E-Book, Deutsch, Band 2, 1120 Seiten
Reihe: Das Kind des Weitsehers
Roman - Erstmals auf Deutsch
E-Book, Deutsch, Band 2, 1120 Seiten
Reihe: Das Kind des Weitsehers
ISBN: 978-3-641-17763-8
Verlag: Penhaligon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Biene, die Tochter des ehemaligen königlichen Assassinen Fitz Weitseher, wurde entführt. Die Diener von Clerres wollen sie unbedingt unter ihre Kontrolle bringen, und dafür ist ihnen jedes Mittel Recht. Denn sie haben längst erkannt, wovor Fitz die Augen verschlossen hat. Biene ist die Erbin des Narren und damit die nächste Weiße Prophetin.
Doch Biene wäre nicht Fitz Tochter, wenn sie die Entführung tatenlos über sich ergehen lassen würde. Sie plant bereits ihre Flucht ...
Robin Hobb wurde in Kalifornien geboren, zog jedoch mit neun Jahren nach Alaska. Nach ihrer Hochzeit ließ sie sich mit ihrem Mann auf Kodiak nieder, einer kleinen Insel an der Küste Alaskas. Im selben Jahr veröffentlichte sie ihre erste Kurzgeschichte. Seither war sie mit ihren Storys an zahlreichen preisgekrönten Anthologien beteiligt. Mit »Die Gabe der Könige«, dem Auftakt ihrer Serie um Fitz Chivalric Weitseher, gelang ihr der Durchbruch auf dem internationalen Fantasy-Markt. Ihre Bücher wurden seither millionenfach verkauft und sind Dauergäste auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Im November 2021 wurde ihr der renommierte World Fantasy Award für ihr Lebenswerk verliehen. Robin Hobb hat vier Kinder und lebt heute in Tacoma, Washington.
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Kapitel 2 HOCHHERR FELDSPAT Was ist ein Geheimnis? Es ist weit mehr als Wissen, das man mit nur wenigen oder vielleicht sogar nur mit einem anderen teilt. Es ist Macht. Es ist ein Band. Es kann ein Zeichen tiefen Vertrauens sein oder die düsterste nur mögliche Bedrohung. Es liegt Macht darin, ein Geheimnis zu bewahren, und Macht darin, es zu enthüllen. Manchmal erfordert es einen sehr weisen Menschen, um zu ergründen, welcher Weg zu größerer Macht führt. Alle Menschen, die Macht begehren, sollten Geheimnissammler werden. Es gibt kein Geheimnis, das zu klein wäre, um wertvoll zu sein. Jeder misst seinen eigenen Geheimnissen viel höheren Wert bei als denen anderer. Eine Küchenmagd ist womöglich eher willens, einen Fürsten zu verraten, als zuzulassen, dass sich der Name ihres heimlichen Liebhabers herumspricht. Sei sehr zurückhaltend damit, deine gehorteten Geheimnisse weiterzuerzählen. Manche verlieren jegliche Macht, wenn sie erst ausgeplaudert sind. Sei sogar noch vorsichtiger damit, deine eigenen Geheimnisse weiterzugeben, wenn du dich nicht als Marionette wiederfinden willst, deren Fäden ein anderer zieht, um sie zum Tanzen zu bringen. Traute Stümmel – Das andere Werkzeug des Assassinen Ich hatte nicht viel gegessen, aber der Appetit war mir vergangen. Ich räumte unseren Tisch auf. Der Narr schlief entweder oder täuschte es perfekt vor. Ich fand mich mit seinem Schweigen ab. Mit einer gewissen Beklommenheit kleidete ich mich in die Gewänder, die Chade dem Hochherrn Feldspat zur Verfügung gestellt hatte. Sie passten mir recht gut, saßen um Brust und Bauch aber lockerer, als ich erwartet hatte. Ich war überrascht, wie bequem alles war. Ich verlagerte ein paar Gegenstände aus einer verborgenen Tasche in die andere und setzte mich dann hin, um die Schuhe anzuziehen. Sie hatten höhere Absätze, als ich gewohnt war, und ragten weit über meine Zehen hinaus, um in einer hochgebogenen Spitze zu enden, die mit kleinen Troddeln geschmückt war. Ich machte versuchsweise ein paar Schritte in ihnen und ging dann fünf Mal das Zimmer auf ganzer Länge ab, bis ich sicher war, dass ich mich gut genug darin bewegen konnte, um nicht über meine eigenen Füße zu stolpern. Chade hatte einen großen Spiegel von vorzüglicher Qualität, der ebenso sehr seiner eigenen Eitelkeit wie der Ausbildung seiner Adepten diente. Ich erinnerte mich an eine lange Nacht, in der er mich gezwungen hatte, scheinbar ewig davor stehen zu bleiben und zu versuchen, erst aufrichtig zu lächeln, dann entwaffnend, dann sarkastisch, dann demütig … Seine Liste war immer länger geworden, bis mir das Gesicht wehgetan hatte. Jetzt hob ich einen Kerzenleuchter hoch und sah mir den Hochherrn Feldspat von Turmeshöh an. Es lag auch noch eine Mütze bereit, die sehr einem weichen Beutel ähnelte. Sie war mit Goldstickerei und einer Reihe Zierknöpfe gesäumt und an einer schönen Perücke mit braunen Ringellocken befestigt. Ich setzte sie mir auf den Kopf und fragte mich, ob sie wirklich so schlaff zur Seite hängen sollte, wie sie es tat. Chade bewahrte ein Hausierertablett voll verschiedener Schmuckstücke im Schrank auf. Ich suchte mir zwei angeberische Ringe aus und hoffte, dass sie meine Finger nicht grün färben würden. Dann wärmte ich Wasser, rasierte mich und nahm mich noch einmal in Augenschein. Ich hatte mich gerade damit abgefunden, durch die stinkenden Gewänder in Hochdame Quendels altem Schrank aus dem Zimmer kriechen zu müssen, als ich einen leichten Luftzug spürte. Ich blieb still stehen, lauschte und fragte genau im rechten Augenblick: »Findest du nicht, dass es Zeit wird, dass du mir das Geheimnis anvertraust, wie man diese Tür auslöst?« »Dazu bin ich jetzt wohl gezwungen, da du Hochherr Feldspat bist und im Gemach unten lebst.« Chade trat um die Ecke, blieb stehen und nickte beifällig zu meinem Aufzug. »Der Hebel ist nicht dort, wo du ihn vermuten würdest. Er ist noch nicht einmal an dieser Wand. Sieh her.« Er ging zum Kamin, schwang einen Ziegel samt Mörtel beiseite und zeigte mir einen schwarzen Eisenhebel. »Er klemmt etwas. Ich sorge dafür, dass der Junge ihn nachher ölt.« Mit diesen Worten betätigte er den Hebel, und der Luftzug wurde schlagartig abgeschnitten. »Wie öffnet man die Tür von meinem alten Zimmer aus?« Ich hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie viele Stunden ich als Junge damit verbracht hatte, nach dem Türöffner zu suchen. Er seufzte und lächelte dann. »Eines nach dem anderen fallen meine Geheimnisse dir zu. Ich muss gestehen, dass mich deine Unfähigkeit, jenen Hebel zu finden, immer amüsiert hat. Ich hatte eigentlich gedacht, dass du wenigstens zufällig darüberstolpern würdest. Er ist in der Vorhangschnur versteckt. Schließ die Vorhänge vollständig und zieh dann ein letztes Mal an der Schnur. Du wirst nichts sehen oder hören, aber dann kannst du die Tür aufschieben. Und jetzt weißt du Bescheid.« »Jetzt weiß ich Bescheid«, bekräftigte ich. »Nachdem ich mir ein halbes Jahrhundert lang die Frage gestellt habe.« »So lange doch sicher noch nicht!« »Ich bin sechzig«, rief ich ihm ins Gedächtnis. »Und du hast mich ins Handwerk eingeführt, als ich noch keine zehn Jahre alt war. Also, ja, ein halbes Jahrhundert und noch länger.« »Erinnere mich nicht an mein Alter«, entgegnete er und setzte sich dann seufzend hin. »Es ist nicht anständig von dir, über das Verstreichen der Zeit zu schwatzen, wenn sie dir doch anscheinend nicht das Geringste anhaben kann. Schieb die Mütze etwas mehr in den Nacken. Ja, genau so. Bevor du gehst, röten wir deine Nase ein bisschen und verleihen deinen Wangen Farbe, damit es aussieht, als hättest du schon im Voraus etwas getrunken. Und wir machen deine Augenbrauen dichter.« Er neigte den Kopf zur Seite, um mich kritisch zu mustern. »Das sollte ausreichen zu verhindern, dass irgendjemand dich erkennt. Was ist das?«, fragte er und zog Bienes Päckchen zu sich heran. »Etwas, das ich gern unverzüglich nach Weidenhag schicken würde. Geschenke für Biene. Ich musste sie unverhofft und auf äußerst seltsame Weise verlassen. Es ist das erste Winterfest seit dem Tod ihrer Mutter. Ich hatte gehofft, bei ihr zu sein.« »Es wird noch heute auf den Weg gebracht«, versprach er mir feierlich. »Ich habe heute Morgen einen kleinen Trupp Gardisten dorthin entsandt. Wenn ich gewusst hätte, dass du eine Botschaft hast, hätte ich sie ihnen mitgegeben. Sie reisen schnell.« »Es enthält kleine Mitbringsel für sie vom Markt. Als verspätete Winterfestüberraschung. Warte … du hast einen Trupp Gardisten geschickt? Warum?« »Fitz, wo bist du nur mit deinen Gedanken? Du hast Ungelitten und Fitz-Vigilant ungeschützt dort zurückgelassen. Du hast nicht einmal Torwachen. Zum Glück habe ich ein, zwei Leute auf Weidenhag, die ihr Geschäft verstehen. Kraftprotze sind zwar nicht dabei, aber sie haben scharfe Augen. Sie werden Lant warnen, wenn sie irgendetwas Bedrohliches erspähen. Und wenn das Wetter es zulässt, wird meine Truppe binnen drei Tagen dort sein. Es ist eine ungehobelte Bande, aber soweit ich sehe, bringt ihr Kommandant sie langsam zur Vernunft. Hauptmann Wacker hält sie an der kurzen Leine, bis er sie loslässt. Und dann kann nichts sie aufhalten.« Er klang sehr zufrieden mit seiner Wahl und trommelte mit den Fingern auf der Tischkante herum. »Allerdings ist der tägliche Vogel nicht eingetroffen, aber das kann bei schlechtem Wetter ja bisweilen vorkommen.« »Der tägliche Vogel?« »Fitz, ich bin ein gründlicher Mann. Ich wache über die Meinen. Das schließt dich mit ein, obwohl du schon seit so vielen Jahren fern von mir lebst. Und wenn ein Vogel ohne Nachricht eintrifft, weiß ich, dass auch mit Lant und Ungelitten alles zum Besten steht. Es ist nur vernünftig.« Ich hatte gewusst, dass er mindestens einen Beobachter auf Weidenhag postiert hatte, aber nicht, dass ihm täglich Bericht erstattet worden war. Nun ja – kein Bericht. Ein Vogel ohne Botschaft bedeutete, dass alles in Ordnung war. »Chade, ich schäme mich, dass ich keinen Gedanken auf Ungelitten und Fitz-Vigilant verschwendet habe, als ich den Narren hergebracht habe. Du hattest sie mir anvertraut. Aber die Lage war ernst, und so leid es mir tut: Das hat alle anderen Gedanken aus meinem Kopf verdrängt.« Er nickte, noch während ich sprach; seine Miene war ernst, sein Mund ausdruckslos. Ich hatte ihn enttäuscht. Er räusperte sich und wechselte sehr gezielt das Thema. »So, was meinst du? Kannst du für zwei, drei Abende in der Maske des Hochherrn Feldspat auftreten? Es käme mir sehr gelegen, einen Mann zur Hand zu haben, der sich unter die Menge mischt und weiß, wie man zuhören und ein Gespräch lenken muss.« »Ich glaube, das kann ich immer noch.« Ich schämte mich, weil ich ihn enttäuscht hatte. Dies war das Mindeste, was ich tun konnte. »Was hoffst du in Erfahrung zu bringen?« »Oh, das Übliche. Alles, was interessant ist. Wer versucht, hinter dem Rücken der Krone Abmachungen zu treffen? Wer hat Bestechungsgelder angeboten, um bessere Handelsbedingungen zu erwirken? Wer hat welche angenommen? Wie steht die Allgemeinheit dazu, die Drachen zu beschwichtigen? Die wertvollsten Informationen, die du herausfinden könntest, wären aber natürlich all die kleinen Tatsachen, mit denen wir nicht rechnen.« »Habe ich bestimmte Zielpersonen?« »Fünf. Nein, vielleicht sechs.« Er kratzte sich am Ohr. »Ich vertraue darauf, dass du eine Fährte findest und ihr folgst. Ich mache dir ein paar...