E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Homolka Krieg und Frieden im Judentum
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8436-1598-3
Verlag: Patmos Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-8436-1598-3
Verlag: Patmos Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Walter Homolka ist Rabbiner und Professor für Jüdische Theologie mit Schwerpunkt Dialog der Religionen an der School of Jewish Theology der Universität Potsdam. Er ist Chairman der Leo Baeck Foundation, Mitglied des Wissenschaftsrats der Eugen-Biser-Stiftung und Oberst der Reserve der Bundeswehr.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Zur Einstimmung
KRIEGSDIENST: EIN EHRENDIENST?
GIBT ES EINEN GERECHTEN KRIEG?
Deuteronomium 20 und seine Wirkungsgeschichte im jüdischen Denken
KRIEG UND FRIEDEN IN DER TORA
Exkurs: Der Tierfrieden
KRIEG UND FRIEDEN BEI DEN PROPHETEN
Der biblische Ursprung der Messiasidee
DIE JÜDISCH-HELLENISTISCHE SYMBIOSE
Über individuelle Friedfertigkeit und eine Zukunft ohne Krieg: Die ›sefarim chizonim‹
Krieg und Frieden bei Philo und Josephus
KRIEG UND FRIEDEN IN DER RABBINISCHEN LITERATUR
Exkurs: Der Frieden im Gebet
GEWALT UND GEWALTLOSIGKEIT IN DER MITTELALTERLICHEN RELIGIONSPHILOSOPHIE
Der messianische Frieden
Die Friedfertigkeit im Alltag
Der Frieden als abstrakter Begriff
Der kosmische Frieden der jüdischen Mystik
DER CHASSIDISMUS
DER FRIEDENSBEGRIFF DER JÜDISCHEN AUFKLÄRUNG UND EMANZIPATION
Die ›Wissenschaft des Judentums‹
Hermann Cohen
NEO-ORTHODOXIE UND LIBERALES JUDENTUM
Samson Raphael Hirsch
Leo Baeck
DER STAAT ISRAEL: VOM GERECHTEN KRIEG ZUM GERECHTEN FRIEDEN?
»FRIEDEN IST DIE EINZIGE OPTION«
Bibliografie
Anmerkungen
Zum Autor
Gibt es einen gerechten Krieg?
Deuteronomium 20 und seine Wirkungsgeschichte im jüdischen Denken
Das Streben nach Frieden ist eng verbunden mit der Frage nach einem gerechten Krieg. Als der amerikanische Moral- und Sozialphilosoph Michael Walzer (geb. 1935) 1977 sein inzwischen zum Klassiker gewordenes Buch ›Just and Unjust Wars‹ veröffentlichte, rückte er unter dem Eindruck des Vietnam-Kriegs einer breiten Leserschaft ins Bewusstsein, dass sich bereits in der Hebräischen Bibel im Buch Deuteronomium Regeln für eine adäquate Kriegsführung finden. Walzer geht es bei der Lehre vom gerechten Krieg um die Einschränkung möglicher Kriegsgründe, -zwecke und -mittel, also eher um eine Einhegung anstatt einer kategorischen Vermeidung des Krieges. Die Theologin Ruth Ebach bemerkt zu diesen Regeln in Deuteronomium 20: »Wie alle Texte des deuteronomischen Gesetzes sind auch die Regelungen zum Krieg keine bi- oder multilateralen Verträge mit anderen Staaten oder Völkern, sondern haben die Israeliten selbst als Adressaten. Sie sind also keine Kompromisse internationaler Aushandlungsprozesse, in denen sich verschiedene Interessen widerspiegelten, sondern bilden ein Ideal ab, das sich Israel für eine gerechte Kriegsführung imaginiert.«9 Die Epochen, in denen die Israeliten eine souveräne Nation darstellten, waren der Zeitraum zwischen ca. 1250 und 586 v. u. Z., also die Eroberung Kanaans und die Zeit des Ersten Tempels, sowie die Jahre zwischen 165 und 63 v. u. Z., die Makkabäerzeit und die Zeit der Hasmonäer.
Die Anweisungen zum Krieg gegen Städte in Deuteronomium 20 lauten folgendermaßen:
»So du einer Stadt nahest, sie zu bekriegen, sollst du ihr Frieden entbieten. Und es soll sein, wenn sie dir Frieden erwidert und dir öffnet, soll das ganze Volk, das darinnen sich findet, dir fronpflichtig sein und dir dienen. Wenn sie aber nicht Frieden mit dir macht und krieget mit dir und du sie belagerst, und der Ewige, dein Gott, gibt sie in deine Hand: So sollst du erschlagen alles, was in ihr männlich ist, mit des Schwertes Schärfe. Nur die Frauen und die Kinder und das Vieh und alles, was in der Stadt sein wird, all ihre Beute plündere für dich und verzehre die Beute deiner Feinde, die der Ewige, dein Gott, dir dann gegeben. So tue allen Städten, die sehr fern von dir sind, die nicht von den Städten dieser Völker sind. Aber von den Städten dieser Völker, welche der Ewige, dein Gott, dir zum Besitze gibt, sollst du keine Seele leben lassen, sondern bannen sollst du den Chitti und den Emori, den Kena?ani und den Perisi, den Chivvi und den Jewusi, so, wie der Ewige, dein Gott, dir gebot, damit sie euch nicht lehren, wie all ihre Gräuel zu tun, die sie ihren Göttern tun, und ihr euch verschuldet wider den Ewigen, euren Gott« (Deuteronomium 20,10–18).
Zur Schonung des Baumbestandes im Kriegsfall heißt es daran anschließend, dass im Zuge der Belagerung keine Frucht tragenden Bäume gefällt werden dürfen:
»So du eine Stadt umlagerst lange Zeit, sie zu bekriegen, sie einzunehmen, sollst du nicht ihre Bäume verderben, die Axt daran zu legen, da du davon issest, haue ihn nicht um, denn des Menschen ist der Baum des Feldes, als dass er kommen sollte von dir zum Belagerungswerk. Nur den Baum, von dem du weißt, dass er kein Fruchtbaum ist: ihn kannst du vernichten und umhauen und Belagerungswerke wider die Stadt bauen, die mit dir Krieg führt, bis sie gefallen« (Deuteronomium 20, 19f).
Mit Blick auf die Mobilmachung ist bemerkenswert, wer in biblischer Zeit alles vom Kriegsdienst befreit werden sollte:
»Und die Vorsteher sollen zum Volke reden und sprechen: Wer ist da, der ein neues Haus gebaut und es nicht eingeweiht? Er gehe und kehre zurück zu seinem Hause, dass er nicht sterbe im Kriege und ein andrer Mann es einweihe. Und wer, der einen Weinberg gepflanzt und ihn nicht gelöset? Er gehe und kehre zurück zu seinem Hause, dass er nicht sterbe im Krieg und ein andrer Mann [den Weinberg] löse. Und wer, der sich mit einer Frau verlobet und sie nicht heimgeführt? Er gehe und kehre zurück zu seinem Hause, dass er nicht sterbe im Kriege und ein andrer Mann [die Frau] heimführe. Dann sollen fortfahren die Vorsteher, zum Volke zu reden und zu sprechen: Wer ist da, der furchtsam ist und vergehet vor Angst? Er gehe und kehre zurück zu seinem Hause, dass nicht feige werde das Herz seiner Brüder wie sein Herz« (Deuteronomium 20,5–9).
Die Gesetze in Deuteronomium 20 regeln die Freistellung vom Militärdienst, Tributleistungen und die Kriegsbeute und deren Verteilung sowie die Behandlung der Kriegsgefangenen und verbieten eine Entwaldung vor den Toren belagerter Städte. Die genannten Maßnahmen, etwa die Hinrichtung aller Männer auf gegnerischer Seite durch das Schwert und die Versklavung von Frauen und Kindern, sind im Kontext altorientalischer Kulturen zu lesen. Es geht um ein Ideal kultisch legitimierter Kriegsführung, das mit heutigen Vorstellungen von Humanität wenig gemein hat.
Deuteronomium 20 gilt zwar als locus classicus für die altisraelitische Perspektive auf eine legitime Kriegsführung, kann aber keinesfalls als die zusammenfassende Darstellung eines jüdischen Kriegsgesetzes verstanden werden. Doch obwohl dieser Basistext rudimentär bleibt und nur während der nationalen Unabhängigkeit der Israeliten gültig war, ist er zum Ausgangspunkt für ausgiebige Diskussionen über ethische Fragen geworden. Ein frühes Beispiel dafür findet sich beim Philosophen Philo, dem wichtigsten Repräsentanten des alexandrinischen Judentums, der überzeugt ist, dass »das Gesetz niemals beabsichtigt haben könnte, Eroberungskriege zu billigen« (De specialibus legibus 4,219–223); die Gesetze zur Befreiung vom Kriegsdienst legt Philo allegorisch so aus, dass es ihnen nicht nur um den Erwerb, sondern auch um den Genuss der vollen Seligkeit der Tugend gehe (De agricultura 146–168).10
In der Mischna (Sota 8) wird der Begriff Krieg einer Differenzierung unterzogen: Pflichtkrieg, erlaubter Krieg und Selbstverteidigung. Außerdem werden die Bedingungen für die Befreiung vom Kriegsdienst thematisiert, wobei die Mischna zu dem Schluss kommt, dass in einem gebotenen Kriege ein jeder geht, sogar ein Bräutigam aus seinem Zimmer und eine Braut von ihrem Hochzeitsbaldachin (Sota 8,7). Für Dienstbefreite mit Ausnahme eines Bräutigams wird zudem eine Art Zivildienst als Alternative formuliert (Sota 8,2). Die Erörterungen umfassen somit gar nicht alle Fragen, die der biblische Text aufwirft.
Im Talmud (Sota 44b) wird – lange nach dem Ende der nationalen Eigenständigkeit Israels – mit Bezug auf Deuteronomium 20 die Mischna mit den drei Arten von Krieg aufgegriffen, nämlich dem von Gott gebotenen Pflichtkrieg (milchemet chowa oder milchemet mizwa), dem erlaubten Krieg oder Ermessenskrieg (milchemet reschut) und einer Mischform, dem Präventivkrieg, der der Selbstverteidigung gilt. Es wird also nicht zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg unterschieden, sondern zwischen gebotenem und erlaubtem; die Kategorie »verbotener Krieg« fehlt. Die Wiedergabe und Auslegung der Bibelverse zum Kriegsrecht erfolgt dabei eher unsystematisch.
Die gebotenen Kriege beziehen sich gemäß Deuteronomium 20,17 auf Kriege gegen die Völker, die ursprünglich Kanaan bewohnten (Hetiter, Amoriter, Kaananiter, Perisiter, Hiwiter, Jebusiter), und gegen das Volk Amalek, das die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten angegriffen hatte (Exodus 17,8–16). Gebotene Kriege müssen von Gott selbst, vom König oder vom Sanhedrin erklärt werden; als Beispiel für gebotene Kriege werden die von Joschua genannt.11 Erlaubte Kriege sind Expansionskriege, die von jüdischen Königen unternommen wurden, um ihre Grenzen zu sichern oder ihren Ruhm zu vergrößern; als Beispiel für erlaubte Kriege aus Ermessensgründen wird auf die Kriege König Davids verwiesen. Die Kriege Joschuas sind historisch nicht belegt, werden in der Hebräischen Bibel aber als Vernichtungskriege dargestellt, die gewissermaßen auch präventiv waren: »… damit sie euch nicht lehren, wie all ihre Gräuel zu tun, die sie ihren Göttern tun« (Deuteronomium 20,18).
Die Entscheidung, in einen Ermessenskrieg einzutreten, erfordert die Zustimmung mehrerer Instanzen, neben der Exekutive und der Legislative auch die des Hohen Rates von 71 Priestern, des Sanhedrins, als Judikative (Sanhedrin 1,5; Hilchot Melachim 5,2). Der Sanhedrin kann keinen Krieg initiieren; die Initiative muss vom König ausgehen, der dann die Zustimmung des Gerichts einholen muss (Tosefot Jom Tow zu Sanhedrin 1,5).
Der Angriff auf einen Feind in Erwartung dessen Angriffs (Präventivkrieg) ist umstrittener. Der Talmud befindet für diesen Fall mit den Worten von Raba: »Sie streiten nur über die [Kriege] gegen die Nichtjuden, damit sie sie nicht überfallen; einer nennt sie gebotene und einer nennt sie freiwillige« (Sota 44b).
Die realen historischen Voraussetzungen für beide Varianten sind seit dem Ende des israelitischen Königtums und des Sanhedrins nicht mehr gegeben; der gebotene und der erlaubte Krieg waren also zur Zeit der rabbinischen Diskurse schon längst keine praktisch und politisch relevanten Kategorien mehr. Die rabbinischen Erörterungen bezogen sich stets auf den spärlichen biblischen Basistext, nicht aber auf aktuelle Gegebenheiten. Rabbiner Daniel F. Polish (geb. 1942) fragt, ob diese rabbinischen Erörterungen überhaupt nützlich sind, um heute eine jüdische Perspektive zum...