Holbein | Heilige Närrinnen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Holbein Heilige Närrinnen

22 +4 Lebensbilder
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8438-0265-9
Verlag: marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

22 +4 Lebensbilder

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"Ulrich Holbein ist ein sprachsinnig durchtriebener Satiriker auf dem besten Weg vom Geheimtip zur Institution." Der SpiegelHeilige Närrinnen sollen angeblich immer noch seltener vorkommen als heilige und unheilige Narren, doch siehe, es gibt sie und sie weichen oft bunt und gewaltig vom graugetönten Mainstream ab. Der polykulturelle Bilderbogen reicht von durchgeknallten Nonnen bis zu merkwürdigen Geistheilerinnen, von der bayrischen Hexe bis zu Seelsorgerin und Masturbationspäpstin. Die indische Prinzessin Mirabai wähnte mit Gott Krischna verheiratet zu sein und litt sich zuschanden an seiner Abwesenheit, die sie als Untreue deutete. Casanova berichtet von einer alchimistischen Marquise, die alles daran setzte, sogar ihr Leben, um unbedingt als Mann wiedergeboren zu werden. Beispiele für ein Leben als weiblicher Don Quixote bieten die FriedensaktivistinPetra Kelly, die gegen politische und militärische Windmühlen lief, oder auch die grüne Baumfrau Julia Butterfly Hill, die gegen Windmühlen in Holzkonzerngestalt anrannte. 26 bewegte Lebensläufe von der Wiege bis zur Bahre, aus zweitausend Jahren und aus vielen Kulturkreisen.

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Göttliche Hochzeit mit unverläßlichem Gott Prinzessin Mirabai von Jodhpur – Gottesbraut, Strohwitwe, Bhakti-Dichterin (um 1498–1546) Sie wuchs auf in einflußreicher Dynastie im weltumspannenden Mogulreich; ihr Urgroßvater Dschodhadschi Rathor gründete Jodhpur. Die Krischna-Statuette, die ein Gast ihrer Eltern, ein 125jähriger Sadhu, Bhakti-Mystiker und Rama-Verehrer namens Raidas bei sich führte und die sie als Kind sah und unbedingt haben wollte, mochte ihr der zögernde Greis nicht schenken, bis ihm dann ein Nachttraum befahl, die Figur doch noch an dieses Mädchen weiterzugeben. Bei der Hochzeit einer Nachbarstochter fragte Mirabai (Mira Bai), wer wohl ihr Bräutigam mal sein würde. Da wies ihre Mutter scherzend auf die Krischnafigurine; das Mädchen nahm das aber überhaupt nicht als Scherz. Ihr einziges Ein und Alles seither und sowieso und für immer hieß: Krischna. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter wuchs sie bei Großvater Rao Dudadschi auf, mit ihrem Cousin Dschayamal. Lehrfächer in diesen Adelskreisen: Schriftkenntnisse, Kampfkunst, Feinhandwerk, höfische Etikette. Nach dem Tod des Großvaters verheiratete ihr Onkel Viradev sie 1516 mit Bhodschradsch Sisodiya aus der Radschputen-Dynastie. Ihr ablehnender Kommentar: »Ich werde nicht vom Elefanten steigen, um einen Esel zu reiten.« Unglaublich, aber sie erklärte, bereits verheiratet zu sein; alle staunten: »Aber mit wem?« Sie betrachtete Schri Giridharalaladschi (also eben Krischna) als ihren Göttlichen Gatten. An der angeblichen Hochzeit mit ihm, vor kurzem, hatten plus/minus 56 Millionen Götter teilgenommen, falls da keiner aufgerundet hat, bei dieser selbst für Hindu-Demoskopen schwer überprüfbaren Ziffer, und in Relation zur abflauenden Überwonne des unglaublich traumhaft überirdischen Glücksfestes sah ihr irdischer Gatte vergleichsweise arg ungültig aus, ungöttlich, extrem unzureichend, farbschwach und unwichtig. Die hochoffizielle fürstliche Heiratszeremonie am Hof ließ die Achtzehnjährige passiv schulterzuckend über sich ergehn, verweigerte aber aktiv Hochzeitsnacht und Ehevollzug, was ihr irdischer Gatte liebevoll akzeptierte. Dreizehn Jahre später, als er in der Schlacht von Ghatoli umkam, verweigerte sie die Witwenverbrennung – Begründung, sie sei keine Witwe; denn die Schlange des Todes könne ihren wahren Gatten nie beißen. Das Falschgold des Königshofs, der Beamtenapparat, Vermittlungspriester und anderes Drumherum verachtete sie. Um ihres Idols Rückkunft näherzukommen, ließ die atypische Königstochter, zum Entsetzen ihrer Verwandten, die Palastanlagen im Rücken und wurde eine singende Yogini, rieb sich mit Asche ein, lief mit Antilopenfell herum, mit Fußkettchen und Zimbeln an den Fesseln, also optisch durchaus auf schamanischer Ebene. Lieber göttliche Lumpen als profane Seidenkleider! Sie hielt es wie vormals und anderswo die abtrünnigen Könige Gotama und Ibrahim Adham als Bettelasketen bzw. Wanderarbeiter umgingen: das Schlimmste, was familiär passieren konnte; weil nun die Endloskette der Ahnengeister abriß. »Sippenzerstörerin!« mußte Mirabai sich von ihrer Schwiegermutter nennen lassen. »Mira ist wahnsinnig!«, klagten Leute und Freunde. Ermordungsversuche, märchenhafterweise drei an der Zahl, überstand Mira durchaus. Als ihr Ratan Singh II. meuchlings einen Giftbecher reichen ließ, trank sie ihn lachend aus, als handele es sich um den Nektar von Govindas Füßen. Da sie bereits dessen Unsterblichkeitstrunk genossen zu haben glaubte, konnten ihr weder Gift noch Schlangenkorb noch Prunkbett mit tückischer Spieß-Einlage etwas anhaben (falls nicht Sympathisanten am Hof die Anschläge empirisch vereitelten). Nach Ratan Singhs Ermordung bestieg Wikramadschit den Thron, der gleichfalls die artfremd wandelnde Familienschande töten lassen wollte, nur fand sich kein Ausführorgan, für den Fall, daß sie als eine echte Heilige zu gelten hatte. Der Machthaber nötigte sie, sich zu ertränken, sie aber konnte fliehen. Mirabai litt eigentlich an ganz anderem. Denn ihr Göttergemahl, kaum daß er sie entzündet und unendlich beglückt hatte – so kurz nach der bombastischen Hochzeit –, kehrte nicht mehr zu ihr zurück, rätselhafterweise. Sie lief durch Wälder und fand sein Antlitz nicht wieder. Ohne ihn fühlte sie sich klein, hohl, tot. Lebendigkeit fuhr nur dann in sie, wenn er mitspielte. Schlaflos quälte sie sich. Mondlicht tröstete sie nicht mehr. Einmal glaubte sie die Flöte Krischnas zu hören, da schwanden ihr vor Wollust die Sinne. Kanha (Dunkler), Gopala (Kuhhirt), Govinda (Herr der Kuhherde), Manamohana (Herzbetörer), Dinanatha (Helfer der Armen)‚ Madhava (Nachfahr Manhus), Sa’nvara (Dunkelblauer)‚ Schyama (Dunkler, Zaubernder, schwarze Schlange): die Unzahl von Krischnas klangschönen Namen, Bei- und Kosenamen flatterte polyphon, also fast polytheistisch farbenprächtig um den monoton, ja monotheistisch umkreisten einzigen Lichtpunkt Krischna. Mirabai rühmte seine krokodilförmigen Ohrgehänge und dreifache Körperbiegung und bot ihm, innerhalb ihrer Lieder, ihr Kopfhaar als Thron, so als wäre der kosmosumspannend ausdehnbare Hari (Löwe) oder Murari (Dämonenbezwinger), ihr Abgott und Gott, ein kleiner nestbauender Dämon. Krischna, unrührbar, quittierte selbst ihre schönsten Locklieder mit Abwesenheit. Was Metatari (die aus Merata Stammende, Beiname Mirabais) ihm auch opferte, selbst Großes: es blieb insgesamt wenig, kaum was, ach ja: nichts. Für seine Rückkehr zu ihr schmückte sie ihre Bettstatt mit Blumengirlanden. Dergleichen konnte Krischna offenbar nicht locken. Hilfeschreie ertrinkender Elefanten erhörte der Gott durchaus, nicht aber Mirabais hinausgesungenen Sehnsuchtsschreie. Ein Elefant rief nur die erste Silbe von Krischnas Namen, schon wurden ihm x künftige Einleibungen erspart; selbst einen stummen Stein rettete Krischna aus dem Wellenspiel der Welt; Mirabai hauchte und rief alle Namen Krischnas hundertmal täglich und wurde dauerhaft darbend im Vorhof und Regen abgestellt. Flaschenpost an Krischna gab sie einem Raben mit. Mirabai wollte einen Bhakti-Guru um Rat fragen, bekam aber keine Audienz gewährt, mit der Grundangabe, sie sei bloß ein Weib. Da ließ sie ihm ausrichten, er sei selber eine Frau, neben Krischna; denn der Unterschied zwischen Gott und Mensch sei unendlich größer als der zwischen Mann und Weib. Da errötete der Guru und empfing sie geläutert, konnte ihr aber auch nicht weiterhelfen und ihr Leid nicht verkleinern. Sie zählte gepeinigt die Tage und Wochen von Krischnas Schweigen. Sie zappelte als Fisch ohne Wasser. Sie deutete die göttliche Reaktionslosigkeit als Strafe oder Schuld. Um Schlaflosigkeit zu vertreiben, zählte sie Sterne. Als ihr ein Sterndeuter die Rück- oder Ankunft ihres lang entbehrten Gemahls ankündigte, schwelgte sie sofort in strömendem Glück, als käm er tatsächlich, und schon schien er zu kommen; also kam er – nein, doch nicht. Er kam nicht. Sie forderte Krischna verzweifelt auf, ihr ihre Vergehen zu nennen – und der Gott nannte keine. Der Gott blieb stumm. Krischna ließ sich nicht erweichen. Krischna zeigte kalte Schultern, oder nicht einmal solche. Sie rief »Verlaß mich nicht!«, ohne daß vorher der Gott überhaupt plausibel anreiste. 840000 Daseinsformen hatte sie durchlaufen müssen, ehe sie als Mensch geboren werden konnte – wofür? Sie verzehrte sich vergeblich, sie verblich; Ärzte diagnostizierten Gelbsucht. Sie hielt ihrem verschwundenen Gatten Standpauken: »Auf meine Brandwunde hast Du Salz gestreut! Deine Säge hast Du durch mein Herz geführt!« Sie versuchte, durch Hungerstreik seine Aufmerksamkeit zu erringen. (Derwisch Nuri drohte Allah, sich zu ertränken, wenn der ihm keinen Angelerfolg bescheren würde.) Krischna aber ließ sich moralisch nicht unter Druck setzen. Krischna blieb subjektiv derart weit von Mirabai entfernt, als seien ihm die Welt und sie egal. Ohne Krischna weiterzuleben, kam subjektiv für Mirabai nicht in Frage, und mit Krischna zu leben, objektiv erst recht nicht. Sobald der Visionärin die Vision ausblieb oder sobald Realismus übergewichtig wurde, litt sie Trennungsschmerzen. Ihre Lieder klangen, als wär er mal bei ihr gewesen, nur halt jetzt, zur Zeit, leider nicht mehr; einmal aber gab sie zu, daß sie eigentlich noch nie wirklich eine Begegnung mit ihm erlebte; nur ein einziges Mal sei er kurz in ihren Innenhof gekommen, und diesen Moment aber hatte sie schmachvoll verpaßt und verschlafen, getreu dem alten Sufileiden, in seiner klassischen Formulierung: »Wenn Gott da ist, bin ich nicht da; und wenn ich da bin, ist Gott nicht da.« Göttliche Phantomschmerzen, die fieser peinigten als echte, reelle Profanschmerzen, trimmten und weihten Mirabai zur Dichterin. »Erst verspricht der süße Lügner alles, später weiß er davon nichts mehr!« Sie rief: »Verlaß mich nicht«, ohne daß der polygame Gott vorher überhaupt plausibel anreiste. Hatte der polygame Gott eine andere!? Als ihr Irrtum nicht mehr mit sich selbst übereinstimmte, sah ihr das wie Lüge aus. Krischna vergaß Mirabai nicht nur; er log gar nicht erst. Ausdauernd goß die unverdient Verschmähte ihr gleichbleibendes Leid in Hunderte kaum unterscheidbarer Anläufe zu metrisch strengen, literaturhistorisch vom Bhakti-Mystiker Kabir beeinflußten Liedern. Oder wartete Mirabai nur auf einen irdischen Liebhaber und belegte ihn mit göttlichen Namen? Einmal glaubte sie einem fahrenden Musiker anzumerken, daß in ihm Krischna stecke, und lief ihm nach, um das näher zu überprüfen. Nur selten tönte ein Pfau, ein Frosch, ein Papiha (Kuckuck) oder Kocila (eine andere Kuckucksart) herein in den Zirkel ihres Lebensinhalts: Warten auf Krischna. Selbst ihr inzwischen ergrautes Haar schob sie auf Krischnas dauerhaft hartherzig rätselhafte Entferntheit. Oder wollte...


Ulrich Holbein, geb. 1953 in Erfurt, wohnt in Hessen, als Autor von etwa 999 Pub-likationen in FAZ, FR, SZ, ZEIT,WDR, SWF u.v.a. und 24 Büchern, darunter ein Lexikon heiliger Narren, mit vielen Querbezügen zu persisch-arabischen Mystikern. Ulrich Holbein wird 2012 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet.



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