren diese Worte Balsam auf ihre Seele. Sie presste die Lippen zusammen und blickte den Meister unverwandt an, als sei sie ihm zu großem Dank verpflichtet. In ihr reifte ein Entschluss.
Auch an der langen Tischreihe, an der inzwischen die letzten Haxen verzehrt und die vollen Gläser bis zur Neige geleert waren, kam das Gespräch auf die neue Fabrik, die der Grünbacher bis zum Herbst errichtet haben wollte, und so manche der Frauen sah sich schon bei ihm eingestellt. „Sogar das Garn will er selber spinnen lassen, und dann daraus die Stoffe machen. Sie sollen auch daselbst gefärbt werden, und das alles mit Maschinen, mit denen es noch viel schneller geht. Fünfzig oder hundert von uns wird er da bestimmt brauchen“, mutmaßte Grete, eine dickliche Köhlerstochter, die zu Hause fünf Kinder zu versorgen hatte.
„Das glaube ich gern“, pflichtete ihr Brigitte bei, eine schmale Dunkelhäutige, deren Eltern einmal aus Italien herüber ge-kommen waren. „Ich freue mich schon jetzt darauf, endlich auf eigenen Füßen stehen zu können. Wenn der Grünbacher nur etwas Ordentliches zahlt.“
Jetzt mischte sich auch Hiltrud ein, die Schwester von Elisabeth. „Der wird den Pfander und den Oberleitner ganz schön alt aussehen lassen, wenn der erst einmal loslegt“, meinte sie. „Wie gut, dass wir bei ihm alle einen Stein im Brett haben schon allein wegen Elisa.“
„Da wär ich mir nicht so sicher“, fiel ihr eine andere ins Wort. Die kräftige Wina zog die Stirn in Falten. „Die feinen Herren sind ja alle gleich. Sie sinnieren den ganzen Tag über nichts anderes, als wie sie immer nur noch schneller reich werden können, und das alles auf unsere Kosten.“
„Ach, geh, Wina“, wehrte Brigitte ab. „Verschon uns bloß mit deinen Weisheiten! Was du sagst, ist doch nur ketzerisches Ge-schwätz. Gar nach Aufruhr klingt’s! Was willst du denn machen, wenn uns die Herren keine Arbeit mehr geben? Dann hast du dein Pulver ganz umsonst verschossen.“
Wina stemmte die Arme in die Hüften und gab sich kämpferisch. „Frei und gleich wollten sie in Frankreich sein, und alle Brüder“, brummte sie, „das war die Parole. Warum geht so was bei uns denn nicht? Ein Hundeleben ist‘s für unsereins! Was wir im Schweiße unseres Angesichts zusammen schur‘n, langt hinten und vorne nicht, das obere Geschmeiß aber lebt wie die Made im Speck.“
„Halte deine Zunge im Zaum, Wina“, warnte Edeltraud. „Solche Reden haben schon so manchen ins Loch gebracht. Die, die auf Erden die Letzten sind, werden im Himmel die Ersten sein, sagt der Herr Pfarrer des Sonntags immer. Wir sollen uns in Geduld und Demut üben, sagt er, dann wird unser Namen bei Gott, dem Allmächtigen, einmal groß angeschrieben sein.“
Hiltrud wollte das Gespräch auf andere Dinge lenken. „Über Gott und die Welt zu simpelieren, geziemt sich nicht für unser-eins, darüber sollen sich ruhig die Herren den Kopf zerbrechen. Die bestehende Ordnung können wir nun einmal nicht ändern, die ist von Gott gemacht.“
Sie strich mehrmals über die Falten ihres Rockes, um dann nach einigem Zögern eine kleine Docke Garn hervorzubringen. Ein schelmisches Lächeln umspielte ihre Lippen. „Die will ich morgen der Annemarie geben“, erklärte sie und schielte dabei vorsichtig zu den anderen Tischen hinüber. „Der alte Martin kann seine Augen ja nicht überall haben, und bei den vielen Spulen, auf die der ein Auge haben muss, da fällt das gar nicht ins Gewicht.“
Wieder blickte sie sich prüfend nach allen Seiten um, diesmal nicht ohne einen gewissen Anflug von Stolz. „Dafür krieg ich von der Annemarie Heftseide, und daraus mach ich mir dann eine hübsche Spitze für mein Sonntagskleid.“
Hiltrud war ein junges Mädchen, das auf sich sah. Sie ver-dingte sich zwar nur ab und zu, hatte sie doch zumeist Paula in ihrer Obhut, was sie aber nicht daran hinderte, auch beim Oberleitner einzuspringen, wenn einmal Not am Mann war. Zu ihrem Leidwesen war sie ein recht farbloses, unscheinbares Ge-schöpf, im Gegensatz zu Elisabeth, die von Natur aus mit allen weiblichen Reizen ausgestattet war, die man sich nur denken konnte. Das versuchte Hiltrud nach Kräften durch ein modisches Äußeres wettzumachen, denn ihr vorab größtes Ziel war es, recht schnell unter die Haube zu kommen. Außer den Kleidern, die sie auf dem Leib trug, hatte sie jedoch nichts zu bieten als das wind-schiefe elterliche Häuschen, dessen tiefgraue Schindeln schon längst keinen ausreichenden Schutz vor Wind und Wetter boten und das sie zusammen mit Elisabeth und Paula bewohnte. So musste sie auf einen Freier hoffen, der eine zugreifende Hand körperlicher Schönheit vorzog. Manchmal wurden Mädchen wie sie von Bessergestellten zur Frau genommen, aber die meisten jungen Männer achteten schon darauf, dass ihre Bräute nicht nur sich selbst, sondern auch eine ansehnliche Mitgift in die Ehe brachten. Mit Waldemar, einem Holzfäller, der sie ab und zu be-suchte, war noch nichts Festes ausgemacht, und so bemühte sie sich redlich, wenn möglich noch eine bessere Partie zu machen. Im Stillen war ihr Elisabeth ein Dorn im Auge, weil sie bei dem Grünbacher aus und ein ging und es dennoch immer wieder hinaus zögerte, sich bei ihm in das gemachte Nest zu setzen und zu einer angesehenen Bürgersfrau aufzusteigen. Nein, die kärg-liche Behausung wollte sie nicht länger mit der Schwester teilen. Die mit dem Balg daheim, da zog bei ihr kein Freier ein.
In diesem Moment griffen die lustigen Musikanten wieder zu ihren Instrumenten. Die Hörner schmetterten, die Tuba fiel ein, und der Bass hallte weithin über die grüne Flur. Den jungen Burschen juckte es in den Beinen, und so manch einer kam auf seine Angebetete zu und bat sie mit einladender Verbeugung um den nächsten Tanz. Auch der Grünbacher kam und verneigte sich vor Elisabeth. Doch diese lächelte nur schwach. „Ich bitt Euch vielmals um Entschuldigung. Gestattet, dass ich mich zurück-ziehe. Es ist mir nicht recht wohl, ich muss ein wenig ruhen, damit ich wieder auf die Beine komme.“
Der Grünbacher, der keine Abfuhr gewöhnt war, runzelte die Stirn. „Was ist mit dir, Elisabeth? Soll ich den Doktor rufen lassen?“
„Keinesfalls. Ich werde den Weg nach Hause finden. Behüt Euch Gott!“
Sie knickste artig, griff nach Paulas Hand und ließ ihn einfach stehen. Er aber eilte ihr nach und packte sie am Arm. „Wie lange willst du mich noch hinhalten, du falsche Schlange“, zischte er, als sie niemand mehr hören konnte. „Das ganze Dorf spricht ja schon über mich!“
Er zerrte an seinem Hemdskragen, als müsste er sich erst ein-mal Luft verschaffen, und schickte einen vernichtenden Blick zu ihr hinüber. „Also gut, bis morgen noch“, drohte er, „aber das ist mein letztes Wort. Wenn du dann nicht in die Heirat einwilligst, brauchst du mir nie mehr unter die Augen zu treten!“
Bei den letzten Worten funkelten seine Augen wie die eines ganzen Wolfsrudels, das seiner Beute auflauert, um sich dann mit großer Gier darauf zu stürzen. Doch Elisabeth schien unbeein-druckt. Mit ernster Miene schritt sie vorwärts, bedächtig und doch entschlossen, dem kleinen windschiefen Häuschen entgegen, das am Ende des Dorfes stand, nach Silberbach zu. Der Festplatz lag schon bald weit hinter ihnen.
Inzwischen war die Dämmerung der Nacht gewichen. Hell fiel der Schein des Vollmondes zu dem kleinen Dachfenster herein, das von einem zersprungenen Glas gehalten wurde, und beleuchtete Paulas Stirn. Neben ihr lag die Stoffpuppe, noch von Großmutters zerstochenen Händen genäht, bevor die Alte an einem kalten Januartag ein schlimmer Husten heimgesucht, den ausgemergelten Leib erlöst und seine dürstende Seele zu ihrem Schöpfer gerufen hatte. Paula konnte sich keine Vorstellung von der Großmutter machen, aber wenn sie mit den Händen über den Schlingenstich tastete, mit dessen Hilfe Augen, Nase und Mund dargestellt waren, dann wusste sie, dass sie ihre Großmutter bestimmt sehr gemocht haben würde. Aber nun war sie im Himmel, beim lieben Gott, und sah von da aus immer auf sie herab. Paula war noch nicht ein Jahr alt gewesen, als die Leichenträger zu der winzigen Kate gerufen worden waren, um die alte Frau abzuholen.
Elisabeth wälzte sich auf ihrem Lager hin und her. Der Schlaf wollte ihr nicht kommen, zu sehr arbeiteten die Gedanken, zu laut klopfte das Herz in ihrer Brust. Die Angst vor dem Ungewissen, das die Zukunft bringen würde, lastete auf ihr wie das knarrende Gebälk des hölzernen Webstuhles, den sie inzwischen sogar im Schlaf hätte bedienen können, immer das fliegende Schiffchen im Auge. Inzwischen hatte sie auch keine Angst mehr davor, wenn es galt, in die laufende Maschine zu greifen, damit der ganze Ablauf nicht ins Stocken geriet und sie mit Lohnabzug bestraft werden konnte. Nein, unter der Obhut von Mrs. Kingstone hatte sie ge-lernt, zu jeder Zeit den Faden in der Hand zu halten und Herr über die Maschine zu sein. Dennoch hatte sie sich an diesem Nach-mittag entschieden zu gehen. Weg von Graslitz, weg von dem Grünbacher, der sie umwarb ihrer Schönheit willen, weg von ihrer Schwester, die sie darum beneidete und die die Betreuung von Paula nur übernommen hatte, weil sie ihr dafür zwei Mark die Woche gab. Nein, sie wollte weg von der heimatlichen Erde, zu-sammen mit Paula, um auf der anderen Seite des Gebirges ein neues Leben anzufangen.
Paulas Atemzüge waren tief und gleichmäßig. Ihr Fäustchen berührte den Schlingenstich, als wollte es das kleine Gesichtchen vor den Schlägen der Tante schützen. Elisabeth schreckte zu-sammen, als sie draußen Schritte vernahm. Sie hörte, wie der große Hausschlüssel hinter der untersten Stufe hervorgezogen und zweimal im Schloss herumgedreht wurde, untermalt von lust-vollem Gekicher, dem eine dunkle Männerstimme in nichts nach stand. Die hölzernen Stufen ächzten unter der Last, die sich an dem wackligen Geländer empor zog. Es waren zwei Paar Beine, die vor der Kammer nebenan Halt machten, und von denen eines davon die knarrende Tür aufstieß. Wahrscheinlich war es Guntram, dessen lautes lustvolles Keuchen bis zu ihr herüber drang. Das Stöhnen und Grunzen machte Elisabeth Angst. Sie hielt sich die Ohren zu und hoffte, dass nicht noch Paula von dem zügellosen Geschlechtstrieb des halb Betrunkenen aufwachen würde.
Als es drüben wieder still ward, setzte sie sich auf und warf das lange Haar trotzig nach hinten. Nein, es war wohl besser, sich nicht erst von Hiltrud zu verabschieden. Sie schlich sich hinunter in die dunkle Küche, wie eine Katze, an dem eisernen Herd vorbei, legte ihre Tracht zusammen, das dunkle Kopftuch zu-oberst, das an allen vier Ecken mit bunt eingestickten Blumen-motiven verziert war, und griff nach der dicken Bibel, die ihr zu ihrer Trauung vom Pfarrer einst ausgehändigt worden war. Das Buch mit dem Ledereinband wog schwer, zu schwer, um es auf eine so lange und ungewisse Wanderschaft mitnehmen zu können. Sie blätterte darin herum und fand zwischen den Seiten ein kleines Bildchen, das einen Schäfer mit seiner Herde zeigte. „Der Herr ist mein Hirte“, stand darauf in schöner Schreibschrift, silbergrau verziert. Elisabeth presste es an sich, griff nach einem kleinen irdenen Schnabeltopf und entnahm ihm einige Geld-stücke. Oben in der Kammer packte sie ihren Rucksack und schnürte ein kleines Bündel für Paula. Die Puppe legte sie mit hinein. Auch die Mundharmonika vergaß sie nicht. Als es draußen allmählich hell wurde und die ersten Vögel zu singen begannen, weckte sie das Kind, gab ihm einen Schluck Milch und schob dann Paula entschlossen zur Tür hinaus.
„Wohin gehen wir, Mama?“ Schlaftrunken stolperte Paula neben ihr her.
„Hinüber ins Sächsische. Dort gibt es Arbeit für mich, und dort werde ich dich nie mehr alleine lassen, das verspreche ich dir.“
Paula war fürs erste zufrieden gestellt und schmiegte sich an die Mutter. Doch nach einer Weile fing sie wieder an. „Ist es noch weit bis da hinüber?“
Elisabeth tauchte tüchtig an, so dass das Kind kaum mit ihr Schritt halten konnte. „Ziemlich“, stieß sie hervor. „Aber wir werden immer einmal eine Rast einlegen, so wird’s dir nicht allzu lang werden. Überall gibt es so viel Neues zu sehen, dass es dich nicht gereuen wird.“
Während sie diese Worte sprach, waren sie an dem kleinen Kirchlein angelangt, hinter dem, umgeben von einer hohen steinernen Mauer, der Friedhof lag. Elisabeth schritt beinahe feierlich die Reihen der Gräber entlang, die schlichte Holzkreuze zierten. Vor dem Grab ihres geliebten Reinhold kniete sie lange. Die kleine Paula aber war auf die angrenzende Wiese hinaus ge-eilt und pflückte einen taufrischen Blumenstrauß, so dick, wie ihn die kleinen Ärmchen zu fassen vermochten. Elisabeth lenkte ihre Schritte zum Grab der Mutter, zu dessem Kopf sich eine schlanke weiße Birke erhob. Die dünnen Zweige mit den saftigen grünen Blättern nickten im Wind, als wollten sie ihr einen Abschiedsgruß schicken. Paula wurde indes nicht müde, Wiesenschaumkraut zu sammeln, auch Wolfsmilch und den ersten Klee. Sie zupfte Gänseblümchen und ließ sich zwischen dem goldgelben Löwen-zahn nieder, um Kränze zu winden. In der Ferne spielte ein Hirte auf seiner Flöte. Es war eine liebliche Melodie. Fünf Töne spielte er, immer und immer wieder, als fädelte er die Töne an eine Kette. Er brach ab, um gleich darauf von neuem zu beginnen, und die beiden waren davon seltsam berührt.
„Mama“, meinte Paula und sah andächtig zu ihrer Mutter auf, „warum hört es denn immer wieder auf? So ist es doch kein richtiges Lied!“
Elisabeth blickte sinnend in die Ferne. Paula hatte Recht. Es waren in der Tat nur wenige Töne, sie klangen beschwörend, mussten sich erst noch zur Melodie zusammen fügen. Doch es war ein seltsamer Zauber, der ihnen inne wohnte. Die Mutter strich ihrem Töchterchen sanft über das Haar. „Der Hirte muss das Lied noch lernen, vielleicht sind dies die einzigen Griffe, die man ihm beigebracht hat“, überlegte sie laut. „Es ist grad wie bei einer Geschichte, die sich erst noch entwickeln muss. Wenn man am Anfang steht, weiß noch keiner, wie alles einmal ausgehen wird.“ Sie schwieg eine Weile. „Das Leben hat seine eigene Melodie, Paula, das wirst du auch noch lernen. Und die kann manchmal bitter sein“, murmelte sie, den Blick gesenkt, als spräche sie zu sich selbst. Doch als sie dann das betroffene Ge-sichtchen ihres Kindes sah, raffte sie sich schnell wieder auf. Sie nahm die kleinen Kinderhände in die ihren und zog Paula an sich. „Komm her zu mir, mein Schatz, ich will dich doch nicht ängstigen. Wir werden die Töne des Lebens treffen, und wir werden dieses Leben zusammen auskosten, du und ich.“
Mit wachsender Festigkeit hatte sie die letzten Worte ge-sprochen, und sie gaben ihr neuen Mut. Sie bekreuzigte sich und legte den Arm um ihr Kind, wie zum Schutz. Noch einmal ließen sie sich nieder und ordneten zum letzten Mal die schmückenden Kränze, die das Grab bedeckten. Als sie dann den Quittenbach entlang schritten, der nach Sachsen hinüber floss, war es Elisabeth, als töne diese seltsam traurige Melodie aus ihr heraus.
Paula aber entdeckte Haselnüsse, es war eine gut gefüllte Dolde, die da vor ihren Füßen lag. Das Kind konnte sein Glück beinahe nicht fassen. „Drei Nüsse, Mama, schau nur! Die nehme ich mit. Es ist das letzte Andenken an unser Zuhause.“ Es hob das Köpfchen und schaute nachdenklich in den wolkenlosen blauen Morgenhimmel. „Ob sie die Großmutter zu uns herunter geworfen hat?“
Elisabeth sagte nichts, aber sie schritt rüstig voran. Paula sollte nicht sehen, dass es Tränen waren, die sie sich aus den Augen wischte.