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E-Book

E-Book, Deutsch, 218 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 210 mm

Hoff Welt verloren

Kriminalroman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-429-06578-2
Verlag: Echter
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 218 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 210 mm

ISBN: 978-3-429-06578-2
Verlag: Echter
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der alte Priester Jacob Beerwein lebt nach seiner Pensionierung wieder in seinem Heimatdorf am Niederrhein, in unmittelbarer Nachbarschaft zu seinem Freund Melchior. Ihr zurückgezogenes, ruhiges Leben gerät in Turbulenzen, als der ehemalige Schulkamerad Raven ermordet wird. Sein Tod wirft Fragen auf, die bis weit in ihre gemeinsame Schulzeit zurückführen. Und es bleibt nicht bei diesem einen Toten. Weitere Menschen aus Ravens Umfeld sterben. Gibt es eine Verbindung zwischen den Opfern?
Mit der Aufklärung des Mordes geht nicht nur die gemeinsame Welt von Jacob und Melchior verloren, sondern auch Jacob selbst – und mit ihm sein Glaube an einen Gott, der so etwas wie Gerechtigkeit verbürgt.

? Nachdenklicher Krimi über die Schuld eines Priesters

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5
Jacob sitzt vor dem Ei. Eine Kerze brennt, der Kaffee hilft schon beim ersten Schluck. Gegenüber scheint Melchior aufzuwachen. Er hat Licht gemacht. Hinter den Gardinen bewegt sich ein Schatten. Nach so vielen Jahren haben sich die beiden Freunde wieder auf Sichtweite angenähert. Mit einem Priester hatte Melchior eigentlich nichts zu tun haben wollen. Er hatte es Jacob vor der Weihe geschrieben, in seiner schräg gestellten Handschrift. Lauter Hieroglyphen. Jacob hatte darin den letzten Versuch des Freundes gesehen, ihn vor einem Unglück zu bewahren. Ausgerechnet Melchior. Der selber allein lebt, ein Leben lang. Der die Toten verwaltet. „Er knöttert sich durch sein Leben“, hatte der Vater einmal bemerkt. Das war liebevoll gemeint. Melchior und der alte Beerwein hatten sich ausnehmend gut verstanden. Sie ersetzten einander etwas, das Jacob ahnte, aber beide nie aussprachen. Neunundzwanzig Jahre hatten diese beiden Eigenbrötler auf Nahsicht gewohnt, der Vater in der alten Küsterei, die seit seinem Tod leer stand. Baufällig wie das ganze Dorf. Jacob hatte deshalb das Pastorat beziehen müssen, als er zurückkehrte. Aber auch wenn das Haus seiner Kindheit allmählich verfiel, genoss er die bloße Nähe des Gebäudes. Erinnerungen zogen durch die Räume. Der Schnee fasste sie ein, wie zum Schutz gegen den unvermeidlichen Abriss. Jacob liebte die Ruhe, die von diesem Ort ausging. Der Vater hatte sie wie ein Erbstück hinterlassen. In den Sommerferien kam Jacob regelmäßig zu Besuch. Er übernahm die Vertretung für den immer gebrechlicheren Pfarrer Loosen, der den Gott der Psalmen mit Münsterländer Wacholder beschwichtigte. „Hopfen und Malz, Gott erhalt’s!“, hatte er gebetet, bis zum Schluss, den die Angst in ihm machte. Sie hatte mehr als nur ein Organ befallen. Keine Kur konnte den Mann retten. Vater und Sohn teilten, was der alte Loosen hinterließ: den Raum, wenn sonst niemand kommt. An Werktagen hatten die beiden Beerweins die Kirche oft für sich. Feierten Gottesdienste zu zweit, allein mit dem Gott, der sich nicht vertreiben lassen wollte. Kein Bagger kam ihm zu nahe. Jacob hatte gehofft, dass er auch in seinem Ruhestand Zeit mit dem Vater verbringen könnte. Seit er begonnen hatte, Worte mit Dingen zu verwechseln, ahnte er, dass er nicht viel Zeit brauchen würde. Aber man darf Gott nicht überfordern, dachte Jacob, im Nachhinein. Der Vater ist vor zwei Jahren gestorben, mit 94. Ein Gedanke war in ihm eingeschlafen, so hatte er ausgesehen, als man ihn fand. Sagte Melchior. Jacob feierte die Exequien. Geleitete den Vater in seinem schlichten Sarg dahin, wo er es sich ausgesucht hatte. Den Blick in das offene Grab vermied der Sohn. Irgendwo dort lag die Mutter. Jacob hatte sie erwähnt, in den Sätzen, aus denen er ein Leben machte, das es nie ohne den Vater gab. M hatte in der letzten Kirchenbank wie die Aufsicht über das gesessen, was sich vorne am Altar vollzog. Dieser Freitag bestand aus schwarzer Masse, aus unnachgiebiger Einsamkeit, wie sie Jacob seit dem Tod der Mutter nicht empfunden hatte. Die Sakristei roch noch nach dem Vater, seinem strengen Rasierwasser, und die Kasel, die Jacob überstreifte, hatte ihm der Vater zuletzt gereicht. Es war das letzte Mal gewesen, dass Jacob die Kirche so voll gesehen hatte. Die Dornbuscher hatten es sich nicht nehmen lassen, ihrem jahrzehntelangen Küster und Organisten das letzte Geleit zu geben. Jacob mochte den Ausdruck, er ließ niemand allein. Er sah in Gesichter und spürte eine tiefe Dankbarkeit, dass sie den alten Mann nicht allein ziehen ließen. Das hätte dem Vater gefallen. „Ist ja wenigstens einmal zu was nutze, was Du so treibst.“ Zischte Melchior, nachher, bei einem Schnaps, der nichts wärmer machte. Trotzdem versuchte der Freund, traurig zu lächeln. „Der alte Mann wird mir fehlen.“ Mehr Anerkennung ging nicht. Melchior stopfte seine Pfeife mit dem Kraut, das Bauer Sackes für ihn anbaute. Oder in Holland für ihn besorgte. So roch es jedenfalls, und so wirkte es. Davon profitierte auch Jacob, wenn sie an manchen Abenden lange genug beieinander saßen. Seit einem Jahr spielten sie ihre Studienzeit nach, die Bonner Jahre, in denen sie sich eine Wohnung in Poppelsdorf geteilt hatten. Gleich nach dem Abitur hatten sie ihre WG bezogen und ausgiebig studiert. Jacob hatte mehrere Anläufe benötigt, um herauszufinden, was er beruflich machen wollte. Am Ende wurde er Priester. Katholischer Priester. Er hatte es Melchior wie in einer Beichte gestanden, da war schon alles mit dem Regens abgesprochen. „Klemmst Du Dir jetzt was ab?“ Eine berechtigte Frage, hatte Jacob gedacht. Nur dass es ihm nicht so viel ausmachte wie dem Freund. „Noch ein klerikaler Untersetzer mehr? Was willst Du werden? Papst? Das ist doch der Einzige in diesem Laden, der was ändern kann.“ Damals glaubte Melchior an die Weltrevolution, wenigstens ein bisschen. Was ihn um Nuancen von Jacob unterschied. Der hatte sich alles genau überlegt. Mit Gott. Und mit seiner Dissertation. Jacob wollte über den Doctor Bareisl arbeiten, diesen niederrheinischen Landsmann, der mitten im Dreißigjährigen Krieg einen erstaunlich modernen Traktat über das Reich Gottes verfasst hatte. Die Macht der Mächtigen solle mit der Freiheit ihrer Untertanen wachsen. Participatio in potentia creantis Dei. Und manches mehr. Kasper Bareisl hatte ein aufregendes Leben als Jurist im Dienst seiner Kirche geführt. Er stand unmittelbar vor einer Reise, die ihn in bislang nicht erforschter Mission ins Heilige Land führen sollte, als er von einer Truppe versprengter Kaiserlicher niedergeritten wurde. Er hatte im Weg gestanden. „So geht es dahin“, hatte Melchior gemeint oder vielmehr gebissen. „In der Geschichte geht es nur um Widerstand. Konkreten Widerstand.“ „Ich will eigentlich seine Biografie schreiben.“ „Du verstehst gar nichts.“ Jacob verstand tatsächlich nicht. Obwohl er vor der Wut seines Freundes einen gewissen Respekt empfand, schon weil sie ihm selbst fremd war. Er hätte sich gerne begeistern lassen. Aber so stand er nicht einmal zu seinem Gott, der eine unaufdringliche Existenz in ihm führte. „Als Nächstes lädst Du mich zum Häuserkampf ein, was?“ Darüber konnte Melchior nicht lachen. „Ich meine es ernst.“ „Bei einem erlesenen Glas Wein.“ „Arschloch!“ „Sag ich ja.“ Melchior kochte seine politische Generalwut jeden Tag frisch auf. Manchmal befürchtete Jacob damals, er könne den Freund an die RAF verlieren. Wie im Untergrund lebte er schon lange. Aber ein Vollzugsorgan des bewaffneten Widerstands? Dafür blieb M wahrscheinlich zu sehr der Anarchist, der er schon in der Schule gewesen war. „Und was willst Du konkret unternehmen? Mit aufgepflanzter Pfeife den Klassenfeind im Kuhdung ersticken, den Du rauchst?“ „Immer noch Arschloch!“ Aber Melchior musste grinsen. Die Wahrheit kennt keine Ironie, fiel Jacob ein. M wäre eindeutig besser zum Priester geeignet, dachte er, gar nicht spöttisch. Der Freund packte seine Pfeife aus und stopfte nach. „Hmm. Riecht tatsächlich nach frischer Landwirtschaft. Aber entspannt enorm.“ „Bei einer Revolution der Entspannung stell ich mir tatsächlich eine Hauptrolle für Dich vor.“ „Schnauze. Das ist dialektischer Materialismus.“ Melchior versuchte weiter vergeblich, seine Pfeife anzuzünden. Das letzte Streichholz gab nicht mehr als ein klägliches Zischen ab. „Schöner Brandstifter!“ „Das hat Deine Kirche besser drauf.“ „Uns fehlt inzwischen die Routine.“ „Und mir der Nimbus.“ „Stimmt. Terror im Rollstuhl klingt nicht nach Schlagzeile. In dem Beruf findet man auch selten Gelegenheit, Konzerte zu besuchen.“ Das Argument hatte M überzeugt. Melchior war während des Studiums mit seinem Rollstuhl durch halb Europa gereist, um erst irgendwelche Punk-Bands zu bestaunen und sich dann den dunklen Weihen von The Cure hinzugeben. Jacob verstand davon nichts. Nur beim Fußball trafen sich ihre Interessen. Melchior war früher einmal ein begabter Stürmer gewesen. Als Kind. Das Nervengift des Unfalls verteilt sich immer noch in Jacobs Blutbahn. Es lähmt ihn, sobald er an das Leben denkt, das der Freund hätte führen können. M winkt das zornig ab. Jacob beschleicht manchmal der Verdacht, dass nichts anders gewesen wäre. Dass M genauso gelebt hätte: zornig, zurückgezogen, abgeschnitten. Und dass er es selbst weiß. Was nichts leichter macht. Früher fiel Melchior alles leicht, nicht nur, wenn er mit einem Ball Dinge...


Gregor Maria Hoff ist Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie an der Paris-Lodron-Universität Salzburg und freier Autor für die Wochenzeitung „DIE ZEIT“.



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