Eine Sozialkunde
E-Book, Deutsch, 574 Seiten
ISBN: 978-3-593-41965-7
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Mit Beiträgen von Hans-Jörg Albrecht, Maurizio Bach, Rolf Becker, Johannes Berger, Hartmut Häußermann, Martin Heidenreich, Stefan Hradil, Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Hans-Peter Müller, Oskar Niedermayer, Uwe Schimank, Josef Schmid, Manfred G. Schmidt, Norbert F. Schneider, Wolfgang Seifert, Roland Sturm, Jürgen Wilke, Annette Zimmer, Sascha Zirra und Michael Zürn.
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Inhalt
Kapitel 1
Sozialkunde Deutschlands9
Einleitung
Stefan Hradil
Kapitel 2
Sozialer Wandel 17
Wohin geht die Entwicklung?
Uwe Schimank
Kapitel 3
Bevölkerung 41
Die Angst vor der demografischen Zukunft
Stefan Hradil
Kapitel 4
Migration67
Vom Gastarbeiter zum Menschen mit Migrationshintergrund
Wolfgang Seifert
Kapitel 5
Familie 94
Zwischen traditioneller Institution und individuell
gestalteter Lebensform
Norbert F. Schneider
Kapitel 6
Bildung 121
Die wichtigste Investition in die Zukunft
Rolf Becker
Kapitel 7
Soziale Ungleichheit 152
Eine Gesellschaft rückt auseinander
Stefan Hradil
Kapitel 8
Werte, Milieus und Lebensstile 185
Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft
Hans-Peter Müller
Kapitel 9
Innere Sicherheit und soziale Kontrolle 209
Wie viel Freiheit ist möglich?
Hans-Jörg Albrecht
Kapitel 10
Siedlungsstruktur 229
Die neue Attraktivität der Städte
Hartmut Häußermann †
Kapitel 11
Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung 247
Vergangenheit und Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft
Johannes Berger
Kapitel 12
Arbeitsmarkt 284
Für alle wichtig, für viele unsicherer
Wolfgang Ludwig-Mayerhofer
Kapitel 13
Arbeitswelt 308
Die Entgrenzung einer zentralen Sphäre
Martin Heidenreich/Sascha Zirra
Kapitel 14
Demokratie 330
Deutschlands schwieriger 'Weg nach Westen'
Manfred G. Schmidt
Kapitel 15
Zivilgesellschaft 347
Ein Leitbild
Annette Zimmer
Kapitel 16
Regierungssystem 360
Herausforderungen für Regierung und Verfassung
Roland Sturm
Kapitel 17
Parteien und Wahlen 378
Die Entwicklung des politischen Wettbewerbs
Oskar Niedermayer
Kapitel 18
Medien 398
Die 'vierte Gewalt'?
Jürgen Wilke
Kapitel 19
Sozialstaat 422
Eine Institution im Umbruch
Josef Schmid
Kapitel 20
Europäische Integration 449
Zwischen Markt und Solidarität
Maurizio Bach
Kapitel 21
Supranationalisierung 472
Die Zukunft der Staatlichkeit
Michael Zürn
Kapitel 22
Zukunftsszenarien für Deutschland495
Stefan Hradil
Glossar512
Literatur543
Autoren 558
Sachregister 565
Kapitel 8
Werte, Milieus und Lebensstile
Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft
Hans-Peter Müller
1 Einleitung: Wertewandel, Individualisierung und Erlebnisgesellschaft
Jede Gesellschaft weist eine Doppelnatur auf: Zum einen existiert sie als objektive Wirklichkeit in Gestalt ihrer Sozialstruktur. Sozialstruktur* bezeichnet das innere Gefüge und den Aufbau der Gesellschaft, vor allem die soziodemografischen Merkmale wie Bevölkerung, Wirtschaft (Arbeitsmarkt und Erwerbstätigkeit), Bildung, Familie und Lebensformen, aber auch die sozialökonomische Gliederung nach Klassen und Schichten. Zum anderen existiert sie als subjektiv wahrgenommene, mit Sinn und Bedeutung versehene Realität in Gestalt ihrer Kultur. Kultur umfasst Wissen und Artefakte, Ideen und Ideale, Werte und Normen, aber auch Einstellungen und Meinungen. Zur Gesellschaft gehört stets der Diskurs über die Gesellschaft. Die Gesellschaft besteht also aus Sozialstruktur und Kultur, aus Faktizität und Normativität, aus Wirklichkeit und Idealität, aus Realität und Reflexion. Das sind gleichsam zwei Seiten einer Medaille.
Die Soziologie als Wissenschaft untersucht die Gesellschaft in ihrer Doppelnatur als Sozialstruktur und Kultur und ist damit selbst Teil der Kultur. Ihre Begriffe und Theorien sind keineswegs unschuldige und neutrale Instrumente, sondern sie werden von der sozialen Wirklichkeit selbst beeinflusst und prägen diese Wirklichkeit mit. Die Gesellschaftsanalyse bliebe blass ohne solche 'Gesellschaftsbilder', die den empirischen Fakten erst Sinn und Bedeutung verleihen und das Verstehen erleichtern. Begriffe wie Industriegesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Informations- und Wissensgesellschaft geben uns eine erste Vorstellung, in welcher Gesellschaft wir leben (vgl. Kapitel 2: Sozialer Wandel). Auch die in den 1970er- und 1980er-Jahren aufkommenden Begriffe Wertewandel, Individualisierung und Erlebnisgesellschaft markieren solche Gesellschaftsbilder, die das Verständnis der sozialen und kulturellen Wirklichkeit in der alten Bundesrepublik geprägt haben. Wie muss man diese neuen Selbstbeschreibungen verstehen?
Der Gesellschaftsumbruch im Verlauf der Moderne
Die moderne Gesellschaft ging aus drei Revolutionen hervor: der ökonomischen Revolution und der Entstehung des Kapitalismus; der politischen Revolution und der Heraufkunft der Demokratie; der kulturellen Revolution und der Durchsetzung des Individualismus. Alle diese Merkmale – Kapitalismus, Demokratie und Individualismus – charakterisieren bis heute moderne (westliche) Gesellschaften. Aber die ökonomischen, politischen und kulturellen Voraussetzungen für die massenhafte Verwirklichung der damit verbundenen Werte der Freiheit, Gleichheit und Solidarität wurden in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen. Mit der sozialen Marktwirtschaft kam der Wohlstand, mit der Demokratie wurden aus deutschen Untertanen gleichberechtigte Bürger, und mit dem Individualismus wurde eine persönlich gewählte Lebensführung möglich. Allerdings erfolgte dieser Durchbruch zunächst im klassischen Gewand einer industriegesellschaftlich-autoritären Moderne, für die die 'Adenauer-Zeit' in Westdeutschland typisch war. Erst im Gefolge von '1968' konnte dieses alte Gewand abgestreift werden. Dafür stehen die drei Stichworte Wertewandel*, Individualisierung* und Erlebnisgesellschaft*.
Um diesen Umbruch genauer zu charakterisieren, seien zunächst die wichtigsten Begriffe definiert (2.). In Abschnitt 3 wird ausführlicher auf den Wertewandel eingegangen, in Abschnitt 4 auf die Individualisierung und die Pluralisierung sozialer Milieus und Lebensstile. In den darauffolgenden Abschnitten geht es dann um den Wandel von Biografien und Lebensläufen (5.) und um die Frage der Säkularisierung oder Rückkehr der Religion (6.). Abschließend wird unter den Stichworten Knappheit, Unsicherheit und Flexibilität ein Ausblick auf denkbare weitere Entwicklungen gegeben.