E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
Hornby Er war ein guter Junge
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99037-163-3
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
ISBN: 978-3-99037-163-3
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unbeschwert ist die Kindheit der Freunde Giovanni und Santino, unvergesslich die Sommertage im sizilianischen Sciacca am Meer, die Träume und kleinen Fluchten. 'Was mag aus uns werden?'
Doch die Zukunft wird längst von anderer Hand geschmiedet, von den ehrgeizigen Müttern und von mächtigen Gönnern im Hintergrund. Giovanni wird ein angesehener Anwalt und zum Spielball zweifelhafter Personen. Während der zielstrebige Santino zum Betonfürsten aufsteigt und schnelles Geld mit undurchsichtigen Bauaufträgen verdient. Beide machen hervorragende Partien, bauen sich Luxusvillen und feiern Erfolge in den dunklen 1980er-Jahren. Doch immer bedrohlicher umfängt sie das Netz aus Abhängigkeiten und zieht sie in die Tiefe ...
SIMONETTA AGNELLO HORNBY, geboren 1945 in Palermo, hat gegen den Wunsch ihrer adligen Familie Sizilien verlassen und im Ausland studiert. Seit 1972 lebt sie in London und setzt sich als Anwältin für die Rechte sozial benachteiligter Menschen und Opfer von Gewalt in der Familie ein. In ihren literarischen Werken beschäftigt sie sich mit der Insel ihrer Herkunft, auf der sie ihre Sommer verbringt.
Sie ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Italiens. Ihr Debütroman 'Die Mandelpflückerin' ist ein in 19 Sprachen übersetzter Bestseller.
Weitere Infos & Material
1 Einfach der Nase nach
2 Trauriges Erwachen
3 Nur eine einzige Sache
4 Du bist jetzt ein junger Mann
5 Giovannis Traum
6 Familien sind von vornherein krank
7 Dieses Geld gefällt mir nicht
8 Jeder Stein hier erzählt von Schönheit und Schmerz
9 Ein Abschiedsbrief
10 Kaktusfeigen
11 Der Rest kommt von allein
12 Unterschiedliche Arten von Tieren
13 Wie immer alles Gute
14 Nie lügen und nie die Wahrheit sagen
15 Wie eine Eidechse auf den Mauern des Gesetzes
16 Dort bebt die Erde also nicht?
17 Ich sehe Blut
18 Es ist so weit
19 Gesprächige Gäste
20 Casa Perfetta
21 Das ist mein Geschenk
22 Der letzte Johannisbrotbaum
Anmerkung der Autorin
Danksagung und Literatur
Zitatnachweise
1
Einfach der Nase nach
Wie streunende Hunde schlitterten die Jungen den Berg bis zum ersten Plateau hinunter. Abhang für Abhang bahnten sie sich ihren Weg durch Gestrüpp und Unterholz, stolperten über Steine, fingen sich wieder, von spitzen Dornen und scharfen Gräsern, den Überlebenden der Augusthitze, unbeeindruckt. Ihr Geschrei klang wie ein Angriff aus eingebildeten Schützengräben, die aber eigentlich der Treibsand ihrer Jugend waren. Auf dem Plateau liefen sie mit großen, unsicheren Schritten weiter und ließen sich keuchend auf die frisch gepflügte Erde fallen. Der Acker erstreckte sich mit sanftem Gefälle um mehrere Johannisbrotbäume. Das Sonnenlicht fiel schneidend durch die Äste und flirrte über den erschöpften Jungen. Sergio drückte den Lederball gegen die Brust, ein Weihnachtsgeschenk seines Vaters, der ein ergebener Bewunderer des Walisers John Charles war, dem überragenden Torschützenkönig von Juventus und ersten nach Italien „importierten“ englischen Fußballspieler. Jedenfalls war die astronomische Ablöse von hundertzehn Millionen Lire gut angelegt, John Charles hatte in seinen fünf Jahren im schwarzweißen Trikot über hundert Tore geschossen. Die Jungen schnappten nach Luft, konnten nicht aufhören zu lachen. Plötzlich sprang Luigi auf und stürzte sich auf Giovanni. Ohne Gewalt, aber mit genau bemessener Wut forderte er ihn zum Kampf. Schon rollten sich beide am Boden. Sergio schaute ungerührt zu, als die Freunde direkt vor seinen Füßen landeten. Er wusste, der Kampf, aus dem Nichts begonnen, würde im Nichts enden. Und so geschah es: Beide ließen voneinander ab, allerdings nur, um sich auf Sergio zu stürzen, ihm umgehend den Ball zu entreißen und weit ins Aus zu köpfen. Sekunden später liefen sie Sergio schon wieder hinterher, auf ein imaginäres Tor zu. Giovanni und Luigi verteidigten, Sergio war der Stürmer, Täuschungsmanöver, Ablegen, unvermittelte Schüsse in Richtung Bäume, Vor- und Zurückdribbeln. Die frisch gepflügte Erde verhinderte schnelle Pässe, der Spielverlauf war zäh und wurde immer wieder unterbrochen. Als die Jungen das holprige Spiel, die Steinchen und Erde in den Schuhen schließlich leid waren, stellten sie sich mit gewagten Kopfbällen, Ballübungen und endlosen Elfmetern auf die Probe. Zwei Johannisbrotbäume waren die Pfosten, abwechselnd stand einer im Tor. „Ich kann das einfach nicht“, rief Sergio jedes Mal. Gewöhnlich spielte er auf anderer Position, stürmte das Tor, schützte es nicht. Alle drei waren nassgeschwitzt. Allmählich ging die Sonne unter und verwandelte den Himmel über den Johannisbrotbäumen in orangerote und kobaltblaue Ströme. Wie Soldaten nach dem Kampf kehrten die Jungen in den klammen Schatten der Bäume zurück: Sergio, den Ball unterm Arm, Luigi mit hängendem Kopf, Giovanni von einem schwarzen Lockenkranz umrahmt. Giovanni zeigte auf den größten Johannisbrotbaum, sie kletterten nacheinander hinauf, setzten sich jeder auf einen eigenen Ast, aber dennoch so dicht beieinander, dass sie sich leise unterhalten konnten; als hätten sie Geheimnisse, die nicht einmal die Bäuerin, die gerade über den nahen Feldweg ging, hören durfte. Mit gesenktem Kopf und sorgfältig darauf bedacht, dass der Weidenkorb an ihrem Arm nicht ins Wanken geriet, schob sie die Brombeersträucher auseinander, die am Weg und auf den Flurmauern wuchsen, und suchte nach Schnecken, die gut getarnt auf den dicken Dornen saßen. Mit elf Jahren hat man ausnahmslos große Gedanken und noch größere Fragen, so riesig, dass sie einem fast aus dem Kopf springen. „Und was machen wir?“, fragte Giovanni, es klang nicht einmal wie eine Frage, eher wie der Titel eines Vorhabens. „Wir machen einfach“, antwortete Sergio, als käme es in keinerlei Weise auf das „was“ der Handlung an, sondern nur darauf, handeln zu wollen. Sergio nannten alle den „Bologneser“, weil sein Vater aus dem Norden, aus Casalecchio nahe Bologna, stammte. Als junger Mann war er Soldat in der Kaserne von Palermo gewesen, hatte einen Kameraden in dessen Heimatdorf Pertuso Piccione begleitet und sich in dessen Schwester verliebt, die seine Gefühle leidenschaftlich erwiderte. Nach seiner Ausbildung zum Carabiniere ließ er sich nach Sizilien versetzen, heiratete seine Schöne aus Pertuso und stieg zum Chef der lokalen Kaserne auf. Entschlossenes Auftreten sei ein Zeichen von Autorität, hatte er seinem Sohn beigebracht, einer Bohnenstange mit dünnen roten Haaren. Darum redete Sergio gern in solchen Sätzen. „Wir machen einfach“, bekräftigte er noch einmal, tiefernst. „Einen Scheiß machen wir!“, sagte Luigi und schwankte offenbar unbeeindruckt auf seinem Ast hin und her. „Ob wir mal in Pertuso Piccione bleiben?“, fragte Giovanni, und in seinem runden Gesicht erkannten die anderen eine Sehnsucht nach märchenhafter Ferne. Sergio hob den Ball hoch, legte ihn sich wie eine Kristallkugel auf die Hand und sagte: „Ich sehe … ich sehe …“ „Was willst du da schon sehen?“, fragte Luigi belustigt und dennoch wider Willen neugierig auf die unvermutete Magie. „Amerika, ich sehe Amerika, so wie im Erdkundebuch, die Wolkenkratzer, den Ozean, die Prärie mit den Bisons …“ „Die hast du letztes Jahr im Kino gesehen“, sagte Giovanni, „in Sciacca, in den Glorreichen Sieben …“ „Gibt es in Amerika etwa Johannisbrotbäume?“, fragte Luigi zerstreut. „Wir wissen echt nichts von der Welt“, sagte Giovanni mit feierlicher Traurigkeit in der Stimme. „Ja und?“, erwiderte Sergio forsch. „Mein Vater kommt von weit her …“ „Von Bologna bis nach Pertuso Piccione braucht man mit dem Zug einen Tag und eine Nacht! Bloß nicht, da gibt’s Besseres“, sagte Luigi und blickte hilfeheischend ins Blattwerk. „Ein Auto! Wenn wir ein Auto haben, gehört die Straße uns. Ein schönes, starkes Auto, du gibst Gas und fliegst nur so dahin.“ Er drehte sich zu Sergio um, der noch immer die „Kristallkugel“ in der Hand hielt. „Und? Kannst du sehen, wie wir es allen zeigen? Triumphierend in Rom einziehen? Oder sogar ein Mädchen, das auf uns zukommt, so eins, das …“, er verhaspelte sich, wusste nicht weiter. „Was weißt du schon von Mädchen“, erwiderte Sergio prompt, der sechs Monate älter war. „Die kennst du doch nur aus dem Kino, wo ich die Prärie gesehen habe …“ „Marilýn Monró“, flüsterte Giovanni mit Blick auf Sergios Ball, vom Gedanken an Marilyns überwältigende Formen unter dem weißen Kleid verwirrt. „Marilýn, oh Marilýn! Die ist längst bei den Heiligen! Du weißt ja nicht einmal, wie eine Frau wirklich aussieht“, schrie Luigi mit ungewollt schriller Stimme, für die er sich im selben Moment schämte. Giovanni hatte keine Lust, sich zu erklären. Luigi und er waren urgroßmütterlicherseits verwandt, auch wenn keiner genau wusste, wievielten Grades. Sie sprachen vom anderen jedenfalls als „mein Cousin“, und das waren sie auch für den „Bologneser“, der seine Kenntnisse nun umgehend demonstrieren wollte: „Frauen haben unten schwarze Haare!“ „Schwachkopf! Was wächst dir denn unten? Schwarze oder rote Haare? Die Frauen sind unten schwarz, wenn sie auf dem Kopf schwarz sind. Man hat oben und unten dieselbe Farbe“, erklärte Giovanni geduldig. „Und Marilýns Haare sind sehr blond …“ „Amerika ist blond“, knüpfte Sergio an ihre vorige Frage an. „Aus uns wird etwas werden, und das wird so hell sein wie Marilýns Blond.“ Er hätte gern losgeprustet, wurde aber plötzlich von Melancholie übermannt. „Habt ihr euch Pertuso Piccione schon mal wirklich angesehen? Es ist so winzig, wie sein Name schon sagt, ‚Piccione‘, und klebt am Hügel wie ein Vogel an der Leimfalle. Wer soll da schon wegfliegen?“ „Mein Großvater ist stolz auf unser Dorf“, warf Giovanni ein. Auf ihrem Baum hatten die Jungen nicht bemerkt, dass sich unter ihnen die Schatten längst verdichtet hatten. Der Spätnachmittag ging in den Abend über, das leuchtend orange Licht war verblasst, die Landschaft nun mit einem hellen Rostrot bestäubt. Stille. In der Ferne erklang Hundegebell und kam näher. „Das ist Minorto“, sagte Sergio. „Der Hund der Rizzos. Wir müssen nach Hause.“ „Ich hab keine Angst!“, rief Giovanni. „Wir können auch die ganze Nacht hierbleiben, wenn wir wollen!“ Er musterte seine Freunde, als wollte er ihre Treue prüfen. Als wäre sein Satz nicht bloß Angeberei, sondern ein Vorschlag, mit dem er ihre Freundschaft, ihren Zusammenhalt, ihre Zukunft bekräftigen wollte. Das Ergebnis fiel positiv aus. Zwar wollten sie die Nacht nicht auf dem Feld unter dem Johannisbrotbaum verbringen, aber allein bei dem Gedanken daran fühlten sie sich wie Helden, vor denen glorreiche Abenteuer lagen. „Wie werden wir später einmal sein?“, fuhr Giovanni fort. „Wieso ‚Wie werden wir später einmal sein?‘“ Sergio strich über den Ball, den er zur Sicherheit zwischen die Schenkel geklemmt hatte. „Männer, Männer werden wir sein, Punkt. Bald fliegt der erste Mensch zum Mond, hab ich gehört. Genau solche Männer! Männer auf dem Mond!“ Alle drei blickten zu der weißen Scheibe, die sich immer mehr Raum im Blau eroberte. „Wir sind ein Geheimbund und werden die anderen nie verraten.“ Keiner der drei war schon in der Pubertät, aber wenn sie ihr Geschäft wie Tiere am Boden erledigten, schielten sie manchmal stumm zu den anderen. Sie vertrauten sich Geheimnisse an,...