E-Book, Deutsch, 180 Seiten
Holtz Narben auf der Haut und in der Seele
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7519-2504-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Scars against the skin and the soul
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-7519-2504-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Narben, die Zeichen des Lebens, gehören zu uns, aber sie werden versteckt. Die Frauen und Männer, die Gudrun Holtz fotografiert, offenbaren uns diese Zeichen ohne Pathos mit berührender Selbstverständlichkeit. Der unprätentiöse Blick und die Offenheit der Abgebildeten machen die Fotografien zu einem menschlichen Erlebnis. Ingo Taubhorn, Kurator Haus der Photographie, Deichtorhallen Hamburg
Gudrun Holtz, freie Autorin, Regisseurin für Hörfunk und Fernsehen (öffentlich-rechtlich), Fotografin. Kultur- und Kunstwissenschaftlerin M.A. DAAD Stipendiatin während eines Aufenthalts bei der NBC - Windhoek Namibia. Projektleitungen von Kulturprojekten sowie Referentin u.a. für den DVV-Verband sowie die Handwerkskammer Düsseldorf. Dozentin für journalistisches Schreiben sowie Biographiearbeit.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Narben als Symbol des Existenziellen Christian H. Sötemann Im Laufe eines menschlichen Lebens ist es fast unmöglich, gänzlich zu vermeiden, sich durch Verletzungen Narben zuzuziehen. Ein Kind stürzt auf dem Spielplatz, prügelt sich mit anderen Kindern auf dem Schulhof, Erwachsene schneiden sich an Scherben eines zersplitterten Spiegels, an einer scharfen Kante eines Tisches oder verletzen sich versehentlich bei der Zubereitung einer Mahlzeit mit einem Messer. Diesen Dingen, schmerzhaft und aversiv besetzt, können wir über unsere Lebensjahrzehnte hin kaum je völlig entgehen. So tragen wir alle unsere Narben davon, und meist verheilen diese mit der Zeit weitgehend, so dass häufig nur minimale Spuren zurückbleiben. Doch es gibt andere Narben; Narben, die von existenziellen Einschnitten künden, von Themen, die Leiden, die Leben und Tod betreffen. Narben, die anzeigen, dass diesem Menschen etwas passiert sein muss, das über die oben angeführten Missgeschicke des Alltages weit hinausgeht – etwas, das womöglich nicht nur körperliche, sondern auch seelische Narben hinterlassen hat. Narben, die darauf verweisen, dass das Leben dieses Menschen in Gefahr gewesen sein könnte, oder zumindest in sehr belastender Weise beeinträchtigt. Die Narbe zeigt sich dem Betrachter nicht selten unmittelbar und wirft die Frage auf, welche existenzielle Zäsur dieser Mensch erfahren, erlitten haben mag. Die Existenz der Narbe verweist auf Existenzielles. Es gibt Begegnungen, bei denen viele Menschen nicht sicher sind, ob sie genauer hinsehen wollen. Das auffallende Merkmal verunsichert den Betrachter, der bisweilen geneigt ist, wegzusehen, die Unsicherheit zu überspielen, das Thema wechseln zu wollen. Die Narben eines Menschen und ihre zugrundeliegende existenzielle Geschichte können tabuisiert werden. Überraschung zeigt sich andererseits in Fällen, in denen der Mensch, der die Narben aufweist, offen darüber spricht, das dazugehörige Ereignis – wenn auch sicherlich zumeist erst im Laufe eines umfangreichen und andauernden Bewältigungsprozesses – in die eigene Lebensgeschichte integriert hat. Wenn diese Integration hingegen noch nicht geschehen sein sollte, so stellt das tabuisierende Nicht-Sprechen oftmals ein großes Hindernis auf dem Weg zu einer Bewältigung des Erlebten dar, weil der Eindruck entsteht, dasjenige, was tabuisiert werde, sei so furchterregend, dass darüber nicht zu sprechen sei. Im Gegenteil zeichnet sich aber eine Bewältigung von traumatischen Erlebnissen und Einschnitten häufig durch ein behutsames Sprechen in stützender und geschützter Umgebung aus, das darauf achtet, Überforderung zu vermeiden. Anderen Menschen auffallende Merkmale, die nicht fast allen Individuen zueigen sind, können dazu beitragen– ob bewusst oder unbewusst – die Einschätzung dieser Person zu prägen. Es zeigt sich immer wieder, dass diese Einschätzung durch die hervorstechenden Merkmale gar dominiert werden kann. Körperliche Einschränkungen oder Auffälligkeiten führen dann dazu, dass diesen Menschen etwa eine Verletzlichkeit oder Anfälligkeit zugeschrieben wird, die sich als solche aber überhaupt noch nicht gezeigt haben muss. Der Halo-Effekt in der Psychologie beschreibt, wie ein als besonders hervorstechend wahrgenommenes Merkmal alle anderen Merkmale überstrahlen und zu unbegründeten Hypothesen führen „Be proud of all the scars in your life. Each one holds a lifetime‘s worth of lessons.“-unknown
kann. So kann es in Zuspitzungen gar zu einer Verengung der Perspektive kommen, die ein Individuum in seiner einzigartigen Komplexität unangemessen auf eine bestimmte Rolle, beispielsweise die des Verletzten, des Kranken, des Andersartigen, reduziert. Diese Stereotypisierung kann bei der Person selbst, die auf diese Weise eingeordnet wird, für verständliche Irritation und Enttäuschung sorgen. Es ist nicht immer leicht, sich von solchen Kategorisierungen freizumachen – der französische Existenzialist Jean-Paul Sartre bemerkte zu seinem Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft” nicht ohne Grund: „Die Hölle, das sind die andern”: denn die anderen Menschen geben uns in ihrer Mitteilung, wie sie uns sehen – ob gewollt oder nicht – eine Rückmeldung, die auch das eigene Selbstbild unweigerlich beeinflusst. Selbst wenn ich bestrebt bin, mich von diesen Zuschreibungen zu distanzieren, so bin ich doch gezwungen, mich mit ihnen auseinanderzusetzen, sie zurückzuweisen oder teilweise anzunehmen, gegen sie anzugehen oder sie erklären zu wollen. Die Haut, dieses mich zugleich schützende und in Relation zur übrigen Welt setzende Hüll- und Zeigeorgan, kann mit ihren von existenziellen Erlebnissen kündenden Narben Anlass dieser Zuschreibungen und Kategorisierungen werden, die wiederum ihrerseits für Menschen mit Narben neue Belastungen bedeuten können. Diese Phänomene, die hier allerdings keinesfalls als allgemeingültig generalisiert werden sollen, bedeuten in genannten Fällen eine Komplexitätsreduktion, die, so nötig eine solche in vielen anderen Situationen ist, um die Vielfältigkeit der Lebenswelt für sich selbst verstehbar und greifbar zu machen, anderen Menschen gegenüber ungerecht sein kann. Sie haben das Recht, wie jeder andere Mensch in ihrer Komplexität gesehen und nicht auf einige wenige augenfällige Eigenschaften reduziert zu werden. Narben können in diesem Sinne durchaus auch als existenzielle Symbole gesehen werden. Sie stellen kein isoliertes Merkmal dar, sondern verweisen auf den gesamten Menschen, dasjenige, was er an Leid, Schmerz und Krisensituationen erlebt hat, dasjenige was seine Existenz ergriffen und geprägt hat, seine gelebte Biographie, seine Individualität – die in genau dieser Form nur ein einziges Mal vorhanden sein kann und ein einzigartiges, singuläres Welterleben repräsentiert. Menschen in ihrer Einzigartigkeit zu dokumentieren und zu porträtieren: Dies ist, was Gudrun Holtz mit dem vorliegenden Bildband bewerkstelligt hat. Weder stellt sie einen zergliedernd-sezierenden Blick auf das Zeugnis von Verletzung oder Krankheit in das Zentrum, noch folgt sie einer romantisierenden Weichzeichnung, die oft Fotobänden eigen ist, die in Wartezimmern oder an Kaffeetischen zum konsumierenden Durchblättern ausliegen. Stattdessen dokumentiert sie präzise und ohne Effekthascherei Menschen mit Narben in einem würdevollen und wertschätzenden Porträt, das beabsichtigt, diese Menschen in ihrer Einzigartigkeit und Komplexität vorzustellen. Der deutsch-amerikanische Philosoph Ludwig Marcuse schrieb einmal: „,Der Mensch ist...‘ war immer der Beginn eines Fehl-Urteils. Es muß heißen: der Mensch ist auch…” Dies zu illustrieren, zu zeigen, dass der Mensch weit mehr ist als eine Summe seiner Merkmale, wie hervorstechend sie auch empfunden werden mögen, hat Gudrun Holtz unternommen. Das Versprechen Homers Dr. Johannes Pause Das erste Kapitel seiner epochalen Literaturgeschichte des Realismus beginnt der Literaturwissenschaftler Erich Auerbach mit einer Rekapitulation jener „wohlvorbereiteten und ergreifenden Szene“ aus dem 19. Gesang von Homers Odyssee, in welcher der nach Ithaka heimgekehrte Odysseus von seiner ehemaligen Amme Eurykleia wiedererkannt wird. Im Auftrag Penelopes muss die inzwischen alt gewordene Frau dem vermeintlichen Fremden die Füße waschen und bemerkt dabei eine Narbe an dessen Schenkel, die den stillen Gast als eigentlichen Herren des Landes identifiziert. Die Anagnorisis, der für die Dramaturgie der klassischen Antike zentrale Moment des Wiedererkennens, lässt, so Auerbach, die Zeitebenen zusammenstürzen: Die Szene wird unterbrochen von einer siebzig Verse umfassenden Rückblende, in welcher geschildert wird, wie der Held sich die Narbe als junger Mann während einer Wildschweinjagd zugezogen hat. Kein Detail wird ausgelassen, denn die „gleichmäßige Beleuchtung“ der Wirklichkeit ist, so Auerbach, das zentrale Merkmal des Realismus Homers. Auf diese Weise wird die Narbe zum Anlass der Entfaltung eines Wissens um die Identität des Odysseus, die bei Homer noch in einem widerspruchsfreien Verhältnis zu dessen Biografie steht: Das Mal ist Aspekt eines stimmigen Gesamtbildes des Helden, dessen charakterliche Merkmale im Prinzip unwandelbar sind. Als gedanklicher Ausgangspunkt einer Geschichte der Mimesis ruft der Identitätsmarker Narbe zugleich eines der zentralen Problemfelder realistischen Erzählens auf: das Verhältnis des Zeichens zu seiner Referenz. Bereits vor ihrer Entdeckung nimmt Eurykleia die visuelle Ähnlichkeit zwischen dem Fremden und Odysseus wahr; erst durch die Narbe aber schlägt Sehen in Lesen, Wahrnehmung in Bedeutung um. Dem Augenschein allein ist nicht zu trauen, es bedarf der Eindeutigkeit des Symbols, um zu wissen, wen man vor sich hat. Die Narbe ist jedoch ein Zeichen, das ein vergangenes Ereignis nicht nur repräsentiert, sondern dieses in der Gegenwart auch wieder lebendig werden lässt: Erst im Zuge der ‚Lektüre‘ des Körperzeichens kehrt der verlorene Herr für Eurykleia tatsächlich zurück. Indem das Epos vorführt, was es selbst im Medium der Sprache...