E-Book, Deutsch, Band 535, 329 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-66402-1
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;2
3;Zum Buch;3
4;Über den Autor;3
5;Impressum;4
6;Inhalt;5
7;Abkürzungen, Zitierweise;9
8;Vorwort;11
9;I. „Der Philosoph“?;13
9.1;1. Person und Werk;13
9.1.1;1.1 Die Person;13
9.1.2;1.2 Das Werk;22
9.2;2. Forscher, Gelehrter, Philosoph;28
10;II. Wissen und Wissenschaft;36
10.1;3. Phänomenologie des Wissens;36
10.1.1;3.1 Propädeutik?;36
10.1.2;3.2 Eine epistemische Hierarchie;41
10.1.3;3.3 Freiheit und Selbstverwirklichung;45
10.2;4. Formen von Rationalität;49
10.2.1;4.1 Syllogistik;49
10.2.2;4.2 Dialektik (Topik);55
10.2.3;4.3 Rhetorik;60
10.2.4;4.4 Dichtung: Tragödie;68
10.3;5. Beweise und Prinzipien;75
10.3.1;5.1 Kritik der beweisenden Vernunft;75
10.3.2;5.2 Axiome und andere Prinzipien;82
10.3.3;5.3 Induktion und Geist;89
10.4;6. Vier methodische Maximen;93
10.4.1;6.1 Phänomene sichern;94
10.4.2;6.2 Lehrmeinungen;95
10.4.3;6.3 Schwierigkeiten;99
10.4.4;6.4 Sprachanalyse;101
11;III. Physik und Metaphysik;103
11.1;7. Naturphilosophie;103
11.1.1;7.1 Aristotelische Naturforschung;103
11.1.2;7.2 Bewegung;107
11.1.3;7.3 Vier Warum-Fragen;115
11.1.4;7.4 Kontinuum, Unendliches, Ort und Zeit;119
11.2;8. Biologie und Psychologie;126
11.2.1;8.1 Der Zoologe;126
11.2.2;8.2 Teleonomie: Organismen, Zeugung und Vererbung;132
11.2.3;8.3 Die Seele;136
11.3;9. Erste Philosophie oder Metaphysik;142
11.4;10. Kosmologie und Theologie;152
11.4.1;10.1 Meta-Physik;152
11.4.2;10.2 Der kosmologische Gottesbegriff;155
11.4.3;10.3 Ein ethischer Gottesbegriff?;161
11.5;11. Ontologie und Sprache;163
11.5.1;11.1 Kategorien;165
11.5.2;11.2 Substanz;170
11.5.3;11.3 Kritik an Platons Ideen;176
11.5.4;11.4 Über Sprache;180
12;IV. Ethik und Politik;186
12.1;12. Praktische Philosophie;187
12.1.1;12.1 Zur Selbständigkeit der Ethik;187
12.1.2;12.2 Das Ziel heißt Praxis;190
12.1.3;12.3 Grundriß-Wissen;193
12.2;13. Handlungstheorie;195
12.2.1;13.1 Grundbegriff Streben;196
12.2.2;13.2 Entscheidung und Urteilskraft;198
12.2.3;13.3 Willensschwäche;205
12.2.4;13.4 Kennt Aristoteles den Begriff des Willens?;209
12.3;14. Das gute Leben;214
12.3.1;14.1 Prinzip Glück;214
12.3.2;14.2 Charaktertugenden;223
12.3.3;14.3 Gerechtigkeit, Naturrecht, Billigkeit;227
12.3.4;14.4 Theoretische oder politische Existenz?;233
12.4;15. Politische Anthropologie;237
12.4.1;15.1 Zur Aktualität der „Politik“;237
12.4.2;15.2 „Von Natur aus politisch“;240
12.4.3;15.3 Freundschaft und andere Voraussetzungen;248
12.5;16. Politische Gerechtigkeit;254
12.5.1;16.1 Elementare Ungleichheiten;254
12.5.1.1;16.1.1 Sklaven;254
12.5.1.2;16.1.2 Barbaren;256
12.5.1.3;16.1.3 Frauen;257
12.5.2;16.2 Herrschaft von Freien über Freie;259
12.5.3;16.3 Demokratie oder Bürgerstaat?;267
13;V. Zur Wirkung;273
13.1;17. Antike und Mittelalter;273
13.1.1;17.1 Frühzeit;273
13.1.2;17.2 Christentum, Islam, Judentum;277
13.1.3;17.3 Die große Aristoteles-Renaissance;281
13.2;18. Neuzeit und Gegenwart;288
13.2.1;18.1 Ablösung und Wiederzuwendung;288
13.2.2;18.2 Aristoteles-Forschung, Neoaristotelismen;292
14;Anhang;296
14.1;1. Zeittafel;296
14.2;2. Literatur;298
14.3;3. Personenregister;318
14.4;4. Sachregister;323
I. „Der Philosoph“?
1. Person und Werk
Pantes anthrôpoi tou eidenai oregontai physei: Alle Menschen streben nach Wissen von Natur aus. Der Einleitungssatz zu einem der berühmtesten Bücher des Abendlandes, Aristoteles’ Metaphysik, spricht unmittelbar über den Menschen und sein Wissen, mittelbar auch über den Verfasser. In dem Maße, wie der anthropologische Anspruch, die natürliche Wißbegier, zutrifft, ist Aristoteles nicht bloß ein außergewöhnlicher Denker, sondern zugleich ein großer Mensch. 1.1 Die Person Erstaunlicherweise kennen wir die Persönlichkeit und den Lebensweg nur in großen Zügen. Die dürftigen Dokumente bestehen aus dem Testament, verschiedenen Briefen und Gedichten sowie Ehrendekreten von Stageira, Delphi und Athen. Auf die antiken Lebensbeschreibungen ist dagegen nur begrenzt Verlaß. Erst Generationen später verfaßt, verfolgen sie bald aristotelesfreundliche, bald aristotelesfeindliche Tendenzen. Der bekannteste Text, aus Diogenes Laërtios’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen (um 220 n. Chr.; Kap. V 1), mischt Tatsachen mit nicht immer wohlwollenden Erdichtungen (vgl. Düring 1957); zur Person heißt es: „Er stieß beim Sprechen mit der Zunge etwas an, auch war er schwach auf den Beinen und kleinäugig, er kleidete sich aber stattlich und ließ es an Fingerringen und Haarpflege nicht fehlen.“ Daß Aristoteles tatsächlich einen Zug ins Dandyhafte hatte, läßt sich nicht bestätigen, folgendes ist aber weitgehend gesichert: Sein Leben fällt in die Zeit, in der die Gesellschaftsform vieler Griechen, die freie Stadtrepublik, ihre Freiheit verliert. Aristoteles erlebt die Niederlage, die Philipp II. den Athenern und Thebanern bei Chaironeia (338 v. Chr.) beibringt. Auch ist er Zeitgenosse von Philipps Sohn, Alexander dem Großen. Die Jahre hingegen, in denen Athen seine politische Vorherrschaft mit einer kulturellen Hochblüte verbindet, in denen Künstler wie Iktinos und Pheidias die Bauten der Akropolis schaffen, in denen Sophokles seine Tragödien, zum Beispiel Antigone und König Ödipus, dichtet und Philosophen wie Anaxagoras und Protagoras in Athen wirken, das Perikleische Zeitalter (443–429), liegen schon lange zurück. Geboren wird Aristoteles 384 v. Chr. in Stageira (Starro), einer kleinen Stadtrepublik im Nordosten Griechenlands. Nicht wie Platon ein Sproß der athenischen Hocharistokratie, nicht einmal Bürger, wird er in Athen Metöke (Beisasse) sein: ein Ausländer mit „Niederlassungsbewilligung“, aber ohne politische Rechte. Irgendwer ist er freilich nicht. Als Mitglied einer angesehenen Familie – sein Vater Nikomachos ist Leibarzt am makedonischen Königshof –, erfährt Aristoteles eine hervorragende Ausbildung, die nach dem frühen Tod des Vaters von einem Vormund betreut wird. Vielleicht aufgrund von Spannungen am Königshof geht Aristoteles im Jahr 367, im Alter von 17 Jahren, nach Athen, dem Zentrum der griechischen Kultur, um bei Platon zu studieren. Dessen Schule, die Akademie, ist weit mehr als bloß ein öffentliches „Gymnasium“; sie ist das intellektuelle Mekka für die Wissenschaftler und Philosophen jener Zeit, ein internationaler Treffpunkt und das bis heute kaum je wieder erreichte Vorbild für die Einheit von Lehre und Forschung. Während zwanzig Jahren, dem „ersten Athen-Aufenthalt“ (367–347), macht sich Aristoteles mit den Problemen vertraut, die wir aus Platons Dialogen, einschließlich den späten Dialogen, kennen. Außerdem studiert er bei Mitgliedern der Akademie, etwa Speusipp, Xenokrates und Eudoxos aus Knidos. Er bleibt freilich nicht lange Zeit „Schüler“; in Auseinandersetzung mit Platon und dessen Kollegen entwickelt er bald eine eigene Position. So etwas wie ein intellektuelles Saulus-Paulus-Erlebnis, eine plötzliche Erleuchtung, die den Platon-Anhänger zum Platon-Kritiker bekehrte, ist nicht bekannt. Ebensowenig hören wir von einer philosophischen Wende oder Kehre, die einen späten Aristoteles oder Aristoteles II gegen einen frühen Aristoteles bzw. Aristoteles I abzusetzen erlaubte. Insoweit erscheint Aristoteles’ intellektuelle Biographie als bemerkenswert gradlinig, geradezu nüchtern. Abb. 1: Platon. Kopie aus der Zeit des Kaisers Tiberius nach einer um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. entstandenen Bildnisstatue (München, Glyptothek). Schon während des ersten Athen-Aufenthaltes hält der Philosoph eigene Vorlesungen in einem Hörsaal, der über eine Tafel, verschiedene Geräte und zwei Wandgemälde sowie astronomische Tafeln verfügt (Int. 13, 22a22; EN II 7, 1107a33; EE II 3, 1220b37; An. pr. I 27, 43a35; vgl. Jackson 1920). In dieser Zeit entstehen umfangreiche Materialsammlungen und vor allem die ersten Entwürfe der Naturphilosophie („Physik“), der Fundamentalphilosophie („Metaphysik“), der Ethik, Politik und Rhetorik. Ob auch jene logischen und wissenschaftstheoretischen Schriften, die man später zum „Organon“ zusammenfaßt, und die Poetik aus dieser Zeit stammen, ist umstritten. Der Gründer und Leiter der Akademie, Platon, ist fünfundvierzig Jahre älter als Aristoteles, was in etwa der Zeitspanne entspricht, die Platon selbst jünger als Sokrates war. Sichere Nachrichten über das Verhältnis des „Schülers“ zu seinem „Lehrer“ fehlen. Vermutlich hegt Aristoteles ähnliche Empfindungen gegen Platon wie dieser gegen Homer. Die Platon-Kritik in der Ethik (I 4, 1096a11–17) beginnt fast wie Platons Homer- und Dichterkritik in der Politeia (X 595b; vgl. auf Sokrates bezogen Phaidon 91b f.): „Freilich widerstrebt uns eine solche Untersuchung, da es Freunde waren, die die Ideen eingeführt haben. Es dürfte aber … zur Rettung der Wahrheit geboten sein, die eigenen Empfindungen nicht zu schonen, zumal wir Philosophen sind …“. Später wird daraus das Diktum amicus Plato, magis amica veritas, was frei übersetzt heißt: ich liebe Platon, aber noch mehr die Wahrheit. Eine analoge Verbindung von Wertschätzung und Kritik erfährt Sokrates (z.B. Met. XIII 4, 1078b17–31; Pol. II 6, 1265b10–13). Es dürfte übrigens ein Glücksfall sein, daß zunächst Platon bei Sokrates, später Aristoteles bei Platon, daß also zweimal hintereinander ein überragender Philosoph bei einem überragenden Philosophen in die Lehre geht und sich an dessen wohlüberlegten Ansichten die eigenen Ansichten erarbeitet. Schon weil er ein Metöke ist, mischt sich Aristoteles in die Angelegenheiten der Polis nicht ein; er begründet jedoch eine selbständige Wissenschaft der Politik. Ganz entzieht er sich der politischen Praxis allerdings nicht; zwischen Makedonien und verschiedenen griechischen Städten übernimmt er Vermittlungsaufgaben, für die sich die „Bürger Athens“ in einer Inschrift bedanken (s. Düring 1957, 215). Skeptisch gegen die von Platon bekannte, am Ende ohnehin gescheiterte politische Berufung des Philosophen, hält er derartige Missionen aber nicht für die „natürliche“ Fortsetzung der politischen Philosophie. Im allgemeinen konzentriert sich Aristoteles auf sein Studium, die eigene Forschung und den selbständigen Unterricht. Schenkt man den entsprechenden Aussagen Glauben, so hält er, ein mit scharfem Witz begabter Redner, klare und fesselnde Vorlesungen. Als fleißiger Leser, darüber hinaus Sammler und Analytiker ist er der Prototyp des gelehrten Professors, allerdings nicht in dessen weltferner, sondern in einer der Welt zugewandten, sogar weltgewandten Form. Die Weltgewandtheit beginnt im Bereich des Intellektuellen. Aristoteles macht sich nicht nur mit den Ansichten seiner „Schule“, also Platons und der Akademiker, vertraut, sondern ebenso mit den Werken der Sophisten, der Vorsokratiker und der Mediziner, ferner mit der griechischen Lyrik, Epik und Dramatik, nicht zuletzt mit den damals bekannten Verfassungen. Nach Platons Tod im Jahre 347 wird Speusipp (410–339), Platons Neffe und Erbe, zum Leiter der Akademie bestimmt. Nicht etwa aus Verärgerung, sondern wegen politischer Gefahren – Aristoteles gilt als Freund der die Freiheit Griechenlands bedrohenden Makedonier – verläßt der Philosoph, inzwischen achtunddreißigjährig, Athen. Da die politischen Umstände noch weitere Ortswechsel erzwingen, verläuft seine Biographie nicht so ruhig, wie man es angesichts des gewaltigen Werkes erwartet. Aristoteles’ Fähigkeit, auch unter widrigen Gegebenheiten an seiner Lebensaufgabe, der Forschung, festzuhalten, ist erstaunlich. Die folgenden zwölf „Wanderjahre“ (347–335/4) verbringt er mit anderen Mitgliedern der Akademie zunächst bei einem ehemaligen Mitschüler, bei Hermias von Atarneus. Von diesem Fürsten der kleinasiatischen Stadt Assos mit allem Lebensnotwendigen großzügig versorgt, kann Aristoteles sich ungestört der Philosophie und den Wissenschaften widmen. Vermutlich in Assos lernt er Theophrast von Eresos (ca. 370–288 v. Chr.), seinen späteren Mitarbeiter und Freund, kennen. Der Philosoph heiratet...