E-Book, Deutsch, 366 Seiten
Hettinger Digitalisierung als Herausforderung für die Demokratie
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-347-71264-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Krise, Formwandel, Evolution?
E-Book, Deutsch, 366 Seiten
ISBN: 978-3-347-71264-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Jochen Hettinger (*1955) studierte Medienpädagogik, Literaturwissenschaft und Philosophie und arbeitete in verschiedenen pädagogischen und administrativen Handlungsfeldern. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Thema "Digitalisierung und Demokratie".
Autoren/Hrsg.
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3. Demokratie und Digitalisierung
Die Digitalisierung ist eine technologische Revolution, die sich auf alle Bereiche von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft sowie das private Leben auswirkt. Die These dieses Buches ist, dass sich auch die Demokratie als Form politischer Herrschaft unter den Bedingungen der Digitalisierung verändert. Diese Veränderungen sind „Herausforderungen“ für die Demokratie, weil sie grundlegende, strukturelle Merkmale der Demokratie betreffen. Die folgenden Abschnitte analysieren diese Veränderungen im Detail. Grundlage ist eine Konzeption bzw. ein Modell von Demokratie, das sieben Dimensionen unterscheidet: Volkssouveränität, Öffentlichkeit, Partizipation, Legitimität, Grundrechte und Grundwerte, Gewaltenteilung und Parteien (vgl. Abschnitt 3.1 „Was ist Demokratie“). Das vierte Kapitel „Rahmungen“ diskutiert die Frage, inwieweit diese Veränderungen als „Krise“, Erosion“ oder als „Formwandel“ der Demokratie zu deuten sind, es fragt nach dem Verhältnis von technologischen Entwicklungen und politischen Institutionen („Technikfolgeabschätzung“) und entwirft einen Verständnisrahmen für die untersuchten Prozesse, der sich an dem (soziologischen) Ansatz der zweiten Moderne (und seinem Begriff der „Nebenfolgen“) von Ulrich Beck orientiert.
3.1 Was ist Demokratie?
Um die Frage untersuchen zu können, wie sich Digitalisierung und Demokratie zueinander verhalten, wird in diesem Abschnitt zuerst die Herrschaftsform „Demokratie“ genauer beschrieben. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der repräsentativen bzw. parlamentarischen Demokratie, wie sie insbesondere in westlichen Staaten verbreitet ist. Bezugspunkt ist dabei im Wesentlichen die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl die Demokratie heute in vielen Staaten eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, so ist die Frage „Was ist Demokratie?“ dennoch berechtigt. Nur vor dem Hintergrund einer differenzierenden Beschreibung der Herrschaftsform „Demokratie“ lässt sich beurteilen, welche Auswirkungen die Digitalisierung hat, wie sich die Demokratie gegebenenfalls verändert und welche Entwicklungen ihren grundlegenden Prinzipien widersprechen. Das vorliegende Kapitel gibt eine sehr kurzgefasste Übersicht über verschiedene Definitionen der Demokratie, ihre geschichtliche Entwicklung und unterschiedliche Demokratietheorien. Dabei werden auch verschiedene empirische Ansätze beispielsweise zur Messung der Demokratiequalität in verschiedenen Ländern erläutert. Schließlich wird das in diesem Buch zugrunde gelegte Konzept der sieben „Dimensionen“ der Demokratie vorgestellt.
Definition der Demokratie als Herrschaftsform
Demokratie ist eine Herrschaftsform, bei der das Volk der Souverän ist, also über sich selbst herrscht. Das griechische Wort „demos“ bedeutet „Volk“ (im Sinne von „Bürgern“) und das Verb „kratein“ bedeutet „herrschen“. Das Begriffsverständnis von „Demokratie“ in der Politikwissenschaft ist allerdings vielfältig und abhängig von der theoretischen Orientierung der jeweiligen Autoren.63 Die Vielfalt an Definitionen hängt auch damit zusammen, dass Demokratie nicht nur ein deskriptiver, sondern auch ein normativer Begriff 64 ist und dass es unterschiedliche Modelle und Formen der Demokratie gibt: direkte, parlamentarische und präsidentielle Demokratie.65 Sehr bekannt ist die Definition der Demokratie durch Abraham Lincoln in seiner Gettysburg-Rede von 1863 als „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk“ („government of the people, by the people, for the people“).66 Eine aktuelle, ausführlichere Definition lautet:
„Die Demokratie ist eine Staatsverfassung, in der die Herrschaft bzw. die Machtausübung auf der Grundlage politischer Freiheit und Gleichheit sowie weitreichender politischer Beteiligungsrechte erwachsener Staatsbürger erfolgt. Im Idealfall geschieht dies in offenen, die Opposition gleichberechtigt einschließenden Vorgängen der Willensbildung und Entscheidungsfindung. Und geherrscht wird mit dem Anspruch, im Interesse der Gesamtheit oder zumindest der Mehrheit der Stimmberechtigten zu regieren. Dabei stehen die Herrschaft und die Machtausübung unter dem Damoklesschwert der Abwahl der Regierenden durch den Demos, den stimmberechtigten Teil des Volkes. Die Waffen des Demos gegen die Regierenden sind das Wahlrecht und die Chance, die Volksvertreter oder die Regierungschefs in allgemeinen, freien und fairen Wahlen zu wählen oder abzuwählen.“67
Das „Kleine Lexikon der Politik“68 nennt die folgenden Kennzeichen der Demokratie:
– Volkssouveränität und Gleichheit,
– Geltung bürgerlicher Grundrechte,
– Demokratische Partizipationsrechte (Wahlrecht, Öffentlichkeit, Opposition),
– Responsivität der Regierenden.
Als weitere Kennzeichen der Demokratie werden häufig angeführt: Parlamentarismus, Mehrparteiensystem, Mehrheitsregel, Minderheitenschutz, organisierte Interessenvielfalt und geregelte Konfliktaustragung, Meinungsfreiheit, sozialstaatliche Mindestgarantieren sowie Unverletzlichkeit und Freizügigkeit der Person (Menschenwürde, Grundrechte).69 Eine allgemein akzeptierte Begriffsbestimmung von Demokratie allerdings gibt es nicht: „Kurz gesagt ist heute umstrittener denn je, was Demokratie bedeutet, voraussetzt oder verlangt“.70
Entwicklung der Demokratie
„Erfunden“ wurde die Demokratie von den Griechen im sechsten und fünften Jahrhundert vor Christus. Kleisthenes (570 - 507) und Perikles (490 429) werden als die Väter der attischen Demokratie bezeichnet. Die Demokratie Athens war eine direkte Demokratie mit Institutionen wie der Volksversammlung (ekklesia), dem Rat der Fünfhundert (boule) und den Volksgerichten (dikasterien).71 An der Volksversammlung konnten alle männlichen Bürger Athens teilnehmen, Frauen, Sklaven und Fremdarbeiter („Metöken“) hatten keinen Zugang. Die ekklesia tagte etwa vierzigmal im Jahr auf einem Marktplatz im Athener Stadtgebiet, später auf einem Hügel. Beschlussfähig war sie ab einer Teilnehmerzahl von 6.000 Personen.72 Berufspolitiker gab es damals nicht, ebenso wenig eine Trennung in die gesetzbegebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt. Die Bürger trafen die Entscheidungen in allen politischen Fragen selbst.
Mit der Machtübernahme durch den mazedonischen König Philipp II. gegen Ende des vierten Jahrhunderts v. Chr. verlor die Demokratie in Athen als Herrschaftsform ihren prägenden Einfluss. Erst im sechzehnten Jahrhundert finden sich wieder erste Ansätze demokratischen Denkens. Machiavelli stellte in seinen „Discorsi“ der Monarchie die Republik als Selbstregierung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber. Die „vordemokratische Staatstheorie“ (Hobbes, Locke) entwickelte das Konzept des Staates, die Idee des „Souveräns“ (Machthabers) und die Theorie des Staatsvertrages. Rousseau und Montesquieu diskutierten in ihren Schriften grundlegende Ideen zur Selbstregierung des Volkes wie den Gesellschaftsvertrag und die Gewaltenteilung. Die Aufklärung formulierte grundlegende Wertvorstellungen wie die Freiheit des Individuums und die Idee des Nationalstaates. In der französischen Revolution 1789-1799, der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 und der Verfassung von 1791 fanden diese Ideen konkrete, geschichtliche Gestalt. In diese Zeit fällt auch die Verabschiedung der US-amerikanischen Verfassung (1776), in deren Folge in den USA eine Form der repräsentativen Demokratie entstand.
In Deutschland wurde die parlamentarische Demokratie als Regierungsform nach dem ersten Weltkrieg mit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung am 31.7.1919 eingeführt. Mit der Verkündung des Grundgesetzes am 23.5.1949 wurde die Bundesrepublik Deutschland zu einem demokratischen, sozialen Bundesstaat (Art. 20 GG). Seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3.10.1989 gilt das Grundgesetz als Verfassung für das gesamte deutsche Staatsgebiet.
Insbesondere in der „westlichen Welt“ ist die Herrschaftsform der Demokratie stark verbreitet. Im Jahr 2020 stuft der Demokratieindex der englischen Zeitschrift „The Economist“ insgesamt 75 Länder als „vollständige“ oder „nichtvollständige“ Demokratien (49,4 % der Weltbevölkerung) ein, ihnen standen 93 Länder als Nicht-Demokratien (hybride und autoritäre Systeme; insgesamt 50% der Weltbevölkerung) gegenüber.73 Sowohl der Freedom-House-Index74 als auch der Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung75 stellen allerdings einen deutlichen Rückgang in der Zahl demokratisch regierter Länder fest, auch die Qualität demokratischen Regierens habe - unter anderem im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie – deutlich abgenommen.76
Normative und empirische...