Höckel | Heute müssen wir es tun | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Höckel Heute müssen wir es tun

Kinderwunsch und andere Kleinigkeiten
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400650-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kinderwunsch und andere Kleinigkeiten

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-10-400650-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kind ja oder nein? So soll es sein, das Leben: mit Traum-Mann und Traum-Job in einer wunderschönen Wohnung in einer aufregenden Stadt. Doch fehlt für Kerstin Höckel eines zum großen Glück: ein Kind! Und als der Mann des Lebens endlich überzeugt ist, will es einfach nicht klappen mit dem Wunsch-Baby. Nach vielen fruchtlosen Versuchen und einer Achterbahnfahrt der Gefühle verzweifelt die Autorin fast an ihrem Kinderwunsch - und wird prompt vom Leben überrumpelt.

Kerstin Höckel studierte Schauspiel an der Hochschule der Künste Berlin. Nach ein paar Jahren am Theater begann sie, Independentfilme zu drehen und Drehbücher zu schreiben. Höckel lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Berlin und auf ihrem Bauernhof im Schwarzwald
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Eine Minute


Bleiben Sie ruhig noch eine Minute liegen, sagt die Ärztin mit dem langen Zopf, eine Minute denke ich, eine einzige Minute, so so, eine Minute. Schwester Angelika ringt sich ein zuversichtliches Lächeln ab und bedeckt meine Scham mit einem frischen Handtuch, die Ärztin desinfiziert sich die Hände und verschwindet. Schwester Angelika verschraubt die durchsichtige Schale mit Viktors Initialen und Geburtsdaten, der Rest von euch landet im Müll, denke ich, während ich die Sekunden zähle, oder in einem Forschungslabor. Bei sechzig ist die Minute um, ich erhebe mich vorsichtig, um die aufbereiteten Spermien nicht zu erschrecken, die die Ärztin mithilfe von Spritze und Kanüle in meine Gebärmutter geschossen hat, tut das weh, hat sie gefragt, ich habe den Kopf geschüttelt. Ich habe nichts gespürt, nichts. Eine Minute ist ein Witz, denke ich.

Zwei Stockwerke unter Berlin, verblichenes Hellgrün an den Wänden, abgewetztes Linoleum, die enge Umkleide von Zimmer 024, Garderobehaken aus den Siebziger Jahren, der Geruch aus dem Badezimmer meiner Tante, als ich noch ein Kind war. Wie viele Schlüpfer hier schon aus- und wieder angezogen wurden, wie viele Frauenbecken dieser Spiegel entblößt gesehen hat, wie viel Hoffnung und Beklemmung tief im Innern der Erde. Ich versuche, schöne Gedanken zu haben, damit das Wesen, das sich in mir aus Eizelle und Samen zu einem neuen Menschenbrei vereinen soll, vom ersten Augenblick an positive Signale erhält, Tag da unten, willkommen auf dem Planeten. Aber die Garderobehaken und der cremefarbene Plastikhocker in der Umkleide deprimieren mich, mir wird weinerlich zumute. Das, denke ich, müssen die Hormone sein, mit denen ich mich seit über drei Wochen vollpumpe. Oder der Duft aus dem Haus der Tante, der im Plusquamperfekt von früher erzählt, mehr als vollendet. Wir waren mit dem Rad gekommen, wir waren im See geschwommen, wir hatten auf der Straße gespielt, wir hatten die Klamotten der Cousins geerbt, wir hatten Gummibärchen genascht, bei meiner Tante hatten andere Gesetze gegolten als zu Hause, wo alles durch sechs geteilt wurde, bei der Tante waren die Dinge im Überfluss vorhanden, jeder hatte sich nehmen dürfen, was sein Herz begehrte, ein jeder nach seiner Façon, Trauben, Mandarinen, vor allem Gummibärchen.

Ich mag Viktor anrufen. Wie kann es sein, dass der Mann des Lebens nicht bei mir ist, dass er nicht vorne im Gang auf mich wartet, um mich gleich grinsend in seine Arme zu schließen, mich zum Aufzug zu drängeln und aufzuheitern mit blöden Fragen, zum Beispiel, Na, wie war ich Liebling, oder, Und, schon angebissen. Zögernd betrachte ich das Display meines Handys, ein Balken zeugt von miserablem unterirdischem Empfang, zehn Uhr sieben, Viktor sitzt in unserem lärmenden Auto und hat sowieso keine Lust zu sprechen, schon gar nicht über Zweifel, Konsistenz der Körpersäfte oder meine Empörung über die eine Minute, erst recht nicht um diese Uhrzeit. Morgens reden wir nie, wir schälen uns kurz nacheinander aus dem Bett, damit wir uns beim Kaffeekochen nicht im Weg stehen, wir duschen jeder für sich und gehen an die Arbeit, jeder in seinem Zimmer an seinen Schreibtisch. Heute musste Viktor das Ritual abblasen, sein geliebtes Rendezvous mit der stillen Geliebten Aurora, denn er muss zur Bauprobe nach Sonstwo, regeln, welches Podest stabiler werden soll wegen der korpulenten Chordamen, welcher Hänger auf der Hinterbühne gespannt wird statt vorne über dem Orchestergraben, ausgerechnet heute, der Termin lässt sich nicht verschieben, hat Viktor behauptet und vorher schnell in einem der Nebenräume von 024 in den Becher gewichst, Tribut genug. Dabei ist das der Morgen, der unser Leben von Grund auf verändern soll, unser angenehmes Leben. Später, am Nachmittag, bevor er sich zu seinem Nickerchen hinlegt, wird Viktor Lösungssätze parat haben, er wird mir zuhören und nachfragen und sich an den Fakten entlanghangeln auf dem schmalen Pfad zu meinem Herzen, wie denn was denn ich hab gedacht, du hast es so gewollt.

Die Gelegenheit war günstig. Wenn dein Mann des Lebens, der nie Kinder wollte, Zitatende, nach einer ausgedehnten Silvesternacht mit Büfett, Sekt, Martini, Bier und Gespräch mit dem guten Freund jetzt doch will, nicht bloß bereit ist dir zuliebe, sondern regelrecht Lust auf das Abenteuer hat. Wenn derselbe Mann am nächsten Tag nicht etwa reumütig von Bierlaune faselt und den zu großen Versprechungen, sondern beschließt, sein Sperma unter die Lupe nehmen zu lassen, da er, der nicht mehr der Jüngste ist, herbe Zweifel an seiner Zeugungsfähigkeit hegt, schließlich hat er vor deiner Zeit munter ungeschützten Verkehr gepflegt und dabei nie seinen evolutionsbiologischen Auftrag erfüllt. Wenn er sich von deinem Referat über die erste sogenannte Kinderwunschsprechstunde, die du Wochen zuvor mutterseelenallein besucht hast, nicht beeindrucken, sondern seinen Worten Heldentaten auf dem Fuß folgen lässt, wenn jener Kerl nicht einmal den Rückzug antritt, da du ihm seinen Termin im Krankenhaus präsentierst, Freitag sieben Uhr dreißig Ejakulation, eine Zeit, zu der er sonst niemals freiwillig das Haus verlassen würde, schon gar nicht, um einer Krankenschwester einen Guten Morgen zu wünschen, die ihm mit mitleidigem Lächeln einen Plastikbehälter in die Hand drückt, wenn ihn die Ergebnisse seines Spermatests nicht etwa aus der Bahn werfen, sondern seinen sportlichen Ehrgeiz in Sachen Familiengründung erst zur vollen Entfaltung bringen, wenn er daraufhin großzüngig erklärt, Puppe, du kümmerst dich ums Organisatorische, ich übernehme die Hälfte der Kosten, da denkst du eben, sofern du ich bist, okay Baby, scheiß auf dein Phlegma, die Gelegenheit ist günstig, Augen zu und durch.

Jetzt bestürmen mich die Gedanken der anderen Art, eine ganze Herde von Sorgen, Ängsten, Defätismus, schwindelig wird mir davon, ich sinke auf den Hocker, nehme den Kopf in beide Hände, vertreiben muss ich sie, solange in meinem Bauch der Funke noch überspringen kann, oder wenigstens zum Schweigen bringen für ein paar Stunden, wie früher die Monster, die unter unserem Etagenbett hausten.

Schwester Angelika klopft zaghaft an die Tür der Umkleide, da draußen bereits die Nächste auf ihre Befruchtung wartet. Ich streife Schlüpfer und Jeans über, jede Erschütterung vermeidend, verstaue das Handy in der Handtasche statt in der Hosentasche, damit das neue Leben nicht schon im Mutterbauch verstrahlt wird, und denke, Daneben, und denke, So darfst du jetzt nicht denken, und husche gesenkten Hauptes aus Zimmer 024. Vorbei an dem nervösen Pärchen im Flur, vorbei an den gerahmten Schnappschüssen glücklicher Familien, die sich bei der Ärztin mit dem Zopf und ihren Kollegen und all den Schwester Angelikas aus der Reproduktionsmedizin im UG 2 bedanken, die erst durch ihre Hilfe vollständig wurden und jetzt zu dritt oder zu viert oder zu fünft in die Kamera strahlen, voller Daseinsberechtigung, von Karottenbrei verschmierte Schnäuzchen, Muttis im Pyjama mit dem neuen Menschen im Arm, stolze Vatis über dem Doppelkinderwagen, selbstverfasste Danke-Gedichte, teilweise im Namen des Zwerges unterschrieben, der noch nicht mal seinen eigenen Fuß von dem seiner Urgroßmutter unterscheiden kann. Er wird nie einen Kinderwagen schieben, hat mir Viktor geschworen. Okay, das ist der Deal, hab ich erwidert, klar Mann, klar klar.

Sachte, bläue ich mir ein, mach zart. Jedes Beben unterbinden, das die wenigen willigen Biester aus meiner Gebärmutterhöhle über den langen Hals in meinen Schlüpfer schwemmen könnte, mehret euch, mehret euch. Ich trete sanft in die Pedale, nehme die Bordsteinkante in Zeitlupe und im Stehen, behutsam. Die Jeans zwickt zwischen den Beinen, ich sollte mich von einem bedächtigen Auto den Hügel hinaufziehen lassen, statt mit jedem Tritt neuen Spielraum zwischen den Beckenbodenmuskeln zu schaffen. Erstens, wieso hab ich ausgerechnet heute eine Hose gewählt, die von den Hormonen viel zu eng geworden ist, würdest du dich in so einem abgeschnürten Bauch wohlfühlen, würdest du in Betracht ziehen, dort neun Monate lang zu verweilen, du, neun Monate kommen dir wie die Unendlichkeit vor, erst recht wenn du gerade am Entstehen bist. Zweitens, warum nehme ich an so einem bedeutenden Tag nicht statt des Fahrrads ein Taxi. Kreuzen Sie eine der vier möglichen Antworten an. Ich habe schon genug Schulden, ich bin ein Idiot, mein Unterbewusstsein boykottiert den Vorgang, es ist alles ein bisschen zu schnell gegangen. Vier von vier. Treffer versenkt. Ich bin ein Idiot.

Mit aller Gewalt pocht das Phlegma auf seine Rechte, es legt sich wabbelig um mich, seine Trägerin auf dem Fahrrad, wie eine Bahn frisch eingekleisterter Tapete, die sich schwer schmatzend von der Decke löst, bekritzelt mit all den Fragen und Fragezeichen, mein Haar voller Klebstoff, Zweifel, da sind sie wieder. Was, wenn Viktor all die Unannehmlichkeiten nur auf sich genommen hat, weil er insgeheim fürchtet, mich zu verlieren. Unbewusst natürlich. Er hat nie verraten, was sein guter Freund ihm bei besagtem Bier erzählt hat, in besagter Silvesternacht, die Viktors Kehrtwende einläutete.

Der gute Freund ist Zipfel einer Flickenfamilie, sein Sohn lebt bei der Ex mit Stiefvater und Halbgeschwistern, einmal pro Woche schläft er beim guten Freund, Weihnachten und Geburtstage verbringen beide im Kreis der zusammengewürfelten Familie, auf dem Teppich. Der gute Freund hängt an seinem einzigen Sohn, der Junge ist ihm Freude und Arbeitsansporn, eine Tochter wünscht sich der gute Freund dazu, doch er ist wählerisch, was deren Mutter angeht, seit Jahren hat er sich auf keine feste Beziehung mehr eingelassen, die eine Vermehrung nahelegte.

Ich habe mir vorgestellt, wie der gute Freund Viktor sein...


Höckel, Kerstin
Kerstin Höckel studierte Schauspiel an der Hochschule der Künste Berlin. Nach ein paar Jahren am Theater begann sie, Independentfilme zu drehen und Drehbücher zu schreiben. Höckel lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Berlin und auf ihrem Bauernhof im Schwarzwald

Kerstin HöckelKerstin Höckel studierte Schauspiel an der Hochschule der Künste Berlin. Nach ein paar Jahren am Theater begann sie, Independentfilme zu drehen und Drehbücher zu schreiben. Höckel lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Berlin und auf ihrem Bauernhof im Schwarzwald



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