E-Book, Deutsch, Band 2, 448 Seiten
Reihe: Sara Zuckerman
Holt Infarkt
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-492-97089-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 2, 448 Seiten
Reihe: Sara Zuckerman
ISBN: 978-3-492-97089-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein spektakulärer Kunstraub. Eine Reihe unerklärlicher Herzversagen bei prominenten Sportlern. Die einzige Verbindung ist der millionenschwere Unternehmer Najib Aysha - denn Aysha schätzt nicht nur Gemälde, er ist auch Mäzen eines englischen Fußballclubs. In seinem Verein hat es in letzter Zeit einige tödliche Zwischenfälle gegeben: Wird dort mit unerlaubten Dopingmitteln experimentiert? Die norwegische Kardiologin Sara Zuckerman wird auf diesen Fall aufmerksam, weil ihr alter Freund und Kollege Ola Farmen nun für Aysha arbeitet. Und dann erinnert sich Sara an ein Foto, das sie vor vielen Jahren gesehen hat - und das der Schlüssel zu diesem Fall sein könnte. - Der zweite Kriminalroman von Holt&Holt - ein abgründiges Verbrechen, dessen ganze Wucht sich für den Täter unerwartet spät entfaltet ...
Anne Holt, 1958 geboren, wuchs in Norwegen und in den USA auf. Als freie Autorin lebt sie heute mit ihrer Familie in Oslo. Ihre vielfach preisgekrönten Kriminalromane werden in alle großen Sprachen übersetzt und machen sie mit über 7 Millionen verkauften Exemplaren zu einer der erfolgreichsten skandinavischen Autorinnen weltweit. Ihre beiden Serien um Inger Vik und Hanne Wilhelmsen genießen Kultstatus und wurden erfolgreich verfilmt.
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Freitag, 8. September 2000
11:15 Uhr
Cleveland Clinic, Cleveland, Ohio
Hätte der Mann mit den traurigen Augen Sara Zuckerman ein Jahr und drei Tage später aufgesucht, vielleicht hätte sie ihm geholfen. Sie hätte sich die Fotografie, die er vor sie auf den massiven Schreibtisch aus dunkler Eiche legte, vermutlich genauer angesehen. Nun aber betrachtete sie das Bild nur flüchtig, schob es dann weg und schüttelte den Kopf. »Den habe ich noch nie gesehen.« Ein entwaffnendes Lächeln. Mit der rechten Hand schob sie ihre Haare hinters Ohr, ehe sie die Lüge besiegelte: »Noch nie im Leben.« »Sicher?« Der Mann ließ ihren Blick nicht los. Seine vermutlich blauen Augen wirkten in der scharfen Sonne schmutzig grau. Sie waren groß, auch mit zusammengekniffenen Lidern, und die Augenwinkel zogen sich in einem Ausdruck ewiger Tristesse nach unten. Sara nahm an, ein Mann in seiner Position habe allen Grund, niedergeschlagen zu sein. Der Mund war groß unter einem sorgfältig gestutzten kräftigen Schnurrbart. Sara Zuckerman war nach kurzer Zeit klar gewesen, woher er kam. Ihr wurde oft vorgeworfen, von allen das Schlechteste anzunehmen. Auch diesmal war sie sich schnell sicher, ohne dass sie hätte sagen können, weshalb. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, um seinen Ausweis zu bitten. In der Branche, in der dieser Mann arbeitete, wurde man mit Papieren ausgestattet, die so falsch wie meisterlich hergestellt waren. Als er ihr dennoch eine Dienstmarke des U. S. Marshals Service hinhielt, schüttelte sie den Kopf. »Was soll dieser ... was haben Sie gesagt, wie heißt er?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Aber was soll er denn angestellt haben?«, fragte sie beiläufig und schob das Foto noch ein Stück weiter von sich weg. »Darüber darf ich nichts sagen.« »Nein. Das dürfen Sie wohl nicht.« »Wir wissen aus zuverlässiger Quelle, dass er hier gewesen ist.« »Das ist natürlich möglich. Die Cleveland Clinic ist ein großes Krankenhaus. Bei mir war er allerdings nicht.« »Dann erlauben Sie vielleicht, dass ich mich ein wenig umhöre? Bei den anderen Ärzten auf der Station, bei den Krankenschwestern, bei ...« »Nein.« »Nicht?« Der Mann, der sich als Charles Gerstner vorgestellt hatte, hob die Augenbrauen und ließ sich im Sessel zurücksinken. Sara Zuckerman nahm die Andeutung eines Lächelns wahr, als er hinzufügte: »Eine Spur unpatriotisch, was? Es geht immerhin um ...« »Sie sind so wenig U. S. Marshal, wie ich die Ministerpräsidentin von Israel bin«, fiel sie ihm ins Wort. »Und es ist auch kein Zufall, dass Sie gerade zu mir kommen.« Sie glaubte, ihn schlucken zu hören. »Ich mag Sie nicht«, sagte sie eilig. »Ich mag Ihre Arbeitsweise nicht. Ihre und die Ihrer Organisation. Ich mag auch die Politik nicht, die Ihr Land führt, wo ich schon mal beim Thema bin. Und es provoziert mich, dass Sie davon ausgingen, ich wäre so leicht an der Nase herumzuführen.« Sein Blick glitt zu dem goldenen Davidstern hinunter, der über dem obersten Knopf ihres weißen Kittels gerade noch zu sehen war. »Der macht mich auch nicht pflegeleichter«, sagte Sara Zuckerman mit scharfer Stimme. »Offenbar nicht.« »Bei Ihrer Organisation sind Sie möglicherweise an größeres ... Entgegenkommen von anderen Juden gewöhnt. Als Ärztin habe ich jedoch nur meinen Patienten gegenüber Verpflichtungen.« »Er war also Ihr Patient?« »Nein.« Die Lüge kam um eine Zehntelsekunde zu spät. Sie war aus der Übung; Lügen fielen ihr in der Regel leicht. Verärgert strich sie mit der Hand über die Tischplatte, um sich wieder zu fassen. »Ziemlich unpatriotisch«, wiederholte der Mann, »dass Sie mir nicht helfen wollen. Unamerikanisch, würde ich sagen.« Sara schaute auf. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben. Seine Augen waren wirklich blau, seltsam eisblau unter den pfefferschwarzen Haaren. »Aber ich bin ja auch Norwegerin. Ursprünglich.« Er zuckte nicht mit der Wimper. Sie fügte hinzu: »Und ich bin alt genug, um mich an die Sache in Lillehammer zu erinnern, 1973. Ich war noch ein Kind, aber dieser Wahnsinn hat meinen Eltern arg zu schaffen gemacht. Kinder merken sich solche Dinge. Empörte, verzweifelte Eltern. Wissen Sie noch?« Weiterhin keine Reaktion. »Ein ganzes Team«, sagt sie, jetzt lauter, während sie den rechten Zeigefinger auf ihn richtete. »Ein ganzes verdammtes Team aus Mossad-Agenten auf norwegischem Boden. Mit Decknamen und falschen Papieren ...« Der Finger zeigte auf die Brusttasche, in der seine U. S.-Marshal-Dienstmarke steckte. »... mit Waffen, konspirativen Wohnungen und Fluchtfahrzeugen. Alles, um einen marokkanischen Kellner umzubringen, der absurderweise hinter dem Münchner Massaker stecken sollte. Einen redlichen Kellner. Mit norwegischer Frau und Kind. Ein Neger in Lillehammer, als es noch ›Neger‹ hieß und sogar Araber als solche galten.« Charles Gerstner saß noch immer bewegungslos da. »Ich kenne diese Geschichte leider nicht«, sagte er schließlich. »Das war 73, haben Sie gesagt? Da habe ich in Boston gelebt. Harvard. Ich war dreiundzwanzig und habe mich vor allem für Mädchen, Eishockey und das nächste Fest interessiert.« Sara deutete ein Lächeln an. »Love Story.« »Was?« »Der Film. Boston. Die Zeit.« Keine Reaktion. Sara lächelte weiter. Die Lüge des Mannes war jetzt so offenkundig, dass sie stutzte. Das Buch Love Story war 1970 auf den Markt gekommen, der Film wurde für sieben Oscars nominiert und bekam einen. Fünf Golden Globes. Und es ging um unsterbliche Liebe und Eishockey. Und um Harvard. »Ich höre keinen Bostoner Akzent?« »Nein. Ich bin aufgewachsen ...« Er zuckte kurz mit den Schultern. »... hier und da. Überall und nirgends.« »Ein U. S. Marshal, der in Harvard studiert hat«, sagte sie. »Beeindruckend.« Er gab keine Antwort. Sara dehnte das Schweigen bewusst aus. Sie wollte ihn noch einmal sprechen hören, jetzt, wo sie auf den winzigen Beiklang von angelerntem US-Akzent in seiner Stimme aufmerksam geworden war. Er hätte, wie sie, leicht als Amerikaner durchgehen können. Im Alltag. Seine Aussprache war akzentfrei und fast perfekt. Aber nur fast. »Wir haben nichts mehr zu besprechen«, sagte Sara endlich. »Ich habe das Gefühl, dass es denen, auf die Sie auf diese Weise Jagd machen, übel ergeht, egal, was sie getan oder nicht getan haben. Mir wäre es lieb, wenn Sie jetzt gingen. Sofort. Ich weiß ja nicht, ob ... ob unsere Jungs wissen, dass Sie hier sind. Ihr steht ja wohl auf ziemlich gutem Fuß. Aber darauf können Sie sich verlassen: Ich werde die zuständigen Stellen informieren, wenn Sie auch nur einer der Schwestern hier auf der Station zuzwinkern. Das könnte dann zu Verwicklungen führen. Praktischen. Diplomatischen.« Sie wurde nicht einmal lauter. Die Augen des Mannes wurden noch ein wenig trauriger. Mit einer groben Faust zog er das Foto zu sich heran und steckte es in seine innere Jackentasche. »Sie irren sich.« »Sicher. Aber diesen Burschen habe ich jedenfalls nie gesehen.« »Natürlich nicht.« Charles Gerstner erhob sich langsam, mit einer Grimasse, als hätte er Schmerzen. Stumm ging er auf die Tür zu. Er hinkte, wie Sara Zuckerman jetzt bemerkte, er zog den linken Fuß ein bisschen nach. »Sie machen einen Fehler«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Nein.« Sein Rücken war breit und knochig. Von hinten wirkte er untersetzter, älter. »Wir wollen ihn nicht festnehmen. Ich suche, ich fahnde nicht.« Er versuchte offenbar, sein schmerzendes Bein zu entlasten, als er sich zu ihr umdrehte. »Warum tragen Sie den Davidstern?« »Weil es mir richtig vorkommt.« »Richtig?« Er schüttelte kurz den Kopf und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. »Thanks for your time.« Die Tür glitt langsam hinter ihm zu. »Freitag, der 8. September 2000«, sagte Sara mechanisch und öffnete eine schmale Schreibtischschublade. Sie legte den Zeigefinger auf ein Tonbandgerät, das kleinste, das sie hatte auftreiben können. Es stieß ein fast unhörbares Klicken aus und war dann tot. In New York City, fast siebenhundert Kilometer östlich von Cleveland, wo Sara Zuckerman beschloss, eine frühe Mittagspause einzulegen, kratzten die Zwillingstürme noch immer am Himmel über Manhattan. Die Muslime waren noch nicht zu den bad guys des Abendlandes geworden. Ein Jahr später würde die Welt anders aussehen. Wäre der falsche U. S. Marshal ein Jahr und drei Tage später aufgetaucht, hätte Sara Zuckerman sich vermutlich entgegenkommender verhalten. Hätte er noch eine Weile gewartet, bis die Konspirationstheoretiker ihre Geschichten über die Rolle der Juden im schlimmsten Terrorangriff aller Zeiten verbreitet hätten, wäre sie möglicherweise sogar bereit gewesen, Charles Gerstner zu helfen. Aber er kam zu früh. Sara war noch nicht bereit, Außenstehenden Auskünfte über ihre Patienten zu erteilen. Schon gar nicht Besuchern, die nicht einmal offen sagen konnten, wer sie waren. Der Mann auf dem Foto, das Charles Gerstner ihr gezeigt hatte, war zwei Wochen zuvor in elendem Zustand in...