Ein Arbeitsbuch
E-Book, Deutsch, 328 Seiten
ISBN: 978-3-89581-533-1
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulf Otto, Professor fu?r Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Intermedialitätsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität Mu?nchen, forscht zu Konvergenzen von Theater- und Technikgeschichte, Gesten und Genealogien des Reenactments und den Körperpolitiken theatraler Institutionen.
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Ulf Otto Einleitung
Einst waren Algorithmen das, wofür Computer gebaut wurden, später brauchte es sie, um die Computer am Laufen zu halten. Inzwischen sind sie nicht nur zu entscheidenden Akteuren der Informationsgesellschaft aufgestiegen, sondern auch zum technischen Horizont der Kultur avanciert – einer Kultur, die es nur noch im Plural, als Vielfalt von Kulturen gibt und in der das Technische wiederum niemals rein technisch, sondern immer schon sozial und politisch ist. Mit Conchita Wurst, nicht etwa mit Alan Turing und Norbert Wiener, nicht mit Rekursionstheorie und Kybernetik also, wie noch Charlie Gere (2002) und andere, beginnt Felix Stalder 2016 seine Überlegungen zur Kultur der Digitalität, besser gesagt mit ihrem Auftritt beim ESC 2014. Diesen Triumph einer Figur, die »attraktiv jenseits der Dichotomien« (Stalder 2016: 7) sei und vom Mainstream vor Kurzem noch unverstanden, versteht Stalder als Zeichen dafür, dass sich etwas in der Kommunikation der Gesellschaft verändert habe. Die »Vervielfältigung der kulturellen Möglichkeiten« (ebd.: 9) habe, von einer Verbreiterung der sozialen Basis der Kultur ausgehend, zu einer Flut an konkurrierenden kulturellen Projekten und Bedeutungsansprüchen geführt. Allerdings ruhten diese Projekte zunehmend auf technischen Fundamenten und könnten somit überhaupt nur noch technisch bewältigt werden. Suchmaschinen und ihre Algorithmen sind daher Fluch und Segen zugleich, erzeugen sie doch einerseits jene Filter Bubbles, die Eli Pariser schon 2011 problematisiert hat. Andererseits aber wäre ohne sie, das heißt ohne die statistische und stochastische Vorverarbeitung, eine individuelle wie kollektive Orientierung im Big Data, das zu großen Teilen unsere Wirklichkeit geworden ist, kaum noch möglich. Insofern wir auf Algorithmen angewiesen sind, um Sinn zu machen, wohnt ihnen eine Gesetzeskraft (vgl. Lessig 2006) inne, die über die Definition von Normen weit hinausgeht und jene klassische Kritik, die sich an menschengemachten Bedeutungen abarbeitet, oft hilflos erscheinen lässt. Die Zukunft des Theaters liegt in dieser digitalen Kultur verortet, die kein Außerhalb mehr kennt, das heißt einzig im Kontext von Suchmaschinen, sozialen Netzwerken und mobilen Medien besteht. Aufführungen, von denen es einst hieß, sie spielten sich vor Ort in sich entziehender Gegenwärtigkeit und leiblicher Anwesenheit ab, sind inzwischen immer schon verlinkt und geliked, getaggt und geflaggt, überschattet von einem digitalen Double, welches Publika, Perzeptitionen und Reaktionen neu ordnet und unauflöslich mit dem Ding an sich verbunden ist. Die Herausforderungen, vor die der Algorithmus das Theater stellt, reichen insofern tiefer als bis zu seiner Inszenierung auf der Bühne. Sie betreffen die Sache selbst, nicht nur ihre Ästhetik, also Fragen der Institution, der Organisation und der Repräsentation, und sie treten häufig gerade dort auf, wo die Technik nicht sichtbar ist. Dennoch stellt sich auch für die Kunst des Theaters, die sich traditionellerweise in Abgrenzung von Schrift und Medialität auf den Begriff gebracht hat, die Frage nach dem Umgang mit den operativen Codes der Algorithmen. Wenn sich dieser Band nun doch wieder dem ausgestellten Spiel mit der Technik und den Apparaten auf der Bühne und im Saal zuwendet, also der Versuchung nicht widerstehen kann, die Technik dort zu diskutieren, wo sie vorgeführt wird, dann geschieht dies unter doppeltem Vorbehalt: Weder soll hier noch einmal das Theater als privilegierter Ort behauptet werden, von dem aus sich in kritischer Distanz über Gesellschaft und Technik zu ihrem Besten sprechen ließe, noch soll einem neo-avantgardistischen Versprechen auf Wiedergeburt des Theaters aus technologischem Geiste das Wort geredet werden. Vielmehr geht es in den vorliegenden Beiträgen darum zu beschreiben, was sich im Spiel mit den digitalen Maschinen zeigt und wie die gesellschaftliche Logik der Technik in der Aufführung, der Rezeption aber auch in der Produktion von Theater wirksam wird. Auch deshalb verbindet der Band wissenschaftliche Aufsätze mit Produktionsberichten und -eindrücken, Texte von Wissenschaftler*innen wie auch von Theatermacher*innen und Programmierer*innen. Nicht zuletzt trägt diese Zusammenstellung der Tatsache Rechnung, dass mit den digitalen Technologien die Produktionsverhältnisse nicht nur zum Thema werden, sondern auch einer Wandlung unterliegen, welche die im 20. Jahrhundert etablierte Trennung von Kunst und Technik wieder in Frage stellt. Ursprünglich hervorgegeangen aus einer kleinen Konferenz an der Universität Hildesheim im in digitalen Maßstäben schon weit zurückliegenden Jahr 2015 und seitdem um entscheidende Beiträge gewachsen, markiert dieser Band jenen historischen Moment, in dem das Technische in neuem Gewand auf die Bühne zurückkehrte, wo es weniger als Erweiterung des einzelnen Körpers und der Wahrnehmung des Individuums auftrat, wie vielfach in der zweiten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts, als vielmehr in Bezug auf Kollekivitäten und das Soziale. Dabei versteht sich der Band als ein möglicher Anfang einer Diskussion, die es womöglich erst noch zu führen gilt, und möchte an eine aktuell sich abzeichnende Debatte um das Verhältnis von Theatralität und Technizität anknüpfen, die ihrerseits vielleicht unter neuen Vorzeichen wiederaufnimmt, was Ende der 1990er-Jahre unter der Überschrift »Theater und Medien« diskutiert wurde. Den Auftakt macht daher ein Aufsatz von Martina Leeker, der die zeitgenössische Entwicklung in eine längere historische Perspekive seit den 1960er-Jahren stellt, das Verhältnis von Theater und Technik in Hinblick auf seine epistemologischen Fundamente diskutiert und durchaus kritisch hinterfragt, ob Performances die technische Wirklichkeit nicht auch immer wieder verbergen, vermeiden oder verharmlosen, um in drei historischen Schritten schließlich aber bei aktuellen Produktionen anzukommen. Die Produktion Algorithmen (2014) von Turbo Pascal bildet den Abschluss von Martina Leekers Text und ist zugleich das Thema des darauffolgenden Arbeitsberichts von Georg Werner, der als Darsteller, als Teil der Gruppe und zugleich als technisch Verantwortlicher an dem Projekt beteiligt war. Eine Diskussion der gleichen Produktion von Ulf Otto, die ausgehend von einer aufführungsanalytischen Perspektive Fragen nach Kontrolle und Regierung in Theater und digitaler Kultur aufwirft, schließt einen ersten thematischen Bogen. Anschließend fokussieren die Beiträge eines zweiten Blocks das Thema der Games und Gamification im Theater. Robin Hädicke, Teil des Kollektivs machina eX, das seit 2010 Hybride aus Theater und Computerspielen entwickelt, gibt einen Einblick in einen Probenprozess, der der Logik des Designs folgt und von der Verhandlung zwischen technischen und theatralen Bedingungen geprägt ist. Sascha Förster und Sabine Päsler verfolgen die Logik in Open-World- und Explorative Games im Kontext von zwei Produktionen, enter wonder.land (2015) und Filoxenia (2015), welche Logiken des Gamings ins Foyer übertragen und damit zu einer spielerischen Ausweitung der Vorstellung beitragen. Friedrich Kirschners Arbeitsbericht diskutiert anhand der mit Christiane Hütter realisierten Arbeit Plattform Polymythos (2015) die Spielelogik im Spannungsfeld von Grenzsetzungen und Grenzüberschreitung. Und der darauffolgende Beitrag von Michael Bachmann untersucht die Logik des Spiels am Schnittpunkt von Intimitätsinszenierung, Handlungsspielräumen und Erlebnisökonomie in den One-on-one-Performances Wanna Play? (Love in the Time of Grindr) (2014) von Dries Verhoeven und A Game of You (2010) von Ontroerend Goed. Auch die Arbeiten von Interrobang, die in zwei Aufsätzen des Bandes im Mittelpunkt stehen, schließen an Fragen nach den Logiken des Spiels im Theater an: Nina Tecklenburg beschreibt als Theaterwissenschaftlerin und Theatermacherin im ersten Teil ihres Beitrags aus einer theoretischen Perspektive das Verhälntis von Immersion und Narration, unter anderem in Bezug auf die Arbeiten von SIGNA, und skizziert in einem zweiten Teil die konzeptionelle und praktische Arbeit von Interrobang anhand der Beispiele Preenacting Europe (2014) und To Like or Not To Like (Ein Big Data Spiel) (2015). Eine dritte Perspektive auf die Arbeit von Interrobang steuert Lisa Großmann bei, die aus einer ethnografisch inspirierten Perspektive die Proben der Produktion Callcenter Übermorgen (2013) auf das Wechselspiel künstlerischer und technischer Verfahren untersucht. Ebenfalls aus einer ethnografischen Probenbeobachtung ist Anna Königshofers Beitrag hervorgegangen, der den Produktionsprozess von Rimini Protokoll im Fall von Top Secret International (Staat 1) (2017) aus der Perspektive der Organisationsforschung und in Hinblick auf kolloborative Konstellationen im Umgang mit digitalen Geräten in den Blick nimmt. Die drei letzten Beiträge des Bandes schließlich haben es aus je unterschiedlichen Blickwinkeln mit algorithmisch animierten Dingen im Theater zu tun. Jochen Lamb und Jessica Hölzl beschäftigen sich anhand der Inszenierung Robot Dreams (2018) von Meinhardt & Krauss mit der Robotik im...