Hettich / Eichhorst | Die Schwarzwaldbäuerin | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Hettich / Eichhorst Die Schwarzwaldbäuerin

Erinnerungen an ein Landleben
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0007-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erinnerungen an ein Landleben

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0007-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Anna kommt 1938 auf einem abgelegenen Bauernhof im Schwarzwald zur Welt. Die Eltern sterben früh, und schon als Sechzehnjährige führt sie den Hof, arbeitet hart, zieht ihre Geschwister groß, verwaltet das wenige Geld. Sie verzichtet auf vieles - und ist irgendwann am Ende ihrer Kräfte. Der Zusammenhalt der Geschwister und ihr tiefer Glaube lassen sie dennoch nicht verzweifeln. Sie entdeckt das Glück im Einfachen, in der Natur. Und begegnet schließlich ihrer großen Liebe: dem Mann, mit dem sie alt werden möchte. Anna ahnt nicht, dass ihnen nur wenige kostbare Jahre bleiben ...

Anna Hettich lebt heute in der Nähe von Donaueschingen.
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1957

Der Postbus bog um die Kurve, der Motor stieß einen Seufzer aus und mühte sich das letzte Stück der schmalen Straße hinauf. Es war noch früh, der Himmel grau wie die Felsen am Straßenrand, und der Fahrer hatte die Scheinwerfer eingeschaltet, zwei chromgefasste Lichter, wie weit auseinanderstehende Augen suchten sie ihren Weg. Unterhalb der Böschung rauschte die Elz, die Luft war feucht und ich zog das Tuch fester um meine Schultern.

Der Fahrer schaltete herunter, der Motor jaulte wie ein geschlagener Hund und der Bus rollte auf die Haltestelle zu, in einer Bucht am Straßenrand kam er zum Stehen. Durch eine Seitenscheibe sah ich die Liesel mit ihren Töchtern, sie hob die Hand und winkte, und ich lief zur hinteren Tür, zischend und schwerfällig öffneten sich ihre Flügel.

»Nein!« Die Helga saß auf der Bank neben der Tür, beide Hände um den Haltegriff geklammert, ihre Kinderschürze verrutscht, die Augen feucht. Die Renate zuckte mit den Schultern. An der Hand ihrer Mutter stieg sie aus dem Bus, ich beugte mich vor und gab ihr einen Kuss, dann nahm ich meiner Schwester die Tasche ab.

»Puh …« Die Liesel knöpfte ihren Mantel auf und wischte sich eine Locke aus dem Gesicht. Dann stieg sie wieder ein und zupfte ihre kleine Tochter am Ärmel. »Jetzt mach einmal, der Bus fährt gleich weiter.«

»Nicht zum Gottele!«

»Herrgott, jeden Montagmorgen das gleiche Theater.«

»Nicht zum Gottele.« Die Helga ließ die Haltestange los und schlug die Hände vors Gesicht, sie weinte und strampelte mit den Beinen, trat mit ihren Sandalen in die Luft. Meine Schwester zögerte einen Moment, dann zog sie ihre Tochter vom Sitz und trug sie aus dem Bus.

»Komm, mein Schatz, wir gehen heim und ich bereite euch ein Frühstück.« Ich streckte die Hand nach der Kleinen aus. »Die Mama muss zur Arbeit und die Tante Anni hat daheim auch viel zu tun.«

Der Fahrer hupte.

»Ade!«, rief die Liesel, gab jedem Mädle einen Kuss und sprang wieder in den Bus. »Bis Samstag.« Sie winkte und strich mit der anderen Hand über ihren runden Bauch. »Und seid brav!« Zischend schlossen sich die Flügel der Tür. Der Fahrer fuhr an und eine Rußwolke stob aus dem Auspuffrohr. Die Renate winkte und die Helga heulte. »Neiiin!«

Seufzend fuhr der Bus weiter Richtung Schonach.

Energisch schob ich die Kinder über die Straße. Die Renate griff nach meiner Hand, doch die Helga lief mit steifen Beinen, sie verdrehte ihren Hals und schaute, wütend weinend, dem Postbus hinterher, der ihre Mutter mit sich nahm; jeden Montag in der Früh auf dem Weg in die Kuckucksuhrenfabrik brachte die Liesel ihre Töchter und ich gab die Woche über auf sie acht, wie ich auf meine jüngeren Geschwister achtgab.

»Mammmmaaaa …« Der gelbe Bus schlängelte sich an der Felswand entlang und verschwand hinter einer Kurve. Kaum war er nicht mehr zu sehen, wich alle Spannung aus Helgas Körper, beinahe fiel sie in sich zusammen.

»Komm, Mädle.« Ich strich über ihr Haar und nahm sie auf den Arm, sie wehrte sich nicht und ich trug sie den Pfad hinauf, hielt auf unser Haus zu und die Renate stapfte nebenher und erzählte atemlos, dass ihr Vater in der Früh wieder mit dem Lastwagen fortgefahren war; meine Nichten waren gut zu haben, doch wenn die Liesel sie am Wochenende daheim verwöhnte, gab es mit der Kleinen am Montagmorgen immer ein Geschrei.

In der Küche schenkte ich beiden ein Glas warme Milch ein und schaltete das Radio an; um diese Zeit lief meist eine politische Sendung. »Soll ich euch die Schaukel draußen aufhängen?«

Die Renate nickte, die Helga schmollte.

Es knisterte und knarzte aus den Lautsprechern und ich drehte an dem Bakelitknopf, bis die Stimme des Radiosprechers klar zu hören war. Er sagte, dass Bundeskanzler Adenauer gesagt habe, bei der Bundestagswahl am 15. September ginge es darum, ob Deutschland und Europa christlich blieben oder unter kommunistische Gewalt gerieten, und ich schnitt zwei Scheiben Brot ab und bestrich sie mit Butter und Himbeermarmelade. Während die Mädchen kauten, lief ich in den Schuppen und suchte die Schaukel, die der Vater einst gebaut und im Winter in der Stube an einen Deckenbalken gehängt hatte, damit meine Geschwister und ich schaukeln konnten, während die Mutter und er auf der Ofenbank saßen, sie mit ihrem Strickzeug, er mit seiner Pfeife.

Noch immer spürte ich ein Loch in meinem Herzen.

Seit seinem Tod war die Welt eine andere, ihr Zentrum war verlorengegangen und ich kreiste wie ein Trabant um diese Leere. Lange Zeit schlief ich abends mit dem Gedanken ein, in der Früh wäre der Papa wieder da. Alle Tage trug ich schwarze Kleider, sang keine Schlager mehr und das Radio schwieg; mit dem Vater war alle Freude gegangen. Gleichwohl war er allgegenwärtig, gehorchten meine kleinen Brüder nicht, schimpfte ich: »Wenn das der Papa wüsste!« Im Ort nahmen wir einen anderen Weg, liefen nun stets am Friedhof vorbei, hielten am Grab inne und beteten. Oft brachte ich Blumen und dachte zugleich: Davon hat er nun nichts mehr – drum sollten wir zu denen, die wir lieben, gut sein, solange wir beieinander sind. Es war die Babette, die mich zwang ins Leben zurückzukehren. Im Januar 1955 trug ich zum ersten Mal wieder helle Strümpfe und eine weiße Bluse zum schwarzen Rock.

Kurze Zeit später starb die Mutter.

Ich hatte sie gepflegt, war nachts aufgestanden und hatte ihren Kopf gehalten, wenn sie hustete und nach Luft rang, weil schließlich auch ihre Lunge voller Wasser war. Die Rosmarie sagte: »Ich weiß nicht, wie du das schaffst«, dann ging sie wieder zu Bett und versuchte noch etwas zu schlafen, denn sie musste in der Früh in die Fabrik, während ich bei der Mutter blieb und ihre Hand hielt, bis sie erschöpft einschlief und die Morgendämmerung über die Berggipfel kroch.

Im April 1955 fuhren wir ins Unterland und trugen die Großmutter zu Grabe. Wieder daheim, versagte Mutters Leber. Sie magerte ab; die Hebamme sah sie eines Tages im Krankenhaus, erschrak und raunte: »Heiliger Vater! Mädle, sie wiegt ja nur noch halb so viel wie du …«

Am Pfingstsonntag besuchten wir die Mutter.

Am Pfingstmontag sagte sie: »Passt auf die Hedwig auf.«

»Sie wird sterben«, flüsterte der Rochus, wieder daheim. Ungläubig sah ich ihn an – sie war grad fünfzig Jahre alt.

Am Dienstag starb sie.

Vier Tage vor meinem siebzehnten Geburtstag, und wieder fielen wir in ein Loch, vor allem die Hedwig, die erst acht war, schüchtern und ein wenig ängstlich, und sehr an der Mutter gehangen hatte. Hedwigs Patin, die drei Söhne hatte und stets sagte, sie hätte lieber drei Töchter bekommen, bot an, sie eine Weile zu sich ins Unterland mitzunehmen, in einer anderen Umgebung ließe sich der Verlust leichter verwinden, und so fuhr unsere Jüngste zwei Tage nach der Beisetzung fort.

Jeden Tag in der Früh, wenn der Toni, die Rosmarie und der Hans zur Arbeit fuhren und die Resi und der Erich zur Schule aufbrachen, blieb ich nun zurück, kämpfte gegen die Stille, die nur vom Rauschen des Baches unterbrochen wurde, vom Muhen der Kühe, und ab und zu fuhr drunten auf der Straße ein Auto vorbei oder der Postbus. Wie betäubt versorgte ich Haushalt und Vieh, kochte und pflanzte Salat, jätete Unkraut und las Kartoffelkäfer, wendete Heu und gab auf die Kleinen acht und half bei den Hausaufgaben, ich tröstete meine Geschwister und manchmal weinten wir gemeinsam, anschließend molk ich und brachte die Milch fort und bereitete später das Nachtessen und bügelte und flickte, und manchmal verdrängte die viele Arbeit sogar die Trauer.

Bis sie zurückkehrte, mit einem Schlag, sich wieder auf meine Brust legte.

»Gottele?« Die Helga sah auf und in ihrem Gesicht glänzten die Spuren getrockneter Tränen.

Ich strich ihr übers Haar. »Ja, mein Schatz?« Bei der Taufe ihres ersten Kindes hatte die Liesel nicht einmal gefragt, ob ich Patin werden wollte, sie hatte es einfach bestimmt, und als vor drei Jahren die Helga zur Welt kam, wählte sie mich wieder als Gottele.

»Ich muss mal.«

Die Renate schaukelte, ihr Rock bauschte sich in der Luft und ihre hellen Haare flogen ihr ins Gesicht. Drüben beim Bach grasten die Berta und die Minna; die anderen Kühe hatten wir dem Viehhändler verkauft, die Landwirtschaft wurde unrentabler, überall gingen die Leute in die Fabrik. Ich nahm die Helga bei der Hand und wir liefen ums Haus.

Anfangs hatte man im Ort auf uns geschaut. »Die armen Kinder«, raunten die Leute und manche fügten hinzu: »Allein werden sie nicht zurechtkommen.« Kaufte die Resi im Konsum ein, wurde hinter vorgehaltener Hand geflüstert: »Das Kind sieht so elend aus, so kann es nicht weitergehen!« Wir bekamen einen Vormund, einen hageren, abgearbeiteten Mann aus dem Ort, an jedem Ersten eines Monats brachte er unsere Waisenrente, die hatte er auf der Post abgeholt, und eines Tages sagte er zum Rochus, künftig werde er einen Teil einbehalten und zurücklegen, für Notfälle. Wütend, dass der Mann so über unser Geld verfügte, lief ich nach Schonach, vorbei am Friedhof und zum Grab der Eltern, ich sprach ein Vaterunser und berichtete...


Eichhorst, Sabine
Sabine Eichhorst arbeitet für die ARD und schreibt Bücher, zuletzt über das Leben einer Magd, Ein Tagwerk Leben. Sie wurde mit dem Civis Medienpreis der ARD ausgezeichnet.

Hettich, Anna
Anna Hettich lebt heute in der Nähe von Donaueschingen.

Anna Hettich lebt heute in der Nähe von Donaueschingen.



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