Honigmann | Eine Liebe aus nichts | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 112 Seiten

Honigmann Eine Liebe aus nichts

Roman
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-423-40378-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 112 Seiten

ISBN: 978-3-423-40378-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Unterwegs sein ohne anzukommen  'So ist unsere Liebe, weil wir immer getrennt voneinander lebten und wegen der wechselseitigen Forderungen, die nie erfüllt wurden, nur wie eine Liebe von weither geblieben, so als sei es nur ein Einsammeln von Begegnungen und gemeinsamen Erlebnissen gewesen und nie ein Zusammensein.' Wie in einem Rondo, in traurigen und in komischen Variationen, kehrt in diesem Roman das Thema der Vergeblichkeit wieder. Erzählt wird die Geschichte von Vater und Tochter. Wie in ihrem preisgekrönten 'Roman von einem Kinde' erklärt sich der 'Zauber dieser verblüffend einfachen Prosa' (Marcel Reich-Ranicki) aus der Spannung zwischen ihrer Melancholie und den oft komischen Wandlungen des Lebens.

Barbara Honigmann, 1949 in Ost-Berlin geboren, arbeitete als Dramaturgin und Regisseurin. 1984 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Straßburg, wo sie noch heute lebt. Honigmanns Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Heinrich-Kleist-Preis, dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich, dem Jakob-Wassermann-Preis, dem Bremer Literaturpreis, dem Jean-Paul-Preis, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem Goethepreis der Stadt Frankfurt a. M. und zuletzt dem Friedrich-Schiller-Preis.
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Erst seit wenigen Monaten, noch nicht mal einem Jahr bin ich in dieser Stadt, in Paris. Ich wohne im XIII.Bezirk in einem Souterrain, etwas Besseres habe ich nicht finden können. Von unten sehe ich auf die Straße hinauf, auf die Füße der Leute, die da laufen; am Anfang, als ich gerade angekommen war, liefen sie ohne Strümpfe und trugen Sandalen, denn draußen war es heiß, ein sehr heißer Sommer, aber drinnen, in meiner Wohnung, war es kalt und dunkel, weil das Fenster nur wenig über die Straße reicht und kaum Licht hereinläßt, und ich mußte mich warm anziehen, nicht, wie sonst, beim Hinausgehen, sondern wenn ich von draußen hereinkam. Ich saß in dem Zimmer wie in einer Sternwarte, um mich herum kreiste die Stadt, die ich nicht sehen konnte, und aus dem Fenster suchte ich wie mit einem Fernrohr die Straße vor mir ab nach dem, was nun anders werden sollte.

Jetzt habe ich wenigstens schon meine Möbel und Sachen aus Berlin. In den ersten Wochen gab es nur die kahlen Wände und ein Klappbett, das man mir geborgt hatte, und zum täglichen Leben ein Besteck, einen Teller, ein Handtuch, ein Glas und einen Hocker zum Sitzen. Wie im Gefängnis, dachte ich da, und nicht wie in der neuen Welt, und hatte nachts Alpträume von Kälte und Verbannung. Bald war ich mir schon gar nicht mehr so sicher, was ich denn nun hier anfangen will. Ja, ich hatte aus einem alten Leben in ein neues aufbrechen wollen, aus einer vertrauten Sprache in eine fremde, und vielleicht habe ich sogar so etwas wie eine Verwandlung erhofft.

Habe ich denn nicht mein ganzes Leben geseufzt, nach Paris! nach Paris! Und dann habe ich eines Tages in einem Zug gesessen, und der Zug ist irgendwo angekommen, und sie sagten, es sei Paris. Aus Lautsprechern schrie es mich an: Pariii Est! Pariii Est! Ich kam aus dem Osten, ja. Ich habe mich in dem Bahnhof, der sehr hell und sehr groß ist, umgesehen wie in einer neuen Wohnung, die man zum erstenmal betritt; man sieht die kahlen Wände an und fragt sich, was einen hier wohl erwartet und was man alles erleben wird, und ist ängstlich und neugierig zugleich und auch stolz, daß man sich in das Abenteuer gestürzt hat und daß es nun kein Zurück mehr gibt.

Aber schon, als ich aus dem Bahnhof in die Stadt hinaus wollte, war kein Weg da und keine Straße, nur eine lose Absperrung, eine Baustelle, Bagger, Kräne, lärmende Maschinen und eine riesige Baugrube; ich bin wieder in den Bahnhof hineingegangen und aus einem anderen Ausgang wieder hinaus, doch da standen auch nur wieder die Bagger, Kräne, lärmenden Maschinen und gähnte die riesige Baugrube, und ich bin noch durch hundert Eingänge und Ausgänge wieder herein- und wieder herausgehetzt, es war, als ob wirklich kein Zugang in diese Stadt hinein zu finden wäre. Plötzlich aber stand ich doch auf einem Platz, da fiel ein Boulevard direkt vom Bahnhof hinunter, ein Straßenfall, ein breiter Fluß mit bunten Schiffchen, und ich lief an seinen beiden Ufern hinauf und hinunter. Aber was nun? Eine kleine Verzweiflung hatte mich schon gepackt, eine Kopflosigkeit jedenfalls – wohin, wo entlang? Irgendwohin mußte ich ja nun, einmal angekommen, gehen, doch ich hatte ja noch nie daran gedacht, daß ich in eine richtige Stadt käme, mit großen Straßen, Avenuen, Bezirken, in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet, und müßte mich entscheiden, wo entlang, und es wäre nicht ein Ball von Träumen, der vor mir springt, und ich liefe ihm nach und holte ihn mir.

Aus meiner Höhle im Souterrain bin ich dann jeden Tag auf Streifzüge längs und quer durch die Stadt gegangen, über Straßen, Boulevards und Alleen und winzig kleine und riesengroße Plätze und durch schattige Parks, und habe mich in Kirchen und Cafés gesetzt, die am Wege waren, und habe die Linien der Metro abgefahren und ihre Gänge und Treppen und Tunnel kilometerlang durchlaufen, und manchmal bin ich auch in einen Vorortzug gestiegen und wieder hinaus aus der Stadt gefahren und in das flache Land hineingelaufen, mit einer Art Elan, der wie eine Wut war, als ob ich das Land überrennen und es mir unterwerfen könnte.

Und so hatte ich bald manches gesehen, was ich lieber nicht hätte sehen wollen, und fühlte mich überhaupt viel mehr wie ein Einwanderer nach Amerika vor hundert Jahren: Nun sitzt er auf Ellis Island, der verdammten Insel, hat sein ganzes Leben hinter sich abgebrochen und Amerika noch nicht mal mit einem Fuß betreten, aber er ahnt schon die grausamen Wahrheiten der neuen Welt und muß sich manchmal fragen, ob er nicht viel zuviel für viel zuwenig hergegeben hat. Ein Zurück in sein russisches, polnisches, ungarisches, litauisches oder sonst ein Dorf aber gibt es nicht mehr, ganz im Gegenteil, die Geschwister, Onkel, Tanten und Freunde wollen auch bald nachkommen, und dann soll er, der jetzt noch so erstarrt auf Ellis Island sitzt, doch etwas aufgebaut haben – ein neues Leben.

Manchmal bin ich mitten in der Stadt, in irgendeiner Straße, einfach in einen fremden Hauseingang hineingegangen und die Treppe hochgestiegen, als ob ich da wohnte und immer da hineinginge. Da waren breite Steintreppen und weiche Teppiche über den Stufen, so daß man ohne ein Geräusch von Schritten lief, und ich steckte die Nase auch noch aus dem Fenster nach hinten hinaus und sah einen heimlichen Garten, einen mit nicht zuviel Sonne und nicht zuviel Schatten, und plötzlich berührte mich ein ganz unbekannter Geruch, ein fremder, ohne Vergleich und ohne Erinnerung, als ob es vielleicht doch noch eine ganz andere Welt gäbe, in der nicht alles an alles erinnert.

Aber wenn ich so durch Straßen und Höfe ging und wollte nur einfach ein bißchen zuschauen, wie es so ist und was sie da machen, dann fühlte ich mich nicht gerade willkommen. Die Leute erschienen mir mißtrauisch, sie fragten gleich, ob ich jemanden suche, und wenn ich sagte, nein, niemanden, nichts, ich gehe nur so hier entlang, dann fanden sie das unpassend und überflüssig, und ich verschwand lieber wieder durch das nächste Tor.

Einmal habe ich mich ganz nah von meiner Straße, die so laut und voller Verkehr ist, in eine Gegend verlaufen, die einem Dorf ähnelt, mitten in der Stadt. Ein hügeliges, buckliges Quartier, krumme Straßen, die hinauf und hinab in Schleifen und Kurven führen, mit Treppchen, Geländern, verrosteten Laternen und alten Frauen, die in Pantoffeln und Morgenrock dort wohl schon jahrhundertelang ihre Hunde spazierenführen. Jedes Haus ist verschieden vom nächsten, ganz niedrig nur, höchstens zwei Stockwerke, schmal, meistens auch schief, sich über die Straße neigend, so daß sie noch enger scheint. Die Wege steigen alle zu einem winzigen Platz hinauf, dem Gipfel des Berges. Ich sah mich nach einem Straßenschild um, da stand »butte aux cailles«, Wachtelberg. Auf dem Gipfel des Wachtelberges drängen sich, wie könnte es anders sein, Cafés und Kneipen, die Stühle und Tische stehen draußen auf dem schmalen Trottoir, beinahe zwischen den Autos, Menschenschwärme drumherum. Es kam mir vor, als hielte dort ein kleines Volk seine Versammlung ab, so sehr schienen sie alle zusammenzugehören. Ab und zu hielten Autofahrer neben den Tischen an, kurbelten die Fenster runter und redeten einfach mit. Sie reden ja hier alle immer so viel, immerzu reden sie.

Ich hörte sie, aber ich verstand sie nicht. Sie begrüßten sich alle, küßten sich alle, lachten, gingen, kamen, gingen wieder, und dann sah man einen von den Männern, der gerade gegangen war, im Fenster des gegenüberliegenden Hauses wieder, es öffnete sich ja halb über dem Tisch, er rief noch etwas hinunter, und die anderen riefen noch etwas hinauf.

Für einen Moment habe ich mich dazusetzen wollen. Ich fand noch einen einzigen freien Stuhl, allein an einem Tisch, von dem alle anderen Stühle schon längst weggeholt waren. Aber weil es so eng war, habe ich trotzdem ganz nah bei dem Wachtelbergvolk gesessen. Wie in einer Theatervorstellung saß ich da in der ersten Reihe, ganz dicht an der Bühne, sah dem Schauspiel ihrer Volksversammlung zu und erkannte auch schon die Dramaturgie und die Verteilung der Rollen. Die Hauptpersonen blieben nämlich die ganze Zeit sitzen, und nur die Nebenrollen und Statisten hatten wechselnde Auftritte. Ich mußte lachen, wenn sie lachten, war schon gefangen in ihrem Stück – da haben sie mich fragend angesehen. Ich verstand. Ich hatte ihnen einen Platz weggenommen, eine halbe Stunde lang saß ich schon da. So bin ich wieder weggegangen und wußte nicht, ob ich im Weggehen grüßen und »Salut« sagen sollte, wagte es nicht und hätte doch gerne auf Wiedersehen gesagt. Während ich mich entfernte, habe ich noch lange den Lärm des Wachtelbergvolkes hinter mir gehört.

Ach, es ist ja schön, herumzulaufen auf fremdem Pflaster, eine Spaziergängerin,...


Honigmann, Barbara
Barbara Honigmann, 1949 in Ost-Berlin geboren, arbeitete als Dramaturgin und Regisseurin. 1984 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Straßburg, wo sie noch heute lebt. Honigmanns Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Heinrich-Kleist-Preis, dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich, dem Jakob-Wassermann-Preis, dem Bremer Literaturpreis, dem Jean-Paul-Preis, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem Goethepreis der Stadt Frankfurt a. M. und zuletzt dem Friedrich-Schiller-Preis.

Barbara Honigmann, 1949 in Ost-Berlin geboren, arbeitete als Dramaturgin und Regisseurin. 1984 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Straßburg, wo sie noch heute lebt. Honigmanns Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Heinrich-Kleist-Preis, dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich, dem Jakob-Wassermann-Preis, dem Bremer Literaturpreis, dem Jean-Paul-Preis, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem Goethepreis der Stadt Frankfurt a. M. und zuletzt dem Friedrich-Schiller-Preis.



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