E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Hofacker Die 70er
Originalausgabe 2020
ISBN: 978-3-15-961660-5
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Sound eines Jahrzehnts
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-15-961660-5
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ernst Hofacker, geb. 1957, gehört zu den profiliertesten Musikjournalisten des Landes; 2013 wurde er als 'Fachjournalist des Jahres' ausgezeichnet. Bei Reclam erschienen zuletzt: 1967. Als Pop unsere Welt für immer veränderte (2016), Rolling Stones. 100 Seiten (2018) und 'Live fast, love hard and die young!': Tragische Geschichten aus Rock und Pop (2019).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Titel;2
2;Impressum;3
3;Inhaltsverzeichnis;4
4;Intro: Über wilde Wasser;9
4.1;Gesellschaft und Politik;11
4.2;Pop und Gegenkultur;15
4.3;Musik und Konsumkultur;19
4.4;Der verkürzte Mythos;24
4.5;Geschichten und Geschichte;28
5;4. Mai 1970: »Verdammt, die haben einen umgebracht!«;32
5.1;»Eine Nation im Krieg mit sich selbst«;36
5.2;Stadtschreier der Gegenkultur;39
5.3;»Trau keinem über dreißig!«;44
5.4;Die kalifornischen Beatles;46
5.5;Barhocker und Hippiegarderobe;49
5.6;Der Höhenflug der Kokain-Cowboys;56
5.7;Troubadoure erobern die Charts;61
5.8;Eine alte Seele;67
5.9;Die Stadt der Engel;73
5.10;Pop 70;75
6;5. März 1971: Pinkelpause in Ulster Hall;81
6.1;Gestern und Heute: Stones vs. Led Zeppelin;85
6.2;Artiger Applaus;91
6.3;Neue Galaxien;95
6.4;Ein visionärer Fehlschlag;98
6.5;Musik und Elektronik;106
6.6;Die Geburt des Metal;110
6.7;Prog erobert die Charts;114
6.8;Musik und Medien;118
6.9;Rock wird respektabel;124
6.10;Pop 71;128
7;16. Juli 1972: Drei Musketiere an der Themse;133
7.1;Mit Schminktopf und Satinsakko;139
7.2;David wird Bowie;144
7.3;Puppentheater in London;150
7.4;Aufsteiger, Absteiger und eine Hitfabrik;156
7.5;Das Vermächtnis der Glam-Jahre;166
7.6;Pop 72;169
8;10. Oktober 1973: Apparatur und Tanz;174
8.1;Ein obskures Kästchen;178
8.2;Mit Kinderlied zum Welthit;182
8.3;Von Kleingärtnern und Kosmischen Kurieren;187
8.4;Der Mann aus Gronau;195
8.5;Blues und Rock im Arbeiter- und Bauernstaat;201
8.6;Wir sind die Roboter;209
8.7;Der Gegenschlag(er);220
8.8;Pop 73;224
9;14. September 1974: Wer erschoss den Sheriff?;230
9.1;Die Geburt des Ska;232
9.2;Eine Coverversion mit Folgen;239
9.3;Bob Marleys Aufstieg;244
9.4;Two-Tone und Trilby an der Themse;252
9.5;Der Edle Wilde;256
9.6;Der jamaikanische Faktor;262
9.7;Pop 74;265
10;Interlude: Mitten auf der Straße;270
10.1;West Side Story & Rock ’n’ Roll;272
10.2;Große Oper;274
10.3;Der Rest der Geschichte ...;276
10.4;Eine schwere Geburt;283
10.5;Von Down Under in den Pop-Olymp;291
10.6;Entertainer, Prediger & Kunsthandwerker;299
11;17. Mai 1975: Von Predigern und Amazonen;306
11.1;Der Bob Dylan des Soul;311
11.2;Das Epizentrum der Black Music;318
11.3;Die Superamazone;322
11.4;Black Power zwischen Markt und Macht;332
11.5;Dance to the Music;335
11.6;Die singende Schokotorte;338
11.7;Veteranen mit Zukunft;343
11.8;Liebe, Frieden und Soul;350
11.9;Pop 75;352
12;4. Juni 1976: Brandstifter in der Free Trade Hall;358
12.1;Die Titanic sinkt;363
12.2;Eine Bewegung formiert sich;367
12.3;Eine Höhle in der Bowery;371
12.4;Blond und Schwarz;378
12.5;Der große Aufbruch;392
12.6;Der große Schwindel;396
12.7;Flirt mit dem Faschismus;399
12.8;Pop 76;407
13;26. April 1977: Ein Schimmel im Freudenhaus;413
13.1;Formeln für die Samstagnacht;417
13.2;Der Sündenpfuhl;423
13.3;Eine Kultur entsteht;429
13.4;Made in Germany;434
13.5;Das skandinavische Gen;441
13.6;Das Ende von Gomorrha;448
13.7;Pop 77;451
14;1. Juli 1978: Die in den Pausen tanzen;456
14.1;Die Gründerväter;460
14.2;Punk aus der Bronx;466
14.3;Musik ohne Musiker;472
14.4;Miss Robinsons Geistesblitz;476
14.5;Die Seele des Rap;481
14.6;Ein überraschender Schulterschluss;488
14.7;Pop 78;494
15;9. August 1979: Eine Frau zeigt es allen;499
15.1;Die Wende;505
15.2;Die Rohrkrepierer-AG;512
15.3;Neue Stile für die Zukunft;520
15.4;Königreich in der Krise;525
15.5;Frische Berliner Luft;530
15.6;Die Achtziger können kommen;538
15.7;Pop 79;541
16;Outro;545
17;Abbildungsnachweis;546
18;Dank;547
19;Zum Autor;548
20;Register;549
21;Über dieses Buch;1706
22;Hinweise zur E-Book-Ausgabe;1707
Musik und Konsumkultur
Die musikalische Geschichte dieses Jahrzehnts ist die von Helden und Opfern, von Dramen und Triumphen. Genauso aber ist sie auch die Geschichte von Mittelmaß und Langeweile. Nehmen wir das Jahr 1976: Jeder Chronist wird als bedeutendste Entwicklung des Jahres die Konstituierung des internationalen Punk-Movements betrachten, die ersten Konzerte der Sex Pistols, die Gründung wichtiger Bands wie The Clash und den Aufbruch junger Künstler in New Yorker Clubs wie dem CBGB. All dies sorgte schließlich dafür, dass in der Popkultur danach nichts mehr war wie zuvor.
Wahrgenommen wurde diese künstlerische Revolution zu diesem Zeitpunkt aber höchstens in Undergroundzirkeln. Der Mainstream, der das Bild von Millionen Fans prägte, blieb davon unberührt. In der Bundesrepublik hießen die Hits des Jahres 1976 »Let Your Love Flow« von den Bellamy Brothers, »Ein Bett im Kornfeld« von Jürgen Drews, »Dancing Queen« von ABBA und »Daddy Cool« von Boney M. Vom Mai bis zur Weihnachtswoche, also über den Zeitraum von mehr als einem halben Jahr (!), wechselten sich diese vier Platten an der Spitze der Hitliste ab. Lediglich ein gewisser David Dundas konnte diese Dominanz mit seinem einzigen Hit »Jeans On« (der quasi aus Versehen zum Hit geworden war, handelte es sich doch um einen Song, der ursprünglich als Werbejingle komponiert worden war) für eine mickrige Woche unterbrechen. Die Sex Pistols und sonstige Helden des aufziehenden Punk-Gewitters hörte 1976 jedenfalls noch kein Mensch, weder in der Bundesrepublik noch in England. Impulse, die an den Rändern der Popkultur und in deren Underground entstehen, brauchen ihre Zeit, bis sie die Oberfläche beziehungsweise den Mainstream erreicht haben. Punk erzeugte beispielsweise in der Bundesrepublik frühestens 1977/78 erste Resonanz in den Medien und fand erst danach nennenswerte Aufmerksamkeit auch bei einem breiteren Publikum: Die erste Band aus dem Punk-Umfeld, die es in die deutsche Singles-Top-Ten schaffte, war im Mai 1978 Blondie mit »Denis«.
Und auch der Blick in die Charts zeigt nur die halbe Wahrheit. Denn abgebildet wird in den Hitlisten nur die aktuell produzierte Musik, die sich auf Tonträgern am besten verkauft, und nicht die Musik, die bereits in den Haushalten und den Senderarchiven vorhanden ist. Unberücksichtigt bleibt in einer Hitstatistik zudem, was bei Tanzveranstaltungen, Schützenfesten, in Bierzelten und bei Geburtstagsfeiern gespielt wird und den Alltag der Menschen vermutlich nachhaltiger prägt als kurzlebige Hits. Als Schlaghosen und Koteletten angesagt waren und der VW-Käfer das Straßenbild beherrschte, drehten sich auf den Plattenspielern eben auch James Last, die Donkosaken und Willy Schneider. Black Sabbath, Bob Marley und Pink Floyd natürlich auch, aber nur in Teenagerzimmern.
Jugendliche und junge Erwachsene entwickelten ihre eigene musikalische Konsumkultur, denn für sie war Pop nicht nur wichtig, sondern, wie es Kurt Kister einmal in der formulierte, »lebenswichtig«. Ihren Platten und Helden räumten sie im Wortsinne mehr Platz in ihrem Leben ein, als dies im heutigen Zeitalter des Streamings der Fall ist: Langspielplatten erforderten Lagerraum, also mindestens ein Regalbrett, zumindest solange man nur ein Dutzend davon besaß. Sammler dagegen benötigten ganze Regale. Eine Schallplatte konnte dem Besitzer ans Herz wachsen, weil sie nach x-maligem Abspielen verkratzt war und knisterte oder weil das besonders schöne Cover an den Rändern schon ein wenig angefleddert war, da es so oft ins Regal gequetscht und wieder herausgezogen worden war. Zum Abspielen war zudem eine mitunter teure Musikanlage notwendig, entweder als ausladendes Kompaktmodell von Dual, Saba oder Braun oder mit separaten Komponenten wie Verstärker, Plattenspieler, zwei Lautsprecherboxen (je größer, desto besser) und gegebenenfalls einem Tonbandgerät (das seinen Besitzer als engagierten und technisch kompetenten Musikfreak auszeichnete). Überdies erforderte die Auseinandersetzung mit Musik einen hohen Zeitaufwand. Mixtapes entstanden, indem man die Tracks sorgfältig aussuchte, ihre Laufzeit exakt ausmaß, die Songauswahl dann in Echtzeit auf eine Audiokassette aufnahm und zu guter Letzt das Cover mehr oder weniger hübsch beschriftete. Was heute mit wenigen Klicks in Minuten erledigt ist, beanspruchte seinerzeit ganze Nachmittage. Ganz abgesehen davon, dass man Musikstücke aus dem Radio zumeist mit Hilfe vor dem Lautsprecher platzierter Billigst-Mikrophone aufnahm. Dabei musste man ständig damit rechnen, dass irgendjemand ins Zimmer platzte und irgendetwas wollte, womit die schöne Aufnahme dahin war und man also darauf hoffen musste, denselben Song bei nächster Gelegenheit aus dem laufenden Programm zu »fischen«. Die mit alledem einhergehende Affektbindung und Identitätsbildung – wer diesen Aufwand betrieb, war ein echter Musikfan und -kenner – ist im Zeitalter des Streamings und der mobilen Abspielgeräte praktisch weggefallen. Außerdem war Rock die erste Musik in der Geschichte, die per definitionem gehört wurde, was zur Abgrenzung von Nichteingeweihten, also den Erwachsenen, beitrug.
Pop und Rock waren in den 70ern längst noch nicht Massen-, sondern Minderheitenprogramm. Folglich fanden sie bis weit in das neue Jahrzehnt hinein auch im öffentlichen Raum kaum statt. Weder wurden sie zur Dauerberieselung im Supermarkt eingesetzt, noch dienten sie als flächendeckende Klangtapete in den Medien. Sie wurden nicht der Werbung unterlegt, und auf Stadtfesten spielten statt Rock-Coverbands in aller Regel Dixieland-Kapellen. Zu hören waren die neuesten Hits höchstens bei Kirmes- und Jahrmarktveranstaltungen, wo sie für Fahrgeschäfte wie Raupe und Autoscooter ein junges Publikum anlocken sollten. In den Pausen zwischen Sweet und Gary Glitter aber wehten vom Riesenrad oder der nächsten Schießbude verlässlich auch die Schnulzen von Bata Illic und Peter Alexander herüber. Selbst die klassische Kirmesorgel tönte noch lautstark durchs Getümmel, und das nicht etwa als nostalgische Reminiszenz an die gute alte Zeit, sondern als selbstverständlicher Bestandteil der Kulisse.
Wer Popmusik hören wollte, musste sich Platten kaufen oder jemanden besuchen, der welche besaß. Die aus wenigen, dafür einflussreichen Magazinen bestehende Musikpresse wirkte dabei als Filter und Geschmackskompass. Hefte wie der , , der englische , ab 1972 auch der () und das deutsche Magazin versorgten ihre Leser mit den nötigsten Musikinfos und dienten als Forum für Geschmacksentwicklung und die Verbreitung der korrekten Gegenkultur-Ideologie. Das Radio entfernte sich in den USA seit der Einführung des FM-Formats (entspricht dem europäischen UKW) von der reinen Hitformatierung und spielte auch anspruchsvolle Albumtracks. In Europa begriffen die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten um die Jahrzehntwende, dass sie ihre Programme auch auf die spezifischen Bedürfnisse junger Hörer zuschneiden mussten. Ab etwa 1969 begegnete man im Radio vermehrt journalistischen Magazinsendungen, die sich mit den Entwicklungen der Pop- und Rockmusik beschäftigten. Beim bundesdeutschen Fernsehen dagegen blieben Formate wie , , und noch bis zum Ende der 1970er Jahre die Ausnahme: Pop war TV-Mangelware.
Und es gab die Plattenläden selbst. Zu Beginn des Jahrzehnts koppelten sich die Plattenabteilungen von ihren Muttergeschäften, in der Regel war das der Elektrofachhandel, ab, zogen in eigene Läden und wurden auf diese Weise zum einflussreichen Teil der jugendlichen Subkultur. Ein Beispiel: Bernd Dopp, heute Chef von Warner Music und einer der wichtigsten Macher in der internationalen Musikbranche, begann seine Laufbahn in den frühen 1970er Jahren im Plattenhandel. Er erinnert sich:
Anfang der 1970er Jahre war die Preisbindung für Schallplatten aufgehoben worden. Bis dahin musstest du für eine Langspielplatte 22 Mark hinblättern, jetzt konntest du plötzlich ein Album für 13,90 Mark kaufen. Und diese Läden waren sehr einfach gehalten, kaum Ausstattung, nur die Plattenkisten. Aber sie waren cool und Treffpunkte für Gleichgesinnte. Wenn du es geschafft hattest, Plattenverkäufer zum Beispiel bei Govi zu werden, einer der ersten Handelsketten, dann warst du fast schon selbst ein Mini-Rockstar, so ein hohes Prestige war mit diesem Job in der Jugendszene verbunden. Das Beste war, dass man die Platten mit nach Hause nehmen durfte. Und man lernte Mädchen kennen. Obendrein bekam man auch noch Geld dafür. Damals explodierte das Plattengeschäft umsatzmäßig und es ging steil aufwärts.
All dies plus die damals hierzulande noch karge Konzertszene bildete das Spielfeld, auf dem Popmusik...