Jean Paul und Goethe: Ein untendenziöses Doppelporträt
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-942989-47-3
Verlag: Haffmans & Tolkemitt
Format: EPUB
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Ulrich Holbein (1953 in Erfurt) lebt im nordhessischen Knüllgebirge. Bekannt wurde er u.a. durch seine Kolumnen und Artikel in der ZEIT, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung. Er ist Autor von 950 Publikationen, davon 24 in Buchform. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Kasseler Literaturpreis. Im Haffmans Verlag erschien 2007 sein Buch Weltverschönerung.
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PEGASUS UND MUSENKUSS Goethes Geburt Um Christi Geburt wohnten auf Erden 200 Mill. Menschen – weniger als die Hälfte heutiger Harry-Potter-Käufer (450 Mill.). Von dazumal schriftstellerisch tätigen Köpfen haben sich bloß abzählbare Namen erhalten: Ovidius, Livius, Plinius, Wang Tschung, Horaz, Phädrus, Seneca, Strabo, Dioskurides, Nikolaus von Damaskus, Celsus. 1500 Jahre später boomte so einiges gewaltig vor sich hin: Hans Sachs verfaßte 208 Schauspiele, 1558 Schwänke und Fabeln sowie 4275 Meistergesänge für rund 11 Mill. potenzielle Leser – mehr Deutsche gab’s nicht, und 1648 n. Chr. hatten sie sich dann auf 4 Mill. reduziert. 1766 schrieben und wirkten in deutschen Landen, in denen inzwischen 20 Mill. Deutsche wohnten, 2900 aufzählbare Autoren. 1776 hatte die schriftstellernde Zunft sich auf 4300 registrierte Seelen und Köpfe erhöht, 1788 auf 6200, 1795 auf 8000. Goethe hierzu: »Die Menge der Dichter ist es, die die Dichtung herunterbringt in Ansehen und Wirkung.« 1806 schrieben und wirkten für 21 Millionen potenzielle Leser 11 000 Schriftsteller in Deutschland, unter sehr vielen anderen A. F. E. Langbein, Garlieb Merkel, Karl Spazier (Jean Pauls Schwager), Amandus Gottfried Adolf Müllner, Schiller, Goethe und Jean Paul. Zweiundachtzig Jahre bevor Goethe, jeder Zoll ein Dichterfürst, sitzend zur Rechten und Linken Vergils und Ariostos, in herrlicher Reihe Cervantes und Hafiz (dem größten Dichter aus Persien) und Rumi (dem gleichfalls größten persischen Dichterfürst) und Rembrandt und Mozart und Kant, dann doch noch hienieden von hinnen und von uns ging, uns allein und nur mäßig getröstet zurückließ im ungenügenden Dasein und Diesseits, bevor die Stunde sogar ihm schlug und sein hoher Geist entfloh, des Höchsten Ruf und Posaune folgte, ausgerechnet scheinbar der christlichen, bevor kalt, starr und strahlenleer sein Auge in die irdische Fürstengruft einwanderte, nachdem er schnell noch »Mehr Licht!« gefordert hatte, ward ein Kind uns geboren, ein kleiner Wolfgang, unter unsagbar günstigem Planetenstand: Sonne, Jupiter und Venus bildeten eine freundliche Einheit, bei neutralem Merkur, Saturn und Mars – und Luna als Hemmschuh der bedeutsamen Geburt, meilenfern von Ochs und Esel. Doch es waren Engel in derselben Gegend, Schutzgeister, gnädige Götter und alle neun lorbeerbekränzte Musen, die dieses erlauchte Milchkind schon vor der Geburt gar so sehr liebten – anstelle von Mutterbusen und Nuckelflasche nahte dem Gottesgeschenk alsogleich Schreibertafel, Füllhorn, Erntedankäpfel und Federkiel, die Gabe des Liedsangs, vom Himmel geträufelt, Melpomene, die Muse des Trauerspiels, und Thalia, die Muse des Schauspiels und Lustspiels, noch lang nicht zu verwechseln mit heutiger Bücherhauskette, hielten die lachende Maske, die weinende Larve; Euterpe, Terpsikore mit siebensaitiger, Erato, die Muse zärtlicher Gesangskunst zu neunsaitiger Lyra, in summa: Mummenschanz, hochgünstig, hufscharrender Pegasus mit Prachtfittich, allerlei Amorettengeflügel mit Stummelschwingen, die zu artigem Flugversuch kaum wohl taugen, Sylphen, Heroinen, quasi bereits Brünhilden, Isis multimammia mit Hirschbock und Einhorn, dezent beiseite Minerva, Pallas Athene, die Staatenbeschirmerin, umsichtig gewaffnet, edles Damwild im Background, talentvoll lasiert. Phöbus, der pythische Siegertypus, löste die Augen ihm, dem Glückskind, Hermes die Rosenlippen, und Zeus höchstselber preßte das Siegel der Vollmacht ihm auf die gewölbteste Stirn, auf des Knaben lockige Unschuld, falls das Grünzeug neidischen Vorschußlorbeers Raum für den göttlichen Stempel ließ. Keine gemeine Stirn tat des Ruhmes heil’ge Siegerkränze entweihen, lang bevor noch das Kampfspiel überhaupt anhub. Nirgendwo glitzerten kritische Fäden der Parzen – nirgends ein Binsenkörblein unsich’rer Zukunft – keinerlei rivalisierender Pollux kroch aus gelblichem Nachbar-Dotter befruchteter Leda. Nirgendwo im hermetischen Sphäroid ikonographischen Auflaufs ein chinesischer Grinsbart. Sesam öffne dich – flieg auf, schön gewebter Vorhang, über spätsommerlicher Weihnachtskrippe, als wär’s eine Kasperlebühne, zentral im theatralischen Balustraden-Aufbau, drüber eine Taube des Friedens, ein junger raubender Vogel, ein Adler eher des Ganymed, mit deutlichem Drall gen Bundesadler, noch lang nicht Pleitegeier. Und es weheten die Banner à la Kreuzzug und Wartburg, die Luft bedeutsam geschwängert vom Großen und Ganzen, manch Schmuckelement im schnuckelig Kleinen und liebliches Blumengesteck-Deco, überwölbend die heiterste von allen Szenen, mit Bilderbuchsternen aus Fixsterntaler und Mondglanz. Glücklicher Säugling! Dir ist ein unendlicher Raum noch die Wiege – werde Mann, und eng wird die unendliche Welt dir! Jean Pauls Fötusideale Wie anders, ganz anders, kam vierzehn Jahre später Jean Paul auf die Erde, vergleichsweise tatsächlich im Kuhstall, im Schuldturm kärglichen Schulheims, bei Bier und Brot und beknabbertem Hungertuch. Kein Glockenklang, kein Dromettenschall, keinerlei huldigende Genien und überschmückte Musen mit Lyra, nur ein kleineres Kinderbett in verwinkelter Stube, umlauert von kleinen scharfen Gespenstern aus Fiebernächten, die mit klebrigen kalten Krötenfüßen an der warmen Seele heraufkro-chen: »Wir quälen dich allemal!« Aber der neue Erdenbürger, der nur unlackiertes, unaufgemöbeltes Arsenal, Requisitenmagazin, Kulissenbau aus Vorzeichen, null Göttin des Schlachtfelds und wenig wehende Banner vorfand im Umkreis (auch nachträglich hat’s keiner ihm pinselnd geliefert), war von ganz anderswo herab- und heruntergestiegen, aus Untiefen, Weiträumigkeiten und Unendlichkeiten – zumindest kam’s hinterher ihm dann so vor. Als es ihm gutging und Existieren noch nicht so fatal wurd, und den Königsschuß er abgedrückt hat in Richtung Dasein und Hiersein, in aller fötalen Einkapselung, falls Bewußtsein dabeigewesen wär, er sich eher ein Riesendasein vorgestellt hätt als kosmosfüllender voltairischer Mikromegas, dann aber nichts weiter wurde als ein Mensch, kam er halt – zum Teufel! – leider bloß auf diese Welt und mußte schulterzuckend hinzufügen: »und zwar auf die jetzige hiesige«, so als hätten noch eine Unmenge anderer, besserer und weiträumigerer Universen und Zeitabschnitte vorher zur Verfügung gestanden. Die Pfütze irdischen Lebens nahm er auf leichteste Schultern, ohne begrenzt und untief vorbeizuträllern an der Schwere lästigen Daseins hienieden. Neben Augustinus’ eingedunkelter Civitas Dei, dem Stadtstaat Gottes, roch jeder anständige Erdenglobus nur wie eine kleine eingelagerte Schweinerei, ein Hundsfottgäßchen, nie ganz frei von entschiedenen Nichtswürdigkeiten. Dies verrückte Grund- und Lebensgefühl durft’ er lange noch nicht, mangels damaligem irdischen Forschungsstand und Informationsbasis, beim späteren Namen »Gnosis« nennen. Aber unverkennbar beschrieb er hinterher als Inkognito-Gnostiker, wie er nach dem Bankrott der Geisterwelt ätherisch auf einem Kometen gelebt, Urideen und Opuscula quasi omnia ausgespendet habe: himmlischen Output, den er später als Mensch, der sein Zurweltkommen Huckepack trug, sich hat ausschnittsweise und kleckerweise abmelken können – uneingegrenzte Quisquilien, noch von keiner irdischen Einseitigkeit zusammengeschoben und kanalisiert, hineingebogen ausgerechnet er in die Pönitenzpfarre eines schrecklich beengenden Universums, vorher aber ganz unbeschränkt, in keine bestimmte Stilrichtung eingezwängt und herzlich geneigt, seine Seele auf riesigstem Breitwandfresko durch alle Zeiten und Völker wandern zu lassen, alle Nationen, Charaktere und Physiognomien simultan durchzukosten und auszufüllen. Aber statt dann eine solche mensch-heitstranszendierende Weltchronik abzufassen und einzupassen ins eingequetschte Leben, ward er bloß hineingeboren, oder ums existenzieller zu sagen: geworfen, in einfachste Verhältnisse, ins ungemachte Bett, arg kurzgehalten. Und dann durfte er halt, statt als Erdgeist oder Weltgeist die ganze Welt zu umschweifen, einige Idyllen, Satiren, Romane verfassen, an Fingern abzählbar, hierbei bloß ein großer Dichter sein, einer von vielen, umstanden, umzingelt von großen Denkern, Entdeckern, Helden, Heiligen, die man aber alle in seinem Refugium nicht ebenfalls sein konnte, stets nur ein Einziger davon, ein kleiner Gott auf Erdenbesuch, geviertelt zum Halbgott, Übermenschen, Buchverfasser, Legationsrat. Welch Hohn, als eigentlich orientalischer, asiatischer, lunatischer oder astraler und gnostischer Exot und Mondmann, über der Mütze eigentlich nur die Sterne, ausgerechnet Oberfränkisch sprechen zu müssen, hausbacken im Zeitkostüm herumstiefeln zu sollen, als Kind einer bestimmbaren Kulturepoche! Aber immerhin, ein Gott gab auch ihm, all diese Chose ungefähr so oder ähnlich...