Hollinghurst | Die Schönheitslinie | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Hollinghurst Die Schönheitslinie


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-86300-391-3
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-86300-391-3
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
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Sommer 1983: Als der zwanzigjährige Nick Guest in den wohlhabenden Londoner Stadtteil Notting Hill zieht, eröffnet sich ihm eine ganz neue Welt. Er bewohnt die Dachkammer des Elternhauses seines Kommilitonen Toby Fedden, in den er heimlich verliebt ist. Doch statt Toby sind es vor allem die anderen Mitglieder der Familie, die Nick in ihr Leben integrieren: der konservative Tory-Abgeordnete Gerald, seine Frau Rachel und die manisch-depressive Tochter Catherine. Schon bald oszilliert Nicks Alltag zwischen den abgründig-existenziellen Gesprächen mit Catherine und glamourösen Festen und Empfängen. Gebildet und attraktiv wie er ist, kommt er gut an bei den Reichen und Mächtigen, die sich im Haus der Feddens die Ehre geben. Doch die Tuchfühlungen mit der Londoner High Society sind nur eine Seite von Nicks neuem Großstadtleben. Die andere sind seine ausgiebigen Erkundungen schwuler Sinnesfreuden. Hier wie dort stürzt er sich rückhaltlos hinein in den Strom der schnellen Genüsse und flüchtigen Reize. Dabei ist ihm das Streben nach Eleganz und Schönheit wichtiger als ethische Überzeugungen. Doch die schönen Fassaden bekommen Risse, als die Aids-Epidemie London erreicht. Mit 'Die Schönheitslinie' schuf Alan Hollinghurst ein kunstvoll komponiertes Sittenporträt der Londoner Upperclass der Achtzigerjahre und einen zeitlosen Roman über die Suche nach Liebe und Schönheit. Als das englische Original 2004 erschien, wurde es von der Kritik für seine James'schen Qualitäten gelobt und im selben Jahr mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet.

Alan Hollinghurst (*1954 in Stroud, England) ist einer der bekanntesten britischen Schriftsteller der Gegenwart. Er arbeitete lange Zeit als Literaturkritiker für das renommierte Times Literary Supplement und ist Autor von sieben Romanen, u. a. 'Die Schwimmbad- Bibliothek' und 'Der Hirtenstern'. Sein neuer Roman 'Our Evenings' wird im Herbst 2025 bei Albino in deutscher Übersetzung erscheinen. Hollinghurst erhielt den Somerset Maugham Award und den James Tait Black Memorial Prize for Fiction. Für 'Die Schönheitslinie' wurde er 2004 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Er lebt in London.
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1


Peter Crowthers Machwerk über die Wahl lag schon in den Buchhandlungen aus. Es hieß , und der Verkäufer bei Dillon’s hatte das Schaufenster sinnigerweise mit einem Modell der gleichnamigen Naturkatastrophe dekoriert. Die Bücher mit dem mattgoldenen Konterfei der triumphierenden Premierministerin auf dem Umschlag kamen dem Betrachter als schimmernde Lawine entgegen. Nick blieb draußen auf der Straße stehen und betrat dann den Laden, um sich das Buch anzusehen. Peter Crowther hatte er einmal kennen gelernt; er war ihm als Auftragsschreiber geschildert worden, als Zeilenschinder, aber auch als »scharfer Analytiker«: Das schwache Lächeln, das sich jetzt beim Durchblättern des Buches einstellte, verbarg nur Nicks Unsicherheit darüber, welche Einschätzung der Wahrheit näher kam. Das Tempo, mit dem Crowther das Buch herausgehauen hatte – die Wahl lag gerade mal zwei Monate zurück –, hatte eindeutig etwas von Schinderei an sich, von seinem Schreibstil ganz abgesehen. Die Schärfe des Buches beschränkte sich anscheinend nur auf die Anstrengungen der Opposition. Nick sah sich alle Fotos genau an, aber nur auf einem war Gerald zu sehen: ein Gruppenbild der »101 neuen Parlamentsmitglieder der Torys«, auf dem Gerald sich in die erste Reihe gemogelt hatte, weil er schnell genug gewesen war oder einfach nur clever. Er lachte und sah in die Kamera, als säße er im Geiste schon auf der Regierungsbank. Das Lachen, der weiße Kragen auf dem dunklen Hemd, das schlaffe Brusttuch – man würde noch über ihn sprechen, wenn die alten Knaben in den Reihen hinter ihm zu einem schwachen Grinsen und Stirnrunzeln verblasst wären. Dennoch, im Text wurde er nur zwei Mal erwähnt: als »Bonvivant« und als Angehöriger jener »schwindenden Minderheit« der konservativen Parlamentsmitglieder, die ganz offensichtlich Privatschule und Oxbridge durchlaufen hatten, »wie bei Gerald Fedden, dem neuen Abgeordneten für den Kreis Barwick, nicht zu übersehen war«. Achselzuckend verließ Nick die Buchhandlung, doch draußen auf der Straße spürte er, etwas verzögert, Stolz darauf, dass das Foto eines Bekannten von ihm in einem Buch abgedruckt war.

Heute Abend, acht Uhr, war er zu einem Blinddate verabredet, und der heiße Augusttag war bestimmt vom Flimmern der Nerven, unterbrochen von Schönwetterperioden lüsterner Träumereien. Das Date war nicht gänzlich »blind« – »nur sehr kurzsichtig«, wie Catherine Fedden sich ausgedrückt hatte, als Nick ihr das Foto und den Brief gezeigt hatte. Anscheinend gefiel ihr das Äußere des Mannes, der Leo hieß und auch gut ihr Typ hätte sein können, wie sie gestand; nur seine Handschrift erschreckte sie: Sie wirkte kunstvoll und gleichzeitig ungestüm. Catherine besaß ein Taschenbuch, , das alle möglichen Warnungen vor den Neigungen und Hemmungen der Menschen enthielt (»Künstler oder Verrückter?«, »Schoßhündchen oder Reißwolf?«). »Diese wahnsinnigen Oberlängen, Darling«, sagte sie. »Dahinter steckt jede Menge Ego.« Wieder hatten sie sich mit spitzen Lippen über den kleinen Bogen billigen, blauen Briefpapiers gebeugt. »Und das bedeutet nicht zufällig bloß einen starken Sexualtrieb?«, fragte Nick. Sie hatte das verneint. Er war sehr aufgewühlt und sogar ziemlich gerührt über diesen Brief eines völlig fremden Menschen; aber es stimmte, der Text an sich weckte kaum Erwartungen. »Nick – OK! Habe deinen Brief erhalten. Arbeite in der Personalabteilung (London, Bezirk Brent). Wir können uns treffen, uns über Interessen und Wünsche unterhalten. Wann? Wo?« – und dann ein riesiges, wucherndes L für Leo, das die ganze untere Hälfte des Blattes einnahm.

Wenige Wochen zuvor war Nick in das große, weiße Haus der Feddens in Notting Hill eingezogen. Sein Zimmer befand sich unterm Dach und war mit seinem Fluidum von Teenager-Heimlichkeiten und -Trotz eindeutig dem Kinderbereich zuzuordnen. Tobys aufgeräumte Bude lag am Kopf der Treppe, Nicks Zimmer ein Stück weiter den durch eine Dachluke erhellten Flur entlang und Catherines am Ende. Nick hatte keine Geschwister, aber hier konnte er sich in die Rolle eines verlorenen mittleren Kindes hineinversetzen. Es war Toby, der ihn hergebracht hatte, früher schon, in den Ferien, seine »Saison« in London über – eine lang anhaltende, anregende Auszeit von seiner eigenen, alles andere als glanzvollen Familie –; und es war Toby, dessen Gestalt, halb bekleidet, noch immer hier herumspukte. Toby selbst wusste wahrscheinlich bis heute nicht, warum er und Nick Freunde waren, hatte aber diese unumstößliche Tatsache freundlich anerkannt. In diesen Monaten nach dem letzten Semester in Oxford war er kaum je da, und Nick wurde an Tobys kleine Schwester und ihre gastfreundliche Familie weitergereicht. Er war ein Freund der Familie, und er hatte etwas an sich, dem sie vertrauten, eine Ernsthaftigkeit, einen gewissen scheuen Glanz, etwas, das für Nick selbst nie ganz ersichtlich war, was der Familie aber bei der Entscheidung, ihn als Mieter aufzunehmen, entgegenkam. Als Gerald Nicks heimatlichen Wahlbezirk Barwick für sich erobert hatte, wurde diese Regelung als Logik der Poesie bejubelt, beziehungsweise des Schicksals.

Gerald und Rachel weilten noch immer in Frankreich, und beinahe bedauerte Nick ihre Rückkehr Ende des Monats. Jeden Morgen kam die Haushälterin, um die Mahlzeiten für den Tag vorzubereiten, und Geralds Sekretärin, Sonnenbrille in die Haare geschoben, schaute vorbei und widmete sich den beeindruckenden Mengen an Post. Der Gärtner kündigte sich durch den Lärm des Rasenmähers an, der durch ein offenes Fenster ins Haus drang, und Mr. Duke, der Mann für alles, von der Familie mit Euer Gnaden tituliert, kümmerte sich um die anfallenden Reparaturen. Nick hatte sich im Haus niedergelassen und es fast, so kam es ihm vor, für sich in Besitz genommen. Gerne kam er am frühen Abend heim in die Kensington Park Gardens, wenn die Sonnenstrahlen die breite, baumlose Straße beharkten und sich die beiden weißen, verglasten Terrassen wie zwei wohlhabende Nachbarn nachsichtig anstarrten. Ebenso gerne machte er die drei Schlösser der grünen Haustür auf, sperrte sie hinter sich wieder zu und spürte jedes Mal, wenn er in das rot gestrichene Esszimmer blickte oder die Treppe hoch in die beiden Salons ging oder noch weiter nach oben, vorbei an den zwei angelehnten Türen zu den weißen Schlafzimmern, die stille Geborgenheit, die das Haus vermittelte. Die erste Treppe, die sich fächerförmig in die Eingangshalle ergoss, war aus Stein, die oberen Treppen gaben das Vertrauen erweckende Knarren von Eichenholz von sich. Schon sah er sich selbst eines Tages jemanden die Treppe hinaufführen, einem neuen Freund das Haus zeigen – vielleicht Leo –, als wäre es sein eigenes oder würde ihm irgendwann gehören: die Bilder, das Porzellan und die geschwungenen französischen Möbel, die sich von den Möbeln, mit denen er aufgewachsen war, gründlich unterschieden. Die Spiegelungen in dem dunklen polierten Holz gesellten sich wie blasse Schatten zu ihm. Er hatte die Gelegenheit wahrgenommen und das ganze Haus erkundet, von den keilförmigen Schränken unterm Dach bis zur Rumpelkammer im Keller, Letztere war ein finsteres Museum, von Gerald als bezeichnet. Über dem Kamin im Salon hing ein Gemälde von Guardi, eine Vedute von Venedig in einem vergoldeten Rokoko-Rahmen, an der Wand gegenüber zwei große, vergoldete Spiegel. Nick hielt es in diesem Punkt mit seinem Helden Henry James, der »Gold in Mengen gut vertragen konnte«.

Manchmal kam Toby nach Hause, dann war laute Musik im Salon zu hören, oder er saß im Arbeitszimmer seines Vaters und telefonierte in der Weltgeschichte herum, in der Hand einen Gin Tonic – nicht als Hohn gegenüber seinen Eltern zu verstehen, vielmehr als berechtigte Nachahmung dessen, was sie sich selbst an Freiheiten in ihrem Haus gönnten. Er schlenderte in den Garten, riss sich das Hemd vom Leib, warf sich auf einen Liegestuhl und las den Sportteil des . Nick beobachtete ihn vom Balkon aus, ging zu ihm hinunter, mit fast atemloser Anspannung; er wusste, dass Toby seinen Körper, den trainierten Körper eines Ruderers, gerne vorzeigte – das wohlfeile Almosen der Schönheit. Sie tranken Bier, und Toby sagte: »Geht’s meiner Schwester gut? Hoffentlich ist sie nicht zu ausgeflippt«, und Nick antwortete: »Es geht ihr gut, ganz gut«, schirmte die Augen gegen die sinkende Augustsonne ab und erwiderte das Lachen – zur Beruhigung, von anderen ungeahnten Emotionen abgesehen.

Catherines Hochs und Tiefs gehörten für Nick zum Mythos des Hauses. Toby hatte ihm eines Abends im College, als Zeichen des Vertrauens, auf einer Bank am See davon erzählt. »Sie ist ziemlich ätherisch«, hatte er gesagt, im Stillen beeindruckt von seiner Wortwahl. »Sie hat so ihre Launen.« Für Nick hatte das ganze Haus, bislang nur in der Vorstellung, das Licht und den Schatten von Launen angenommen, das dort gelebte Leben durchtränkt von Gefühlen so wie die Luft in Oxford vom Geruch des Seewassers. »Früher hat sie sich immer mit einer Rasierklinge die Unterarme aufgeritzt.« Toby war zusammengezuckt. »Zum Glück hat sich das jetzt gelegt.« Das schien provozierender als reine Launenhaftigkeit, und als Nick Catherine kennen lernte, ertappte er sich dabei, wie er gebannt auf ihre Arme starrte. Auf einem Unterarm waren sauber gezogene, parallele Linien zu sehen, einige Zentimeter lang, und auf dem anderen ein Muster aus rechtwinkligen Narben, die man unwillkürlich als Buchstaben las; so als hätte sie versucht, das Wort ELLE zu schreiben. Die Narben waren jedoch längst verheilt, Spuren von etwas, das ansonsten vergessen schien; manchmal fuhr Catherine zerstreut...


Alan Hollinghurst (*1954 in Stroud, England) ist einer der bekanntesten britischen Schriftsteller der Gegenwart. Er arbeitete lange Zeit als Literaturkritiker für das renommierte Times Literary Supplement und ist Autor von sieben Romanen, u. a. "Die Schwimmbad- Bibliothek" und "Der Hirtenstern". Sein neuer Roman "Our Evenings" wird im Herbst 2025 bei Albino in deutscher Übersetzung erscheinen. Hollinghurst erhielt den Somerset Maugham Award und den James Tait Black Memorial Prize for Fiction. Für "Die Schönheitslinie" wurde er 2004 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Er lebt in London.



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