E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Höckel Wie wir damals auf dem Bauernhof geheiratet haben, und der Alois am Tag drauf fast den Hund erschossen hat, weil er was gegen die Stadtmenschen hat und das Glück überhaupt
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-401055-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-10-401055-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kerstin Höckel studierte Schauspiel an der Hochschule der Künste Berlin. Nach ein paar Jahren am Theater begann sie, Independentfilme zu drehen und Drehbücher zu schreiben. Höckel lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Berlin und auf ihrem Bauernhof im Schwarzwald
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BIG LOVE
Franz behauptet, ich sei ausgeflippt, ich hätte den Ausschlag gegeben, ich hätte ihn angefleht. Nachdem ich den großen Ofen in der Bauernstube entdeckt hatte, hätte ich gebettelt, Frommholz zu kaufen, Komm wir kaufen au ja bittebitte komm schon komm, und dann machen wir ein Baby, hätte ich ihm zugeflüstert. Obwohl ich nie ein Hausbesitzer hatte werden wollen noch eine Kleinfamilie, nie, all die Verpflichtungen, Risiken, Zahlungsaufforderungen, nein danke. Ich hätte den Ottmar noch während der Besichtigung um den Finger gewickelt, auf dem Dachboden, oben im Gebälk, hätte ich von null auf hundert angefangen, mit dem zu flirten, als ginge es um Leben und Tod, und den Preis um fünfzehntausend Euro runtergehandelt, dabei war der so schon ein Witz. Dabei war ich noch nicht mal dreißig, dabei war es noch nicht allzu lange her, dass ich aus der Provinz in die Stadt geflohen war.
Mit siebzehn damals in meinem ersten Leben, da musste es nämlich unbedingt die große Stadt sein, so Stadt wie möglich, eine riesige Stadt, unübersichtlich, unabsehbar, Stadtstadt musste es sein. Mit siebzehn soll dich auf der Straße keiner kennen, niemand soll sich Gedanken machen, was die Tochter vom Soundso und die Nichte von der Soundso und die Schwester vom Bruder treibt, und alles das mit der Schwägerin vom Soundso durchhecheln, Die Tochter vom Dings hat vier Bier getrunken und kaum noch den Weg nach Hause gefunden, dabei ist die doch erst siebzehn, Die Schwester vom Dongs weiß nicht, was das Wort Fut bedeutet, das an den Stromkasten geschmiert wurde, dabei ist sie doch schon siebzehn, das hat ihr dann ihr Freund erklärt, der, mit dem sie ausgeht, ohne mit ihm zu gehen, na so was, Die Nichte vom Doktor Soundso hat sich mit einem Kumpel und einer heißen Kartoffel eigenhändig Ohrlöcher gestochen, stellen Sie sich das mal vor, Frau Schwägerin, und der ihre Mutter hat neulich vier Paletten Kiwis gekauft, vier Paletten Sonderangebot beim Aldi, ich bin ja nicht neugierig, aber wer bitte soll die denn alle essen schnatter schnatter lechz.
Die Großstadt war gewesen, was ich brauchte, das Leben am Überangebot vorbei, möglichst weit entfernt von der Frau Schwägerin vom Doktor Soundso, bei dem ja auch der Neffe vom Dings in Behandlung ist mit diesem Furunkel am Kinn schlimme Sache der arme Bub wie will der denn mit dem Ei im Gesicht eine Freundin finden. Der Studienplatz war Vorwand genug, endlich ihrem Wirkungskreis zu entkommen, jedem ihrer Kreise, ich wollte weg sein, gänzlich entbunden, ein winziges Zimmer in einer billigen Wohnung behausen, Schallplatten hören in jeder Lautstärke, Kassetten, Radio. Mitbringen, wen ich wollte und wann, rauchen auf der Fensterbank. Ich nahm die stundenlangen Wege zur Hochschule in Kauf, das Warten vor der Telefonzelle, vor der sich am Wochenende endlose Schlangen bildeten, den Abstieg in den Keller zum Kohleholen Abend für Abend im kontinentalen Winter der Stadt der Städte. Gesund war das nicht, aber es war, was ich wollte. Ich wollte auf den Gehwegen, in den Untergrundbahnen nichts als fremde Gestalten mit ihren Leben und Tätowierungen auf den Schultern, mit ihrer Musik, ihren unbekannten Sehnsüchten und Leiden. Und ich mitten unter ihnen, leidend auch, leidenschaftlich, eine Fremde, sich selbst fremd, doch hartnäckig an einer Liebe festhaltend zu ihrer großen Stadt, beschützt von deren Anonymität, eure Ignoranz war mein Deodorant.
Ich hätte das im Grunde ohne ihn entschieden, behauptet der Franz im Nachhinein gerne, insbesondere wenn es Probleme mit Frommholz gegeben hat und ich mich aus der Affäre ziehen wollte mit Geldsorgen und Zeitnot, erinnerte der Franz mich, dass ich es so gewollt hätte, dass er keine andere Wahl gehabt habe. Wegen meines Jobs waren wir überhaupt in der Gegend unterwegs gewesen, ich sollte Drehorte scouten in Sachen , einer dieser aufwendigen Mehrteiler fürs Privatfernsehen, Fördermittel aus Baden-Württemberg, ein bisschen Mystik und deutsches Kulturgut ins Heute übersetzt. Hänsel und Gretel verirren sich auf der Flucht vor dem bösen Wolf, werfen Schneewittchens Stiefschwestern in den Hochofen, wobei im friendly fire die sieben Geißlein draufgehen, eines dieser aufwendigen Projekte, von denen die Cafés in den großen Städten überquellen, Hirngespinste, die eine ganze Generation Praktikum auf Trab hielten, mich inbegriffen, und die es meist haarscharf und dann doch nicht ganz bis zur Realisierung schafften, da einem da oben plötzlich der Mut schwand, oder das Geld, oder das Sagen, was ja gewissermaßen ein und dasselbe ist. Die Produktionsfirma hatte keinen Firmenwagen angeboten, worüber wir großzügig hinwegsahen, der Franz und ich, weil wir mal wieder ziemlich frisch verliebt waren und nach dem Abgeklappere magischer Szenerien des Schwarzwaldes in meinem alten Passat weiterdüsen wollten ans Mittelmeer.
Bloß, dass wir es nicht mal bis an den Alpenrand schafften, weil der Franz eigenmächtig dem Stau auf der Autobahn Richtung Basel und kurz darauf dem Feierabendverkehr am Hirschsprung ausgewichen war. Weil der Franz Schlangestehen hasst wie kaum einen Zweiten und eine kleine Abzweigung zuvor quer in die Hügel geheizt und an Traktoren und Holztransportern vorbeigeschossen war, dass mir schwindelig wurde in den Serpentinen und ich restlos die Orientierung auf der Karte verlor. Die Namen der Ortschaften wurden immer eigentümlicher und nicht mehr verzeichnet, und nach drei Stunden querfeldein Richtung gefühltem Süden schmerzte Franz sein Knie mörderisch, und unsere Mägen knurrten, und unsere Launen sanken tief und tiefer ins Reich der Unterzuckerung, und wir vergaßen, dass wir frisch verliebt waren, und ein Wort gab das andere, und bald stritten wir ohne Sinn und Verstand und keiften und schoben uns die Schuld zu wie einen faulen Fliegenpilz, keiner wollte sie bei sich behalten, die arme. Und der Franz brüllte, ich sei schuld, da ich ihn überhaupt erst in diesen Wald verschleppt hätte, in dem es seit Tagen ohne Unterlass regnete, mit meinem beknackten Übereifer, als hätte das eine mit dem anderen zu tun, und ich antwortete irgendwas ausnehmend Arrogantes, das ich zum Glück vergessen habe, das ihn allerdings restlos in Rage brachte und das Steuer rumreißen ließ und in einen Waldweg einbiegen und viel zu temporeich über das Gewurzel poltern, bis uns der Auspuff vom Katalysator riss.
Wir stiegen aus und begutachteten den Salat, und mir kam diese Mär in den Sinn, an die mein Cousin mich neulich wieder erinnert hat, diese Gruselgeschichte aus Kindertagen, wo zwei in der Pampa eine Panne haben, und er geht Hilfe holen und sie bleibt allein zurück, bis dann ein Verrückter bibber bibber schlotter if you know what I mean, und ich wollte um keinen Preis beim Auto bleiben, während der Franz sich aufmachte zur nächsten Tankstelle oder einem Gasthof oder überhaupt einer menschlichen Behausung, denn es wurde bereits duster und auch so bitterkalt, daher schlug ich einen versöhnlicheren Ton an, nannte ihn Big Love und so und nahm alle Schuld auf mich, auch das mit dem Regen, der applaudierend einsetzte. Wozu streiten, mir war sowieso eher nach Lachen zumute, solch ein hungriges hysterisches, während ich fieberhaft auf der Karte nach unserem Unfallort suchte, und der Franz unterdrückte den Impuls, mir irgendwas ins Gesicht zu stopfen, damit das Gegacker aufhörte, und stapfte einfach drauflos, und zwar statt zurück zur Straße und in die Zivilisation noch tiefer ins Gehölz hinein. Und ich erst mitsamt Landkarte hinterher durch den Regen, und dann blitzartig kehrtgemacht, Wagentüren verschließen, damit der Typ aus der Irrenanstalt aus dieser Mär unsere Laptops nicht mitgehen ließ, und stolperte ihm nach und rief, er solle bitte warten, Jetzt warte doch mal, Mann, Big Love, was willst du bei dem Wetter mitten im Wald, Mann.
Statt einer Antwort begann der Boden zu beben, die Bäume erzitterten, und ein tiefes Brummen näherte sich, der Franz bog trotzig vom letzten halbwegs vernünftigen Weg ab und hetzte, sich in Farn und Tannensetzlingen verfangend, den Hang runter, ich sage nur, Zuckerabfall, und ich stampfte auf der Stelle und versuchte gleichzeitig zu orten, woher das Markerschütternde kam, und schrie, er solle warten, Mann, verdammte Scheiße, und fluchte und fluchte, und der Lärm übertönte aber alles, rückte um die Biegung ins Blickfeld, und zwar als rostgelbes Ungetüm, ein Laster, der den Pfad entlang über Stock und Stein, Felsbrocken und Wurzelwerk getaumelt kam, als wolle er Fahrer mitsamt Lenkung seitlich aus einem der Fenster spucken.
Ich wich in die Böschung aus, das Fuhrwerk hielt vor meiner Nase, ein Mann rief mir etwas zu, was ich nicht verstand, erst nach dreimaliger Wiederholung begriff ich, dass es an seinem Dialekt lag und dass es sich nicht um den Bösen Wolf ins Heute übersetzt handelte, und kletterte mit rotem Kopf aus dem Dickicht und sagte, Wie bitte, und der Fahrer fragte geduldig zum vierten Mal, ob der Mann, der da hinten den Abhang runtergerannt sei, ob der zu mir gehöre, er mutmaßte, dass wir nicht von hier seien, und warnte, dass der Ortsfremde, mein Mann, der in Wirklichkeit mein Freund war, damals noch jedenfalls, unterwegs sei ins Moor, was nicht ganz ohne sei. Er sagte, Besser wir holen den da raus, und ich nickte erschrocken, und stolperte gleich los und rief Franz Franz, und schon sprang der Mann aus dem Führerhaus des Lasters und stürzte sich kopfüber in die dunklen Fluten des Waldes, und ich hätte es ihm zu gerne gleichgetan, seitlich den Berg runter, Franz schreiend und He und Warte, und verhedderte mich aber in einem Brombeerstrauch und brauchte eine halbe Ewigkeit, bis ich die Widerhaken seiner Stacheln aus meiner Haut und dem Pullover und wieder aus dem Fleisch und dann aus dem Hosenbein entfernt...