E-Book, Deutsch, Band 1, 544 Seiten
Reihe: Werke
Hilbig / Bong / Hosemann Werke, Band 1: Gedichte
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403353-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 544 Seiten
Reihe: Werke
ISBN: 978-3-10-403353-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wolfgang Hilbig, geboren 1941 in Meuselwitz bei Leipzig, gestorben 2007 in Berlin, übersiedelte 1985 aus der DDR in die Bundesrepublik. Er erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Berliner Literaturpreis, den Literaturpreis des Landes Brandenburg, den Lessing-Preis, den Fontane-Preis, den Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim, den Peter-Huchel-Preis und den Erwin-Strittmatter-Preis. Im S. Fischer Verlag erscheint die siebenbändige Ausgabe seiner Werke, »eine der wichtigsten Werkausgaben der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (Uwe Schütte, Wiener Zeitung). Wolfgang Hilbig WERKE Band I GEDICHTE Band II ERZÄHLUNGEN UND KURZPROSA Band III DIE WEIBER - ALTE ABDECKEREI - DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (Erzählungen) Band IV EINE ÜBERTRAGUNG (Roman) Band V »ICH« (Roman) Band VI DAS PROVISORIUM (Roman) Band VII ESSAYS, REDEN, INTERVIEWS Literaturpreise: 1983 Brüder-Grimm-Preis 1985 Förderpreis der Akademie der Künste, Berlin 1987 Kranichsteiner Literaturpreis 1989 Ingeborg-Bachmann-Preis 1992 Berliner Literaturpreis 1993 Brandenburgischer Literaturpreis 1994 Bremer Literaturpreis 1996 Literaturpreis der Deutschen Schillerstiftung, Dresden 1997 Lessingpreis des Freistaates Sachsen 1997 Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste 1997 Hans-Erich-Nossack-Preis (Kulturkreis d. dt. Wirtschaft) 2001 Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim 2002 Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik 2002 Georg-Büchner-Preis 2002 Walter-Bauer-Literaturpreis der Stadt Merseburg 2007 Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
die versprengung
I
der eingang[92]
für s.
seife
aus dem mond zwischen uns. geld
am himmel. und ich werde bis aufs blut gereinigt
kalt rasiert bis auf mein skelett unter gestirnten
bäumen die im mark verrotten. wo ich verwandelt
werde ins negativ eines rendez-vous: o warten
welch eine traurige karriere …
schreckliches bürgertum das mich nicht treffen will
ich habe es um dich betrogen
du liebst
mein knochenuniversum das der wirklichkeit entgegensteht
die sich aus der gewißheit meines daseins fortstahl.
fort … denn das dasein bleibt uns nur gewiß
um uns noch einmal zu beflecken mit der finsternis
um nicht in unschuld zu vergehen in dem loch
von gnadenloser reinheit …
aus dieser lichten grube fort
auf die ganz ohne lust und zorn ich zukroch
in wirklichkeit verwandelt in ergebenheit
in der ich war um nichts zu sein als dieser: ort
ankerlos[93] lautlos schmerzlos gehörlos
so kaum gestuftes material des siebten tags der schöpfung:
als er uns glaubte daß es gut war führten
wir diesen harten marmor auf
zu formen uns
nach seinem bild auf sinkenden terrassen
mit dem die riesennächte seines schattens schliefen
hinabgetürmt ins eis … sonnen monden aller ufer
preisgegeben
standbilder die (gestaltlos wie sein name
unglaube schleift
vor treppen in die flut gestürzt
umspült vom irrlicht das sein greises aug erfand
land aus geruch:[94] wie es fliegt aus kaminen
von braunen fahnen abgewehtes gottgeröchel
wie immer erzittert verschwimmt die geschichte:
ganz konsonante nacht
sie ist schon der rauch
aller folgenden tage der von den dächern läutet.
im geschlossenen frieden landen die schatten
von pfählen im schoß der luft
wenn das frühlicht
die wasserspiegel der erinnerung sprengt –
in den überlagerungen: runenpfähle. phallische gerüche.
am zweiten tag schon
der geburt warst du fort warst verschollen
klang aus dem vatersnamen anderer buchstab
gnädiges anwesen: unwesenheit.
schwarzäther blutäther[95]
überspannt diesen härtestgeballten rest der erde
aus allen winden der rauch des aufruhrs der lärm
der einstürzt an den grenzen der stille.
dachau
hinter der gedankenplüschmauer
entläßt den tod aus der umerziehung
funktions
tüchtig schließt er seinen bogen
in der geliberten luft meines gespaltenen schädels
feuerverwobenes blutgemisch[96] in höhe des gehörs
in grüngetrübter augenhöhe
ein schnitt
gehißt am hirngehalt: der über kopf gerissne flügel
zerbrochen –
flatternd in seiner ideologischen takelage
wie das schnapsbanner meines mörders
den ich lautlos grüßte: gleicher unter gleichen.
und totenstarre die im mund beginnt
und kleine münzen die von tellern in aborten blinzeln.
der engel aus asphalt
der dir entgegenfliegt wenn du nicht zu ihm kommst:
die klinge weht in seiner faust
nur eines schritts
bedarf es auf den blanken horizont. es heißt geworfen
wird der erste für den ersten stein.
erinnerung. chemie.[97] ein eingeweide
verschmolzener erinnerungen
traumgemisch von schatten.
ich schied sie wieder ab die dunkle seite
das ego neben mir das schwitzte rauchte
das mich verwies in die ererbten konsistenzen
seiner flüchtig eingeschlafnen grenzen.
ein zweites bild das in der sonne untertauchte
ein wurf aus mir der atem auf dem matten
spiegel –
gottes chemie
die ich im schmelzfluß meiner rasse suchte
(die ihre ketten nie
wie ihre eigne brut verfluchte
hieß die ungestalt
die vor mir land gewann
doch niemals ihrer finsternis entrann.
in ihr ist eines das mich nicht begreift
dennoch aus meiner völkerschaften untergrund geballt:
ein memorial von ich-gerüchen aus dem feuerfesten tiegel
das meinem umriß gleicht der über mauern schweift.
die stimme eines wesens[98] rief mich aus dem erz
vor orten ungesondert weder fest noch abgefallen
versiegt im wasser das zu scheiden ich geschickt
aus dem chaos aus dem tauben erz …
aus dem ich rief zu einem wesen über mir …
und glänzend stieg aus dämmermooren eine fliegenbrut
moskitos motten zur gestalt des unsichtbaren
heulend emporgewölkt aus gifterfüllten höllenküchen …
dem schöpfer der materie einem leichnam in der sonne
ausgerissen: so liegt mir vor dem weg das leben
so hoffe ich auf gnade übersteige
am abendausgang immer was mich rief den langen schatten
der wolke der ich glich bevor das erzne licht
am wesenlosen ort versiegte.
das glück zahlt summen[99] für hohngelächter
seiner spitzel einzige pflicht ist es zu lachen
wenn der empörte daumen der verächter
von oben befehl gibt schluß zu machen
dann senkt der ritter auf dem stein am strand
das gesicht in die hände: er scheint durchschaut
bis auf den schatten der den stein umkreist
der sonne hingeneigt doch ihrem strahlen abgewandt
(als zöge licht nicht auch die schattenhaut
ab von der niedertracht die sich als glück verheißt)
in eile ist das glück es scheint die zeit
ihm jederzeit zu winken: bist du dabei so eile mit
und sei bereit
man wird dich schminken
wenn dir das joch aus den wangen tritt.
ich wollte mein brandmal[100] waschen.
und suchte spiegel um mich selbst zu zeugen
schulterte ab die schaufel meiner sklavenbürde
füllte den kopf mir mit traktaten über menschenwürde
doch blieb mein auge unstet und getrübt –
ein dürsten blieb das ahnenreihen vor mir eingeübt.
im spiegel sah ich mich ins abgestandne beugen
aura der erbschaft: über batterien geleerter flaschen.
so nichtsbeladen[101] daß mein schweigen zweifelt ob es schwieg
oder noch schrieb: ein dunkel das ein glühen kreuzte
licht im geleise überschnitt sich sprang
unter die brücken über der unteren stufe der stadt
flammen elektrisch und dünung der luft
schnellzüge die sich in die weichen schwingen –
und ob ich selbst in einem dieser züge
das ziel verlor: nicht ich der schrieb der ausgeraufte
der hirnverbrannten wüste in der schwarzen scheibe gleich
gesicht und schweigen feuerschweifdurchschnitten
diktierten mir was ich an zweifeln aufgereiht.
sprachgeflacker[102]
in den schläfen der selbstsucht. die wagenreihe
im dunkel auf dem gleis verschweißt … plötzlich im
blutlicht
eines waggons der vorbeifährt
der vergessene schreck aus der anderen stadt. fratze
inwendig (wenn das erwachen zum körper wird –
bricht dieses hektische reden entzwei: rhythmus
sich nähernder schienenschläge panik bis zum aufschrei und
mühelos das umsteigen des gesamten
vergangenen lebens in den schnellzug der langsam
davonrollt. leiseres schlagen … leiser
das ticken bis die uhr der nacht
steht.
traumverdunsten[103]
des glücklichen gegenspielers unter dem schimmer
der echosphären von sandgesängen
und seegeschichten kehlig
verlorn
schwarzer schlamm
voller morgenrot hinter fensterkreuz
und simslinie –
feuchte in kragen und knopfloch, kopflos und
schweißfahnenfett
der leeren hemden erschöpfung
und rückerschaffen
der gang zum wasserklosett
abgeabert
brüllendes gähnen (duplizität ermüdet
bekränzt uns.[104] kalte gräber sind wir heute schon.
doch morgen werden wir die straßen säumen
und dem vorbeimarsch zuschaun: eurer prozession
werden erwacht sein und nicht wissen was wir waren.
nicht wir die alten morgenröten werden rot
und sterbend in den heldenfriedhof sinken
wir nicht: die gleich- und fortgeschrittnen werden träumen –
wir werden sie...