Houellebecq | Ausweitung der Kampfzone | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Houellebecq Ausweitung der Kampfzone


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8031-4182-8
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4182-8
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
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Kaum je hat ein Autor in der französischen Öffentlichkeit ein solches von leidenschaftlichen Diskussionen begleitetes Echo gefunden wie Michel Houellebecq mit seinem ersten Roman. Es wurde in Windeseile zum Kultbuch, rückhaltlos gepriesen und wütend geschmäht. Heute gilt es vielen als Houellebecqs bestes Buch, sein Titel ist bereits zum Sprichwort geworden. Ein junger Informatiker, der für eine Pariser Software- Firma arbeitet, ist der Held der in einem straff gespannten Bogen erzählten Handlung. Seine betriebsame, aber kommunikationslose Umgebung versteht er meisterhaft zu sezieren. Dann unternimmt er eine Dienstreise in die Provinz, gemeinsam mit einem ebenso erotomanischen wie verklemmten Kollegen, einer Verkörperung all jener Eigenschaften, die er an seinen Mitmenschen verachtet. Am Weihnachtsabend, in einer Diskothek, drückt er ihm ein Messer in die Hand . . .

Michel Houellebecq wurde 1958 in La Réunion geboren. Er veröffentlichte Gedichtbände und Essays, bevor er mit dem umstrittenen Roman »Die Ausweitung der Kampfzone« debütierte. Für dieses Buch wurde er mit dem Grand prix national des lettres und dem Prix Flore für den besten Erstlingsroman ausgezeichnet. Houellebecq schrieb zahlreiche weitere Romane, lebte in Irland und Lanzarote und heute wieder in Paris.
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Elf


Ich habe Jean-Yves Fréhaut nie wieder gesehen; und warum hätte ich ihn auch wiedersehen sollen? Im Grunde waren wir uns nicht wirklich sympathisch gewesen. So oder so sieht man sich heutzutage selbst dann kaum, wenn die Beziehung voll Enthusiasmus beginnt. Manchmal kommt es zu atemberaubenden Gesprächen über allgemeine Aspekte des Lebens; manchmal findet sogar eine fleischliche Vereinigung statt. Natürlich tauscht man Telefonnummern aus, doch in der Regel ruft man sich selten an. Und selbst wenn man sich anruft und sich wiedersieht, nehmen Ernüchterung und Enttäuschung bald den Platz der ursprünglichen Begeisterung ein. Glauben Sie mir, ich weiß Bescheid; es gibt hier keine gangbaren Wege.

Das fortschreitende Verlöschen zwischenmenschlicher Beziehungen bringt für den Roman allerdings einige Schwierigkeiten mit sich. Wie soll man es anstellen, von diesen heftigen Leidenschaften zu erzählen, die sich über mehrere Jahre erstrecken und deren Wirkungen manchmal noch über Generationen hinweg spürbar sind? Von den Sturmhöhen haben wir uns weit entfernt, das ist das Mindeste, was man sagen kann. Die Romanform ist nicht geschaffen, um die Indifferenz oder das Nichts zu beschreiben; man müsste eine plattere Ausdrucksweise erfinden, eine knappere, ödere Form.

Während menschliche Beziehungen zunehmend unmöglich werden, ist es diese Vervielfachung der Freiheitsgrade, die Jean-Yves Fréhaut zum begeisterten Propheten werden ließ. Er selbst hatte, da bin ich sicher, nie eine Liaison gehabt; seine Freiheit aber erreichte den höchsten Grad. Ich sage das ohne Verbitterung. Er war, wie gesagt, ein glücklicher Mensch; trotzdem beneide ich ihn nicht um dieses Glück.

Die Spezies der Informatik-Denker, zu der Jean-Yves Fréhaut gehörte, ist zahlreicher, als man denkt. In jedem mittleren Betrieb kann man einen, manchmal zwei davon finden. Außerdem gestehen die meisten Leute mehr oder minder offen ein, dass jede Beziehung, besonders aber jede menschliche Beziehung, sich auf einen Austausch von Informationen beschränkt (sofern der Begriff Information auch nicht-neutrale, das heißt belohnende oder bestrafende Botschaften umfasst). Unter solchen Bedingungen verwandelt sich ein informatisierter Denker bald in einen Denker der gesellschaftlichen Entwicklung. Oft ist er ein glänzender Redner und wirkt daher überzeugend; er wird sogar das Gebiet der Gefühle umschließen.

Am nächsten Tag – wieder bei einer Abschiedsfeier, diesmal im Landwirtschaftsministerium – hatte ich Gelegenheit, mit dem Theoretiker zu diskutieren, an dessen Seite sich wie gewöhnlich Catherine Lechardoy befand. Er selbst war Jean-Yves Fréhaut nie begegnet und sollte auch künftig keine Gelegenheit dazu haben. Ich stelle mir eine hypothetische Begegnung vor: der geistige Austausch höflich, aber auf gehobenem Niveau. Mit Sicherheit würden sie sich rasch über Werte wie Freiheit und Transparenz einigen oder hinsichtlich der Notwendigkeit, ein System verallgemeinerter Transaktionen zu errichten, das die Gesamtheit der gesellschaftlichen Handlungen umfassen sollte.

Anlass zu diesem Moment der Geselligkeit war die bevorstehende Pensionierung eines kleinen, ungefähr sechzigjährigen Mannes mit grauem Haar und dicken Brillengläsern. Die Belegschaft hatte zusammengelegt, um ihm eine Angel zu kaufen, ein leistungsstarkes japanisches Modell mit dreifacher Rollengeschwindigkeit, dessen Schwingweite durch einfachen Knopfdruck verstellbar war. Der Mann wusste noch nichts von dem Geschenk; er stand in der Mitte des Treibens, unweit von den Champagnerflaschen. Einer nach dem anderen kam, um ihm einen freundschaftlichen Klaps zu geben oder eine gemeinsame Erinnerung wachzurufen.

Danach ergriff der Leiter der EDV-Studienabteilung das Wort. Es sei ein aussichtsloses Unterfangen, sagte er gleich zu Beginn, in wenigen Sätzen dreißig Jahre eines Berufslebens zusammenzufassen, das ganz der Landwirtschaftsinformatik gewidmet gewesen sei. Er erinnerte daran, dass Louis Lindon noch die heldenhaften Zeiten der Informatisierung erlebt habe: Die Lochkarten! Die Stromausfälle! Die Magnettrommeln! Bei jedem Ausruf breitete er lebhaft die Arme aus, als wollte er die Zuhörerschaft dazu einladen, ihre Vorstellungskraft in diese längst vergangene Zeit zurückzuschicken.

Der Betroffene lächelte listig und knabberte auf unappetitliche Weise an seinem Schnurrbart; ansonsten war sein Verhalten jedoch tadellos.

Louis Lindon, schloss der Abteilungsleiter, habe die Landwirtschaftsinformatik mit geprägt. Ohne ihn wäre das EDV-System des Ministeriums nicht das, was es ist. Und diese Tatsache werde keiner der anwesenden Kollegen, werden auch nicht die künftigen Mitarbeiter (seine Stimme begann ein wenig zu zittern) jemals vergessen.

Ungefähr dreißig Sekunden dauerte der lebhafte Applaus. Ein junges Mädchen, man hatte es unter den allerreinsten ausgewählt, überreichte dem künftigen Pensionisten seine Angel. Er schwenkte sie schüchtern mit ausgestreckten Armen. Das war das Zeichen des Aufbruchs zum Büffet. Der Abteilungsleiter trat zu Louis Lindon, legte ihm den Arm auf die Schultern und entführte ihn bedächtigen Schrittes, um ein paar innige und persönliche Worte mit ihm auszutauschen.

Diesen Augenblick wählte der Theoretiker, um mir zuzuflüstern, dass Lindon trotz allem einer anderen Informatikergeneration angehöre. Er programmierte, ohne eine richtige Methode zu haben, mehr oder weniger intuitiv; die Begriffe der Merise-Methode waren für ihn weitgehend toter Buchstabe geblieben. In Wahrheit mussten alle Programme, die auf seinem Mist gewachsen waren, neu geschrieben werden; die letzten zwei Jahre gab man ihm kaum noch etwas zu tun, er habe sie mehr oder weniger auf dem Abstellgleis verbracht. Kein Mensch, fügte er warmherzig hinzu, stelle seine persönlichen Fähigkeiten infrage. Aber die Dinge entwickeln sich schlicht und einfach weiter, das sei ganz normal.

Nachdem er Louis Lindon in den Nebeln der Vergangenheit begraben hatte, konnte der Theoretiker auf sein Lieblingsthema zurückkommen: Seiner Meinung nach würden die Erzeugung und Zirkulation von Information denselben Wandel erfahren wie einst die Herstellung und Zirkulation von Lebensmitteln: Ein Übergang vom handwerklichen Stadium zum industriellen Stadium werde sich vollziehen. Was die Erzeugung von Information betreffe, sagte er nicht ohne Bitterkeit, seien wir noch weit entfernt vom Null-Fehler-Niveau; Redundanz und Ungenauigkeit seien meist die Regel. Die ungenügend entwickelten Verteilungsnetze der Information blieben von Approximation und Anachronismus geprägt (die Telekom-Gesellschaften, bemerkte er zornig, verteilten immer noch Telefonbücher aus Papier). Gott sei Dank forderten die jungen Leute immer größere Mengen an immer verlässlicherer Information; Gott sei Dank zeigten sie sich immer anspruchsvoller hinsichtlich der Beantwortungszeit; doch bis zu einer vollständig informierten, vollkommen transparenten und kommunizierenden Gesellschaft sei es immer noch weit.

Er entwickelte noch andere Gedanken; Catherine Lechardoy blieb dicht an seiner Seite. Von Zeit zu Zeit pflichtete sie ihm bei: »Ja, darauf kommt es an.« Ihre Lippen waren rot, ihre Augen blau geschminkt. Ihr Rock ging bis zur Mitte ihrer Schenkel, die Nylonstrümpfe waren schwarz. Mir schoss durch den Kopf, dass sie sich Höschen kaufen musste, vielleicht sogar Tangas; das Stimmengewirr im Zimmer wurde etwas lebhafter. Ich stellte mir vor, wie sie in den Galeries Lafayette einen brasilianischen Tanga aus roten Spitzen auswählte; ich fühlte eine Welle schmerzlichen Mitleids.

In diesem Augenblick trat ein Kollege an den Theoretiker heran. Die beiden wandten sich leicht von uns ab und boten sich gegenseitig Zigarillos an. Catherine Lechardoy und ich standen uns jetzt gegenüber. Ein vernehmliches Schweigen trat ein. Dann hatte sie einen Ausweg gefunden und begann, von der Harmonisierung der Arbeitsabläufe zwischen der Dienstleistungsfirma und dem Ministerium zu reden, also zwischen uns beiden. Sie hatte sich mir noch ein Stück genähert – unsere Körper waren durch maximal dreißig Zentimeter Leere voneinander getrennt. Einmal drückte sie mit einer zweifellos unbeabsichtigten Geste ganz leicht das Revers meines Sakkos zwischen ihren Fingern.

Ich fühlte mich zu Catherine Lechardoy keineswegs hingezogen und hatte nicht die geringste Lust, sie zu vernaschen. Sie blickte mich lächelnd an, trank Cremant, gab sich Mühe, tapfer zu sein; trotzdem, das wusste ich, hatte sie das große Bedürfnis, vernascht zu werden. Das Loch, das sie zwischen den Beinen hatte, musste ihr ziemlich nutzlos vorkommen. Einen Schwanz kann man immer noch abschneiden; aber wie die Leere einer Vagina vergessen? Ihre Lage schien verzweifelt, und mich begann meine Krawatte zu beengen. Nach dem dritten Glas hätte ich ihr beinahe vorgeschlagen, zusammen hinauszugehen, um in irgendeinem Büro zu vögeln; auf dem Schreibtisch oder auf dem Teppich, egal; ich fühlte mich bereit, die notwendigen Handlungen zu vollziehen. Aber ich sagte nichts; und eigentlich denke ich, dass sie nicht einverstanden gewesen wäre; oder ich hätte sie zuerst umarmen, ihre Lippen mit einem zarten Kuss streifen und ihr ins Ohr flüstern müssen, dass sie schön ist. Nein, es gab wahrhaftig keinen Ausweg. Ich entschuldigte mich kurz und ging auf die Toilette kotzen.

Als ich zurückkam,...


Michel Houellebecq wurde 1958 in La Réunion geboren. Er veröffentlichte Gedichtbände und Essays, bevor er mit dem umstrittenen Roman 'Die Ausweitung der Kampfzone' debütierte. Für dieses Buch wurde er mit dem Grand prix national des lettres und dem Prix Flore für den besten Erstlingsroman ausgezeichnet. Houellebecq schrieb zahlreiche weitere Romane, lebte in Irland und Lanzarote und heute wieder in Paris.

Michel Houellebecq wurde 1958 in La Réunion geboren. Er veröffentlichte Gedichtbände und Essays, bevor er mit dem umstrittenen Roman »Die Ausweitung der Kampfzone« debütierte. Für dieses Buch wurde er mit dem Grand prix national des lettres und dem Prix Flore für den besten Erstlingsroman ausgezeichnet. Houellebecq schrieb zahlreiche weitere Romane, lebte in Irland und Lanzarote und heute wieder in Paris.



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