E-Book, Deutsch, Band 2, 768 Seiten
Reihe: Werke
Hilbig / Bong / Hosemann Werke, Band 2: Erzählungen und Kurzprosa
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-10-400095-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 768 Seiten
Reihe: Werke
ISBN: 978-3-10-400095-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wolfgang Hilbig, geboren 1941 in Meuselwitz bei Leipzig, gestorben 2007 in Berlin, übersiedelte 1985 aus der DDR in die Bundesrepublik. Er erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Berliner Literaturpreis, den Literaturpreis des Landes Brandenburg, den Lessing-Preis, den Fontane-Preis, den Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim, den Peter-Huchel-Preis und den Erwin-Strittmatter-Preis. Im S. Fischer Verlag erscheint die siebenbändige Ausgabe seiner Werke, »eine der wichtigsten Werkausgaben der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (Uwe Schütte, Wiener Zeitung). Wolfgang Hilbig WERKE Band I GEDICHTE Band II ERZÄHLUNGEN UND KURZPROSA Band III DIE WEIBER - ALTE ABDECKEREI - DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (Erzählungen) Band IV EINE ÜBERTRAGUNG (Roman) Band V »ICH« (Roman) Band VI DAS PROVISORIUM (Roman) Band VII ESSAYS, REDEN, INTERVIEWS Literaturpreise: 1983 Brüder-Grimm-Preis 1985 Förderpreis der Akademie der Künste, Berlin 1987 Kranichsteiner Literaturpreis 1989 Ingeborg-Bachmann-Preis 1992 Berliner Literaturpreis 1993 Brandenburgischer Literaturpreis 1994 Bremer Literaturpreis 1996 Literaturpreis der Deutschen Schillerstiftung, Dresden 1997 Lessingpreis des Freistaates Sachsen 1997 Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste 1997 Hans-Erich-Nossack-Preis (Kulturkreis d. dt. Wirtschaft) 2001 Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim 2002 Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik 2002 Georg-Büchner-Preis 2002 Walter-Bauer-Literaturpreis der Stadt Merseburg 2007 Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg
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Idylle
Es wuchs ein so einladendes Gras unter den Bäumen. Schon seit einer Stunde hatte ich eine Wut auf meinen hellen Anzug, mein weißes Hemd, ärger noch zürnte ich der vollgestopften Tasche, die ich zu tragen hatte. Der Fuhrmann eines in der beginnenden Hitze träger werdenden Pferdefuhrwerks, der mich ein Stück mitgenommen hatte, hatte mir einen Weg abseits der Überlandstraße empfohlen, dieser sei der kürzere Weg zur Stadt; ich war gleich nach der Morgendämmerung aufgebrochen, in der Stadt erwartete mich eine neue Mietwohnung. Nun schätzte ich die Zeit auf acht Uhr, es war ein von Sonne verzauberter Septembermorgen. Es war ein nördlicher Landstrich, das Land war eben wie ein Tisch, und mir schien, es gäbe, ganz gegen die Erwartung, besonders lang anhaltende Sommer in dieser Gegend, von Anfang Mai bis Ende September beherrschte der Sommer die Wälder. Mein Weg führte durch baumbestandene Wiesen, die Bäume standen nicht zu dicht, und doch konnte ich nicht weit vorausschauen. Es wollte schon heiß werden, meine neuerworbenen Schuhe waren mit hellem Staub bedeckt, meine Füße schmerzten leicht in dem noch ungeschmeidigen Leder, ich dachte daran, daß das Gras am Wegrand noch kühl und frisch sein mußte, niemals in meinem dreißigjährigen Leben hatte ich wirklich im Gras gelegen, welch unglückseliges Versäumnis, welche bösartigen Umstände hatten mich gehindert, diese Wohltat auszukosten. Sich ins Gras legen, sich ganz dem schwerelosen Rauschen ergeben, das durch die Trommelfelle, die geschlossenen Lider in das gestörte Gehirn dringt, dies mußte es gewesen sein, dessen Entbehrung der niemals bewußt zu machende, stumme Fluch war, der allezeit über meinem Leben hing. Ich ging weiter, seit dem frühen Morgen rauchte ich mit der freien Hand eine Zigarette nach der anderen, das Nikotin brannte mir auf der Zunge, und ein dickflüssiger Schleim in meinem Mund war von giftiger Bitterkeit; ich war zu zeitig aufgestanden am Morgen, doch war mein Körper noch kaum müde, meine Nerven waren müde, es hielt sich etwas wie eine halbe Betäubung in meinem Kopf. Bevor ich mich wirklich hinlegte, wurden die Bäume vor mir dichter, ich hörte ein Rauschen, als ob gerade vor mir ein Wasser rauschte, eine hohe Hecke von Unterholz stand plötzlich zwischen den Bäumen und gewährte meinem Weg, ein gestampfter Pfad nur mehr, einen winzigen Durchschlupf. Hinter der Hecke, als ich sie durchquert hatte, erblickte ich einen breiten Bach, der durch ein Wehr gestaut wurde, rauschend fiel das Wasser über dieses Wehr und bestand in einem Geräusch über der Gegend, das wie eine unsichtbare Wolke wassernen Staubs war. Ich mußte mich erst an dieses Rauschen gewöhnen, um die übrigen Laute des Morgens darüber wieder aufnehmen zu können. Längs des Wehrs führte eine Holzbrücke über den Wasserlauf hinweg, mitten in einen großen verwilderten Garten oder eher eine Art Obstplantage hinein, um die sich lange Zeit niemand gekümmert haben mochte. Das Gezweig der Bäume wuchs verworren und unverschnitten, die ungeernteten Früchte waren herabgefallen und faulten im Gras, von Wespen umschwirrt, Gesträuch und Kraut schoß überall empor am Fuß der Bäume, über dem ganzen Garten schien ein Duft von altem Honig zu hängen. – Als ich über die Brücke hinweg war, sah ich, etwas weiter entfernt, am Bach eine alte Mühle stehen, deren riesiges Schaufelrad zu zwei Dritteln aus dem Wasser ragte. Das Rad stand still, ich kam näher und sah, daß das Holz schwarz war, vollgesogen mit Wasser, verfault, die Schaufeln zerbrochen, dicht über dem Wasser war es grün vom Algenbewuchs, der obere Teil bleichte aus und wurde schon wieder weiß in der Sonne. Die Mühle war unbewohnt, die Türen aus der Füllung gerissen, Sonnenstreifen fielen über die Flurböden, die von Schutt und Scherben bedeckt waren. Von außen schien wilder Wein das alte Fachwerkgemäuer zusammenzuhalten, wie eine grüne Woge umspülte er das ganze Gebäude, wuchs bis dicht unter das Dach und zu den zerbrochenen Fenstern hinein. – Es ist heiß, sagte ich, dies ist eine Mühle. Eine unbewohnte Mühle. – Meine Gedanken waren vielleicht erschreckend banal, doch erschreckten sie mich nicht. Mein Kopf schien undurchdringlich, völlig verschlossen, ich mußte mich wiederholen: Das ist eine Mühle, sie ist unbewohnt. – In den Zimmern befand sich außer einem wackligen Tisch, einem zerbrochenen Stuhl, den Trümmern eines eingefallenen Kachelofens, außer zerlumpten Gardinenresten, Zeitungsfetzen auf den Dielen, nichts mehr; irgendwer hatte seine Notdurft in einer Ecke verrichtet; der Treppe, die in den Keller hinab, wahrscheinlich in die ehemaligen Arbeitsräume führte, traute ich mein Gewicht nicht zu, ich stieg vorsichtig die Holzstiege in den oberen Stock empor, in den Zimmern dort fand ich die gleiche schmutzige Leere vor. In den Zimmern und Fluren herrschte jetzt ein Dämmer in der Art, als wäre es draußen sehr warm geworden, als flute weißes Sonnenlicht über das Dach, die Wiesen, den Bach. Ich blickte aus dem Fenster des oberen Stockwerks und sah, daß das grüne Wasser jetzt von einer blendenden, flimmernden Farbe war, daß es gespiegeltes Sonnenlicht grell in der Gegend versprühte, davon Reflexe in dem dicht neben meinem Kopf wuchernden Weingerank spielten und flammten. Als ich ins Erdgeschoß zurückkehrte, fand ich es dort halbdunkel und kühl, nur durch die kleinen Fenster schossen quadratische Strahlen von Licht schräg gegen den Boden, es war, als sei es der dicke Staub, der die Luft hier so kühl hielt, ein Staub, der hier alles zudeckte, der älter schien als der auf meinen Schuhen. Ich glaubte plötzlich, wenn ich mit dem Finger Staub von der Tischplatte streifte und davon kostete, müsse ich auf der Zunge den bekannten Geschmack von der mehligen Außenseite eines Brotlaibs haben. Als ich wieder ins Freie trat, spürte ich, daß ich durstig war. – Ich will Wasser trinken, dachte ich, und wirklich stieg ich schon die niedrige Böschung zum Bach hinab und beugte mich zum Wasser. Das Wasser floß hier fast unmerklich, von hier aus sah ich es dunkel und sauber, zu tief, als daß ich auf den Grund schauen konnte. Ich schöpfte Wasser und trank, es war kalt und schmeckte leicht nach Algen. Ich spülte mir den Nikotingeschmack aus dem Mund und spie ins Wasser, sah die Bewegung langsam hinwegtreiben, zurück blieb mein Spiegelbild, wie es da hockte in dem hellen Anzug, das Ende der roten Krawatte hing ins Wasser. Ärgerlich sprang ich die Böschung wieder hinauf, ich war versucht, meine Tasche, die dort stand, mit einem Tritt ins Wasser zu schleudern. Dann aber dachte ich, es sei vernünftiger, zuvor ein kurzärmliges Hemd und eine leichte Leinenhose aus der Tasche zu nehmen. – Dies ist mein erster vernünftiger Gedanke heut, sagte ich; alles, was ich dachte, war so unendlich banal, unbefriedigend, und doch mußte ich es denken. – Danach kann ich die Tasche ins Wasser werfen. Ins Wasser werfen, sagte ich, ich sagte es, als ob ich sprechen lernte, die Tasche ins Wasser, samt den Schuhen, samt Anzug und Krawatte. Soll er davonschwimmen, der Ballast, die Bäche entlang, die Flüsse entlang, die Ströme entlang, meinetwegen bis in die Weichsel, bis in die Donau, bis in die Ozeane. – Müde nahm ich die Tasche wieder auf, wandte mich ab von der Mühle und begann langsam, am Bach entlang, zurückzugehen. – Schon immer habe ich eine Mühle gewollt, eine Wohnung in einer Mühle, dachte ich, und ich gehe langsam fort. Wenn auch langsam. – Ich sagte mir, dies müsse aufhören mit meinem Kopf, unbedingt, die einzigen Gedanken, die mich nicht stören werden, sind boshafte, zornige Gedanken, es sind die besten Gedanken, die man haben kann. Boshafte, zerstörerische Gedanken. Zum Teufel, es gibt keine Veranlassung dazu, nicht an diesem Tage, nicht hier und nicht in dem Land, in dem ich lebe. – Aber ich vergaß so schnell, ich hatte vielleicht auch die Gründe für all meine boshaften Gedanken vergessen, was war es, das mir ein so schnelles Vergessen ermöglichte, ich suchte in meinem betäubten Kopf und fand, daß alle Gründe für meinen Zorn verflogen waren; was war das, in diesem Land – das Gas der Sonne, das Gas des Friedens, der Dunst der Stille, die hier verfiel und am Werk war, nahe bei dieser verfallenden Mühle – daß mein belebender Zorn ertrank in dieser ruhigen Eintracht von Wasser und Sonne. – Du solltest dich ausruhen, dachte ich, doch zuvor noch umkleiden, es wäre nicht gut, sich in dem hellen Anzug ins Gras zu legen. – Aber ich schleuderte die Tasche schon von mir und streckte mich aus. Das Gras war wohltuend warm und feucht, das Sonnenlicht fiel mir in die Augen, und blinzelnd, fast schon ohne Bewußtsein, bemerkte ich den nahenden Schlaf. – Soll doch der Teufel in diese Stadt gehen, dachte ich, soll sich der Teufel beruhigen lassen dort, in der Sicherheit der Stadt. – Dieser Gedanke beruhigte mich, mein Bedürfnis nach Schlaf war so stark, mein Körper federleicht, ich wußte, daß ich eigentlich schon schlief, und doch, daß ich gleich aufstehen und zur Mühle zurückgehen konnte, die Füße nur über den Spitzen der Halme, getragen von Sonnenwärme und Schlaf, und ehe ich tief in den Schlaf fiel, redete ich, was soll ich dort in der Stadt, in dieser Wohnung hocken, Miete bezahlen, Steuern, fressen, saufen, leben wie andere Leute, vergessen, die ganze Zeit beschäftigt sein zu vergessen, im Sessel sitzend vergessen, durchs Fenster auf die vergessene Straße stieren, bis ich mich kaum aus dem vergessenen Sessel erheben kann, um mich mit meinen Krawatten zu erdrosseln. Soll ich Leute kennen dort, Leute, vor deren Freundlichkeit mich schüttelt. Soll ich arbeiten dort, arbeiten, arbeiten. Wie öde, wie erbärmlich, zu arbeiten. Wie verkommen, sich zu frisieren, zu rasieren, wie elend, sich zu waschen und zu kleiden nach der Mode. Wie traurig, gesund und in Ordnung zu sein, ruhig,...