E-Book, Deutsch, 832 Seiten
Hilburn Johnny Cash
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8270-7915-2
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Biographie
E-Book, Deutsch, 832 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7915-2
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1
DYESS UND DER TRAUM
I
Die vier Kilometer Fußmarsch von dem staatlich subventionierten Fünf-Zimmer-Farmhaus bis ins Ortszentrum des ländlichen Dyess im US-Bundesstaat Arkansas waren gerade lang genug, dass sich der kleine J. R. Tagträumen hingeben konnte. Jahrelang ging der dritte Sohn von Ray und Carrie Cash mit seinen Schulfreunden auf der schmalen Schotterstraße. Alle stellten sich vor, sie wären Cowboyfilm-Stars wie Gene Autry und Tex Ritter. Am meisten genoss es J. R. jedoch, wenn er allein auf der Straße war, besonders nachts, wenn sich die Dunkelheit wie ein Schutzschild gegen den Rest der Welt anfühlte, der es ihm gestattete, einem Traum nachzuhängen, der weitaus wichtiger war, als er es sich eingestehen wollte.
An solchen Abenden sang J. R. immer vor sich hin, wie er später Freunden erzählte, mit denen er auf seine Kindheit zu sprechen kam. Er habe dies zum Teil getan, um seine Nerven zu beruhigen, wenn er im Gras die Klapperschlangen rascheln oder ein paar Hundert Meter entfernt im Wald die herumstreifenden Panther heulen gehört habe. Jahre später schmunzelten einige seiner alten Kumpels und sogar seine jüngere Schwester Joanne bei dem Gedanken, dass es im Wald Panther gegeben haben sollte. Schlangen – ja, vielleicht sogar die eine oder andere Wildkatze. Aber von Panthern hatte noch nie jemand gehört. »Er hatte eine blühende Fantasie«, sagt A. J. Henson, der manchmal mit seinem Freund auf der Schotterstraße unterwegs war. Sogar Cash selbst räumte oft ein, dass er sich bei einer guten Geschichte niemals von Fakten beirren lasse. Wie Joanne sich ausdrückte, stand hinsichtlich der Jahre in Dyess eines jedoch außer Frage: J. R. sang für sein Leben gern.
Musik hatte für ihn etwas, das sogar noch magischer war als das Kino. Es war eine Faszination, die man ihm in die Wiege gelegt hatte. Seine Familie, insbesondere seine Mutter, hatte stets Trost und Inspiration in Liedern gesucht. Er war gerade in die Grundschule gekommen, da wusste J. R. bereits, dass er ein Sänger im Radio werden wollte, und begann, die Schotterstraße als seine eigene, geheime Bühne zu betrachten. Wenn er besonders gut gelaunt war, hielt er nach einem Song inne, blickte auf zum Mond von Arkansas und verbeugte sich.
Der erste Song, an den sich J. R. erinnern konnte, war die alte Hymne »I Am Bound for the Promised Land«. Er war erst drei Jahre alt, aber er stimmte in den Refrain mit ein, den seine Mutter während der 400Kilometer langen Fahrt in einem Pritschenwagen anstimmte, der die Familie und ihre wenigen Möbel quer durch Arkansas brachte: »Oh who will come and go with me? / I am bound for the Promised Land« (Oh, wer wird kommen und mit mir gehen? / Ich bin unterwegs ins Gelobte Land). Sie hatten seinen Geburtsort Kingsland im südlich gelegenen Hügelland des Staates verlassen und zogen nach Dyess, ins fruchtbare, ebene schwarze Deltaland in der nordöstlichen Ecke von Arkansas. Dank Franklin Delano Roosevelts New Deal wollten sie dort in Anspruch nehmen, was den Worten der Mutter nach ihr eigenes Gelobtes Land auf Erden war.
Die meiste Zeit während der zweitägigen Fahrt im März des Jahres 1935 kauerten sich J. R. und seine beiden älteren Brüder Roy (geboren 1921) und Jack (1929) unter einer Plane auf der Ladefläche des Lasters zusammen, um sich vor der eisigen Kälte und dem Regen zu schützen. Regelmäßig krachte der Wagen in tiefe Schlaglöcher, sodass die Jungen fürchteten, die Räder könnten sich jeden Augenblick lösen, was die Reise auf den schlammigen Straßen noch beängstigender machte. Ihre Mutter versuchte, sie und ihre beiden Töchter Reba (1934) und Louise (1923) mit Musik und der Versicherung zu beruhigen, dass Gott über die Familie wache.
Die Geschichte von Dyess hat ihre Wurzeln in der Großen Depression, während derer die meisten Farmer im Staat, darunter auch J. R.s Vater, ums Überleben kämpften. Als 1932 der Preis für einen Fünfhundert-Pfund-Ballen Baumwolle von 125 auf 35Dollar fiel, brach unter den Farmern Panik darüber aus, wie sie ihre Familien ernähren sollten. Präsident Roosevelt kam – so die beliebte Version mit einer komplizierten bürokratischen Vorgeschichte – mit einem Plan zu Hilfe, verzweifelten Arbeitern die Chance auf eine sicherere Zukunft zu geben. Über die Federal Emergency Relief Administration (FERA) wurden Mittel bereitgestellt, mit denen im ganzen Land kleine kooperative Gemeinden errichtet wurden, wo ausgewählte Farmer ein Zuhause, 8Hektar Land und einen jährlichen Zuschuss für Nahrung und Kleidung erhielten. Das soziale Experiment erforderte auch den Bau neuer Betriebs- und Dienstleistungsgebäude, etwa einer Baumwoll-Entkörnungsanlage, eines Gemischtwarenladens, eines Restaurants, einer Schule, eines Krankenhauses, eines Postamts und einer Tankstelle.
Unter der offiziellen Bezeichnung »Colonization Project No. 1« war Dyess eine der ersten Kooperativen. Im Mai 1934 hatten über 1300 arbeitstaugliche Sozialhilfeempfänger auf einem fast 6500 Hektar großen Streifen Land mit dem Bau von Häusern und Straßen begonnen. Zur selben Zeit begann die Regierung, Anträge für das Farm-Förderprogramm in Dyess entgegenzunehmen. Nur Kaukasier waren zugelassen. Es handle sich nicht um einen Akt der Wohlfahrt, sagte man den Bewerbern. Die Neuankömmlinge in der Stadt müssten das Land hart bearbeiten und dann den durch die Ernte, hauptsächlich Baumwolle, erzielten Gewinn dazu verwenden, der Regierung die Kosten für Unterkunft, das Land und die finanzielle Unterstützung zurückzuzahlen. Erst dann könnten sie die vollen Eigentumsrechte an Grund und Boden erwerben. Als Ray Cash im Radio von dem Dyess-Projekt hörte, beschloss er sofort, sich zu bewerben.
Im ganzen Land standen Tausende mittelloser Männer in den Regierungsbüros Schlange, um sich für eine der lediglich 500Farmen zu bewerben. Ray Cash schüchterte das nicht ein. Er stellte sich als der Typ hart arbeitender, fleißiger Familienvater und eisern patriotischer Amerikaner dar, den die Regierungsbehörden nach seinem Dafürhalten suchten. Auf väterlicher Seite reichten seine Wurzeln in Nordamerika bis ins Jahr 1667 zurück, als einer seiner Vorfahren, William Cash, auf dem Schiff Good Intent von Schottland aus den Atlantik überquerte und sich im Essex County in Massachusetts niederließ. Williams Nachkömmlinge zogen Anfang des 18.Jahrhunderts nach Virginia, wo Ray Cashs Großvater Reuben Cash geboren wurde. Nachdem Reubens Plantage im Bürgerkrieg von General William T. Shermans Truppen zerstört worden war, zog der ehemalige Konföderationssoldat 1866 nach Arkansas. Rays Vater William Henry Cash war damals sechs. Später wurde er Farmer und Baptist, der als Wanderprediger vier weit auseinanderliegende Bezirke betreute. Ray wurde 1897 als eines von zwölf Kindern geboren.
Im mündlichen Antragsverfahren für das Dyess-Projekt hob Ray nicht nur seinen Militärdienst hervor (er hatte während des Ersten Weltkrieges kurz in Frankreich gedient), sondern auch, wie hart er gearbeitet hatte, um seine Familie durchzubringen, als die Landwirtschaft unprofitabel geworden war. Er hatte alle möglichen Jobs angenommen, war kilometerweit zu Fuß gegangen, um in einem Sägewerk Holz zuzuschneiden, oder war auf einen Güterzug nach Charleston, Mississippi, aufgesprungen, um dort beim Rückbau einer Chemiefabrik zu helfen. Dennoch gab es keine Garantie dafür, dass man ihn auswählte. Ray wollte aber für sich und seine Familie eine gesicherte Lebensgrundlage schaffen. Daher litt er nach der strengen Befragung eine Woche lang an Schlaflosigkeit, bis er die frohe Nachricht erhielt. Ray Cash war einer von nur fünf Bewerbern aus dem gesamten Cleveland County, die für das Programm zugelassen wurden.
Nach der anstrengenden Lastwagenfahrt von Kingsland trafen die Cashs in ihrem neuen Haus in Dyess ein, das in den Unterlagen der Kolonie als Haus Nummer 226 in Straße 3 geführt wurde. Auf Fotos der ersten Dyess-Häuser wirken die Behausungen primitiv und spartanisch und erinnern an Walker Evans’ eindrückliche Bilder amerikanischer Armut während der Weltwirtschaftkrise. Tatsächlich war durch die tagelangen Regenfälle der Schlamm auf dem Gelände so tief und dick geworden, dass Ray den Laster ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt parken und J. R. den Rest des Weges tragen musste. Für die Cashs sah ihr neues Heim dennoch wie eine Villa aus. Es war weiß gestrichen, mit einer grünen Zierleiste, und statt Jutesäcken hatte es Glasscheiben in den Fenstern. Die siebenköpfige Familie inspizierte Haus und Scheune und bewunderte sie, wie Bauern eine Preiskuh bestaunen.
Die Begeisterung legte sich jedoch rasch, als Ray und sein ältester Sohn Roy mit der beschwerlichen Arbeit begannen, das Land urbar zu machen. In Cash. Die Autobiografie beschrieb Johnny Cash 1997 das unwirtliche Land der Kolonie als »Es war Dschungel – richtiger Dschungel. Pappeln und Eschen und Hickorybäume sowie Buscheichen und Zypressen. Die Bäume, Kletterpflanzen und Büsche bildeten an manchen Stellen ein solches Dickicht, dass es kein Durchkommen mehr gab. Ein Teil stand unter Wasser, ein Teil war reinster Schlamm.«
Wie Cash berichtete, beackerten sein Vater und sein Bruder das Land vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Nacht, sechs Tage die Woche. »Sie begannen an der höchsten Stelle und arbeiteten sich Meter um Meter nach unten vor. Mit Sägen, Äxten und langen Macheten bahnten sie sich ihren Weg, und dann sprengten und verbrannten sie die Baumstümpfe.« So gewaltig war diese Schinderei, dass die Cashs bis zum Beginn der Pflanzperiode in jenem ersten Frühling nur etwa gut einen der acht Hektar freilegen konnten....