Hochgatterer Das Matratzenhaus
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-552-06134-7
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 296 Seiten, Gewicht: 1 g
ISBN: 978-3-552-06134-7
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paulus Hochgatterer, geboren 1961 in Amstetten/Niederösterreich, lebt als Schriftsteller und Kinderpsychiater in Wien. Er erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Österreichischen Kunstpreis 2010. Bei Deuticke erschienen: Über die Chirurgie (Roman, 1993, Neuauflage 2005), Die Nystensche Regel (Erzählungen, 1995), Wildwasser (Erzählung, 1997), Caretta caretta (Roman, 1999), über Raben (Roman, 2002), Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen (Erzählung, 2003), Die Süße des Lebens (Roman, 2006), Das Matratzenhaus (Roman, 2010), Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit (2012) und Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war (Erzählung, 2017). 2019 erschien der Roman Fliege fort, fliege fort.
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Zwei
Der schwarze Cayenne, der seit eineinhalb Kilometern an ihm dranklebt und jetzt zum dritten Mal die Scheinwerfer aufblendet, schert nach links aus, zieht mit einem Aufheulen an ihm vorbei und unmittelbar danach mit unverminderter Geschwindigkeit an dem hellgrün gestrichenen Zeitungskiosk, hinter dem sie immer stehen. Er selbst sieht zwanzig Sekunden später eine Handbreit über einer Radarpistole das ausgesprochen zufriedene Gesicht eines Polizisten und weiß, dass es den anderen zirka dreihundert Euro kosten wird, vielleicht auch mehr, unter Umständen sogar einen Kniefall auf dem Kommissariat: In meinem Beruf geht es ohne Führerschein wirklich nicht, Herr Inspektor, Sie sehen das sicher ein.
Raffael Horn steuerte den Volvo bergan, erst durch das Kiefernwäldchen, dann die weite freie Fläche entlang, die in diesem Frühling halb ein Rapsfeld war, halb eine Wiese. Er fuhr betont langsam, da der Anhänger in den engen Kurven mächtig schlingerte und bei jeder Unebenheit vom Boden abhob. Währenddessen ließ er die Szene noch ein paarmal ablaufen wie einen kurzen Film: Lissoni steigt aufs Gas, überholt und fährt ins Radar. Schadenfreude war eines der wenigen Dinge, die das Leben erträglich machten, ganz eindeutig. Man musste entweder ein wenig psychopathisch oder gut analysiert sein, um das zugeben zu können und sich gleichzeitig nicht schlecht zu fühlen.
Lissoni war als Chef der Unfallchirurgie seit sechs Monaten im Amt und hatte von Anfang an demonstriert, dass er nicht die Absicht hatte, Kollegen, die ihre Disziplinen ohne Bohrmaschinen, Knochensägen und Transfusionspumpen ausübten, ernst zu nehmen. Horn war seit fünf Monaten und zwei Wochen sein Feind. Das lag nicht am Porsche. Er denke nicht daran, jemanden aus seiner Abteilung in die Kinderschutzgruppe zu entsenden, hatte Lissoni von oben herab kundgetan – wenn ein Kind unter Misshandlungsverdacht an die Unfall komme, werde angezeigt und aus, da brauche es kein Gerede, egal, was bisher üblich gewesen sei. Lissoni war blond und solariumsbraun; er trug weiße Ralph-Lauren-Polo-Shirts und einen fetten Siegelring. Auf Klischees war Verlass.
Der Vorplatz des Hauses war leer. Horn legte den Rückwärtsgang ein, indem er mehrmals auf die Kupplung trat. Das funktionierte seit einiger Zeit nur noch so. In der Werkstätte hatte man lapidar gesagt: Zwölf Jahre Bergstraßen, was wollen Sie? Er mochte den Volvo trotzdem, und nachdem er Irene zu ihrem Fünfundvierziger den kleinen Offroad-Suzuki geschenkt hatte, waren auch die Mäkeleien von ihrer Seite verstummt. Er manövrierte den Anhänger nahe an die Vorgartenbegrenzung heran, stieg aus und löste die Abdeckplane. Der Harzgeruch der Rindenmulchladung quoll ihm entgegen. Er atmete tief ein. Wie ein Mentholbonbon. Es ist Frühling, dachte er, die Luft ist frisch und ich habe einen Gegner besiegt.
Er holte Rechen, Schaufel und Scheibtruhe aus dem Schuppen, räumte ein paar abgebrochene Zweige vom Rasen und begann den Mulch abzuladen. Er verteilte ihn unter der Johannisbeerhecke, unter den Rhododendren, zwischen den Loniceren, Rosen und Hortensien. Auch die beiden Glyzinen, die Irene so liebte und er gar nicht, kriegten was ab. Ich werde zum Gärtner, dachte er, ich verkomme zum Landmenschen. Ich schaufle Rindenmulch in eine Scheibtruhe, und es macht mir Spaß. Wenn mir das vor fünfzehn Jahren jemand gesagt hätte, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Er dachte an echte Landmenschen, an Lisbeth Schalk zum Beispiel, und an die Wiesenblumensträuße, die sie regelmäßig auf die Station schleppte, manche in Rosa, manche in Gelb, manche bunt durcheinander. Raimund nannte sie eine Elbenprinzessin, und wenn man ehrlich war, gab es für eine Psychologin schlimmere Bezeichnungen. »Ich habe aber keine spitzen Ohren«, sagte sie; Raimund darauf: »Doch, haben Sie«, und sie langte tatsächlich prüfend nach oben. Lisbeth Schalk wirkte, als käme sie direkt aus einem Heimatfilm. Ihre Testbefunde waren nicht so umwerfend wie ihre Blumensträuße, aber das war eine andere Geschichte.
Horn stampfte die Rindenspäne rings um den Nussbaum, den er im Herbst gepflanzt hatte, fest. Fertig. Ihm war warm. Er krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. Etwa ein Drittel der Ladung war übrig geblieben. Er löste die Kupplung und schob den Anhänger über den Rasen an die Rückwand des Schuppens. Den größten Teil des Mulches kippte er heraus, für den letzten Rest nahm er die Schaufel. Er formte einen gleichmäßigen Kegel. Irene würde die Sache trotzdem nicht passen. Ein Garten mit einem Rindenmulchhaufen war kein perfekter Garten.
»Du wirst Blasen an den Händen bekommen.« Tobias lehnte an der Scheunenecke und grinste süffisant. »Eine Gefahr, der du dich in den letzten Jahren nicht ausgesetzt hast«, antwortete Horn, »woher kommst du überhaupt?«
»Ich gehe in die Schule, wenn ich dich erinnern darf – siebente Klasse.«
Horn warf die Schaufel auf die Ladefläche. »Hilf mir«, sagte er. Gemeinsam beförderten sie den Anhänger in die Garage. Tobias seufzte mehrmals gequält auf. Vätern adoleszenter Söhne sollte man ein gewisses Züchtigungsrecht einräumen, dachte Horn – ab und zu ein kleiner Hieb mit dem Weidenstöcklein, das wäre schon was. Er schloss das Garagentor. Ein großer Perlmuttfalter taumelte auf sie zu und setzte sich für eine Sekunde auf Tobias’ Brust. »Ein Perlmuttfalter«, sagte Horn. Tobias zuckte mit den Schultern. Irgendetwas habe ich übersehen, dachte Horn, während sie über den Kies aufs Haus zugingen. Er kam nicht drauf.
»Hast du Hunger?«
Tobias schüttelte den Kopf.
»Bist du krank?«
»Nur weil ich keinen Hunger habe? Der Dauerhunger hört auch irgendwann einmal auf. Wie alles im Leben.«
Horn durchforstete die Brotlade. Zwei harte Semmeln und eine Packung Toastbrot, die an dem einen Ende kleine blaugrüne Schimmelpunkte angesetzt hatte. »Ist eh besser, dass du keinen Hunger hast«, sagte er. »Wusste ich’s doch«, sagte Tobias.
»Wusstest du was?«
»Dass ich in diesem Haus nicht ordentlich ernährt werde.«
»Verschwinde!«, sagte Horn.
»Rausgeworfen werde ich auch.«
»Verschwinde!«
Horn füllte den Wasserbehälter der Espressomaschine und legte ein Tab ein. Er hörte, wie Tobias davonschlurfte. Er geht mir auf die Nerven, dachte er, und ich möchte nichts von ihm wissen, nichts von Französisch oder Latein oder Physik. Ich frage ihn absichtlich nicht, und ich weiß, dass das schlecht ist. Er drückte auf den Knopf, die Espressomaschine brummte, und am Ende spuckte sie heftig. Er rührte einen Löffel Zucker in den Kaffee und überlegte eine Weile. Dann ging er vors Haus, setzte sich auf die Bank und schaute auf die Stadt hinunter. Keine Zeitung, kein Buch, nichts als eine Tasse Kaffee, dachte er – wie ein alter Mann; nur die Katze fehlt. Er blickte sich um. Keine Spur von ihr. Oben auf einer der Fichten des Waldrandes saß bewegungslos ein Habicht.
Er dachte an die Auseinandersetzung, die er am Vormittag mit Krenn, dem kaufmännischen Direktor des Krankenhauses, gehabt hatte. Es war um den Dienstpostenplan gegangen, speziell um die Frage einer dritten Facharztstelle für sein Departement, und Krenn hatte am Ende gesagt, man müsse leider auch berücksichtigen, dass rein PR-mäßig die psychiatrischen Patienten keinen Realgewinn für das Haus bedeuteten. Daraufhin war er, Horn, aufgestanden, hatte gesagt: »Das Problem ist, dass der Mensch insgesamt keinen Realgewinn bedeutet, auch Sie nicht, Herr Direktor«, und hatte die Tür hinter sich zugeknallt. Krenn war neben seinem Job stellvertretender Landesparteisekretär der Wirtschaftspartei, ging zweimal pro Jahr mit dem Bürgermeister auf die Jagd und neigte zur Zwanghaftigkeit. Soll er mich doch hinauswerfen, dachte Horn. Er stellte sich vor, wie er es Irene erzählen würde: »Du, erschrick bitte nicht, aber sie haben mich heute gekündigt«, und wie sie ihn aus zusammengekniffenen Augen anschauen und fragen würde: »Und was wird jetzt aus meinem Bedürfnis nach Luxus?«
Die Luft über der Stadt war trüb und unruhig. Die Türme der Stiftskirche schienen zu schwanken, ebenso die Stahlschlote des Holzwerks, und mehrmals hatte er den Eindruck, als schwappe das Wasser des Sees über die Uferpromenade. Vielleicht liegt es auch nur an meinen Augen, dachte er, vielleicht habe ich längst einen grauen Star und weiß es nur noch nicht. Christina, seine Stationsschwester, legte ihm zumindest einmal pro Monat nahe, zum Augenarzt zu gehen. Er konnte diese Art von Mütterlichkeit nicht ausstehen und sagte in der Regel nichts darauf.
Irene hob beim zweiten Versuch ab. »Nimmst du auf dem Heimweg bitte Brot mit«, sagte er, »Tobias verhungert.« »Rein technisch wird das nicht gehen«, sagte sie.
»Spielend wird das gehen. Du musst ihn dir nur vorstellen.«
»Ich meine den Einkauf, nicht sein Verhungern. Ich habe jetzt noch zwei Schüler und danach Orchesterprobe. Vergessen?«
Sie hatte es ihm gesagt, er erinnerte sich genau. Sie waren beim Frühstück gesessen und sie hatte ihm erzählt: Karsamstag, Abendkonzert, Mozart, Requiem, und Bruckner, Te Deum, er hatte gesagt: »So ein deprimierendes Programm«, und sie hatte geantwortet, der Herr Psychiater habe vom emotionalen Gehalt von Musik offenbar keine Ahnung.
»Was heißt vergessen?«, sagte er, »du hast mit keinem Wort eine Probe erwähnt.«
»Wir sind beim Frühstück gesessen. Du hast etwas völlig Unqualifiziertes über die Naivität Anton Bruckners gesagt und ich habe mich aufgeregt. Immer noch Gedächtnisausfall?«
Horn sagte, sie phantasiere, er habe am Abend die Angehörigengruppe zu leiten und vor kurzem zwei steinharte Semmeln und schimmeliges Toastbrot in Händen gehalten, und sie...