E-Book, Deutsch, 549 Seiten
Hidber / Ruch MØRK
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-907178-19-5
Verlag: Driftwood GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Krimi zwischen Nordkap, Sarganserland und Engadin
E-Book, Deutsch, 549 Seiten
ISBN: 978-3-907178-19-5
Verlag: Driftwood GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Polarnacht senkt sich über die Nordkap-Insel Magerøya. Ein zahmer Belugawal taucht auf. Eine Regierungsrätin aus Sargans verschwindet spurlos. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Nach dem Erstlingserfolg VENNER kommt jetzt MØRK, der zweite Krimi zwischen Nordkap und Südostschweiz von Franziska Hidber und Christian Ruch.
Autoren/Hrsg.
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SELINA Honningsvåg, 14. November Noch 23 Stunden. Mein Unbehagen wächst mit jeder Minute. Hätte ich bloss auf mein Bauchgefühl gehört. Oder wenigstens auf Astrid, meine Tante. Astrid hat die seltene Gabe, die Dinge glasklar zu sehen und zu benennen: «Das ist eine fertige Schnapsidee, min Kjære», beschied sie mir, vor Wochen schon. «Überleg dir das gut!», schob sie nach. Und: «Wenn du dich unbedingt unglücklich machen willst, bitte. Du bist alt genug.» Das bin ich tatsächlich. 25. Und an Unglück hat es mir in diesem Sommer nicht gefehlt. Erst Pappas Tod. Um ein Haar wäre ich auch gestorben. Aber ich lebe. Dank Einar. Einar ist heute mein Freund. Gut, das war er schon immer, seit dem Kindergarten. Nun aber sind wir richtig zusammen und leben beide wieder in Honningsvåg auf der Nordkap-Insel Magerøya. Auch das hält Astrid für einigermassen bescheuert. Sie ist wie wir in Honningsvåg aufgewachsen, zusammen mit meiner Mamma, die ich schon vor Jahren an den Brustkrebs verloren habe. In diesem Haus, wo es jetzt nach frischer Farbe riecht, sich Kisten und Kessel im Korridor stapeln, halb offene Kehrichtsäcke herumstehen und ich mit mir und meinem Einfall hadere. Natürlich war es eine Schnapsidee. «Min Kjære, was wird mit deinem Studium? Wann gehst du zurück nach Tromsø? Dort gehört ein junger Mensch wie du hin, doch nicht in dieses Nest am nördlichsten Zipfel Europas!», empörte sich Astrid mit der Überheblichkeit derjenigen, die den Sprung von der Wildnis in unsere Hauptstadt geschafft haben. Die vorwärts gegangen sind, nicht zurück. Arvo pirscht sich heran, ein lebender Vorwurf in Gestalt eines buschigen Fells. In seinem Miauen liegt die Drohung einer Todesstrafe. «Ist ja gut!» Ich stehe auf, gehe in die Küche, wo es noch intensiver nach Farbe riecht, nehme die Büchse mit dem Katzenfutter vom Gestell und fülle Arvos Napf. Der norwegische Waldkater straft mich mit Nichtbeachtung, in seinen Augen wohl die gerechte Sanktion dafür, dass die Fütterung sieben Minuten zu spät erfolgt ist. Draussen dämmert es leicht, ein Zeichen, dass es Mittagszeit ist. Wenn ich Glück habe, wird es noch etwas heller. Vielleicht aber schwappt die Schummrigkeit in den Nachmittag hinein und dann ins Dunkel des Abends. Wer ausgerechnet in dieser Zeit ein Bed and Breakfast eröffnet, kann nicht ganz dicht sein. Wann hatte das Ganze angefangen? Und vor allem: weshalb? Ich habe null Ahnung von Hotellerie, geschweige denn von Gastronomie. Ich kann nicht kochen. Dafür verstehe ich etwas von Meerestieren, sofern sie nicht auf dem Teller liegen. Mein Studium in Meeresbiologie habe ich auf Eis legen müssen, kurz vor dem Master. Genau wie meine Ausbildung als Guide für Outdoor-Touren. Astrid bestand darauf, mich nach dem «Mordanschlag» im Sommer aufzupäppeln (erwähnte ich schon, dass sie Meisterin darin ist, nicht um den Brei herumzureden?). Wochenlang. Ununterbrochen. Statt wieder an die Uni zu gehen und zurück in die WG nach Tromsø, lag ich also bei Astrid und ihrem Mann Bjarne in Oslo auf dem geblümten Sofa. Die Behandlung bestand im Wesentlichen aus Astrids unvergleichlichem Eplekake. Für ihren Apfelkuchen hatte sie sogar mal eine Goldmedaille gewonnen. Und während ich Eplekake um Eplekake vertilgte und mit Bjarne Schach spielte und jeden Gedanken an mein unbewohntes Elternhaus am Nordkappveien erfolgreich verdrängte, wartete Einar 2000 Kilometer weiter nördlich auf mich und schickte schmalzige, sehnsüchtige Nachrichten. Des Nachts brachten wir unsere Smartphones zum Glühen, und immer, wenn er mich gefragt hat, wann ich denn endlich, endlich nach Honningsvåg käme, bin ich ihm die Antwort schuldig geblieben. Wie sollte ich je wieder in mein Elternhaus ziehen, wo mich alles an Pappa erinnerte? Ich hatte Angst vor dem Moment, in dem ich dieses Haus wieder betreten würde. Das Ganze begann also aus purer Angst. Das klingt nicht heldenhaft, aber es ist wahr. So gebar ich sie, die Schnapsidee, und es passt gut, dass es in der Nacht geschah, in Astrids schmalem Gästebett in Oslo. Es war eine Sturzgeburt, Knall auf Fall, ohne dass ich erst eine Schwangerschaft hätte durchleben müssen. Plötzlich machte sich eine unerschütterliche Gewissheit breit: Ich würde das Haus in ein Gästehaus verwandeln. Pappas Zimmer, sein Büro und unser Gästezimmer komplett räumen. Neu streichen und einrichten. Gäste beherbergen und mit ihnen die Perlen unserer Insel entdecken. Sie aufs wahre Nordkap führen. Wie Pappa es getan hatte. Der Gedanke wärmte jede Faser meines Körpers wie eine Fiskesuppe. Von diesem Moment an lief alles wie von selbst. Ich verliess Astrid, Bjarne, das geblümte Sofa und sämtliche Eplekake. Flog zurück und begann gleich am ersten Tag zu entrümpeln. Drehte die Musik auf und stopfte Pappas Hosen, Hemden, Jacken und Pullis in den Altkleidersack. Wie im Wahn mistete ich alte Papiere aus, liess unser uraltes violettes Plüschsofa abholen, nahm die Bilder von den Wänden, den Kleinkram vom Kaminsims, sortierte Bücher, schmiss Akten weg. Einars Begeisterung über meine Pläne hielt sich in so engen Grenzen wie sein Radius. Einar gehört zur gemütlichen Sorte. Er hat sein Leben in Honningsvåg verbracht, abgesehen von der Zeit an der Polizeischule und seiner ersten Dienststelle in Kjøllefjord. Zu seinen bisher grössten Abenteuern zählt ein All-inclusive-Urlaub auf den Kanarischen Inseln. Ein Bier trinken, Fussball schauen, Kumpels treffen, vielleicht mal ein Konzert besuchen, vor dem Einschlafen Sex – das genügt ihm vollkommen. Mir normalerweise nicht, aber nach den letzten turbulenten Monaten hatte selbst meine Unternehmungslust ihren Zenit erreicht. Also kam mir ein bünzliges Leben wie gerufen. Einar wäre ohne meine Pläne zweifelsfrei glücklicher gewesen. Statt mit mir romantisch übers Nordmeer zu schauen, schleppte er zunehmend grimmiger alte Möbel raus und neue rein, entfernte Tapeten, organisierte Nachttischlampen und Geschirr. Ich hingegen blühte auf, ohne zu ahnen, was mir blühen würde. Noch 22 Stunden. Dann würde mein erster Gast in mein B&B kommen, das ich spontan Nordlys, Nordlicht, getauft habe. Mitten in der Renovierungsphase rief Ignaz an, der Schulfreund meines Vaters aus Sargans. Als Grundbuchverwalter hatte er mir bei der Überschreibung von Pappas Elternhaus im Städtchen Sargans geholfen, und seither betrachtet er mich wohl als eine Art Nichte oder Adoptivtochter. Im Gegensatz zu Astrid und Einar fand Ignaz die B&B-Idee schlicht grossartig. Das hat nichts weiter zu bedeuten, Ignaz ist grundsätzlich gewillt, sich an allem zu begeistern. «Maitli, Himmelstärnä, was du da auf die Beine stellst! Super!», schrie er eines Tages Mitte Oktober euphorisch ins Telefon. «Wann ist alles fertig?» «So in vier, fünf Wochen», erwiderte ich matt und versuchte, mein Smartphone nicht zu sehr mit den Farbresten an meinen Fingern zu verzieren. «Das passt perfekt. Lous emol, ich habe einen Gast für dich!» «Wie? Jetzt schon? Einen Gast? Kommst du mich besuchen?» «Nicht ich. Meine Schwester. Die Regierungsrätin, du weisst schon. Himmelstärnä, das ist die Idee des Jahres», brüllte er so laut, dass ich das Telefon vor mir auf den Küchentisch legte. «Ja, Maitli, das muss jetzt unter uns bleiben: Jacqueline ist etwas überarbeitet. Zu viel Stress, zu wenig Abstand. Nahe am Burnout, wäisch. Sie sollte dringend raus. Und sie hat noch nie in ihrem Leben Nordlichter gesehen. Und eine Reise auf der Hurtigrute ist ihr grösster Traum. Und sie will auf keinen Fall in ein unpersönliches Hotel. Da habe ich ihr von dir erzählt. Ihr habt doch Nordlichter bei euch oben, oder?» «Und ob! Magerøya gilt als heimlicher Nordlicht-Hotspot, aber pst! Es genügt, die paar Schritte hinters Haus von meiner Nachbarin Tina zu gehen, wo es dunkel ist wie in einer Kuh. Und dann kannst du dir die ganze Show reinziehen.» Ignaz schwieg einen Moment, was untypisch für ihn ist. Ich hörte, wie er tief einatmete. «Das ist ja noch besser, als ich dachte! Jacqueline wird ausflippen, wenn sie das hört! Also, der Plan geht so: Erst Flug nach Oslo, dann mit der Bergenbahn nach Bergen, einschiffen, und am 15. November kommt sie mit dem Schiff in Honningsvåg an. Könntest du sie abholen? Nicht, dass sie sich in eurem Nest noch verirrt!» Er lachte wieder dröhnend. Selbst Arvo lauschte einen Moment irritiert. Ich schwieg irritiert. Renovieren war eine Sache, aber einen Gast aufzunehmen, und dazu noch eine Schweizer Regierungsrätin, eine zweite. Als Premiere hätte ich mir einen Hippie aus Schweden gewünscht. «Selina?», tönte es ungeduldig aus dem Telefon. «Ähm, ja, das ist sehr gut. Nur, ähm, etwas überraschend!» «Ich wusste, die Überraschung würde mir gelingen!», brüllte Ignaz erfreut. «Also, Mitte November ist es hier ein wenig dunkel. Ziemlich dunkel sogar. Weiss deine Schwester das? Es gibt wirklich bessere Reisezeiten!» «Maitli, mach dir keine Sorgen. Meine Schwester will Nordlichter sehen. Und sie sollte bald verreisen. Sie freut sich darauf, viele Bücher zu lesen. Also kein Problem!» «Wie lange will sie denn bleiben?» «Vier Wochen.» «Vier ganze Wochen?» Um ein Haar hätte ich mich an meinem Lakritzkaugummi verschluckt, den ich zur Beruhigung kaute. «Himmelstärnä, Maitli, das ist der Hammer. Du hast dein Hotel noch nicht eröffnet und schon vier Wochen reserviert! Davon können andere nur träumen. Also? Hast du ein...