E-Book, Deutsch, Band 18, 200 Seiten
Hessenberger Alte Neue TelferInnen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7065-5778-8
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Migrationsgeschichten und biografische Erinnerungen
E-Book, Deutsch, Band 18, 200 Seiten
Reihe: Studien zu Geschichte und Politik
ISBN: 978-3-7065-5778-8
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
20 Porträts, 20 Lebensgeschichten, 20 Aufbrüche
Unsere Gesellschaft wird immer mobiler. Menschen reisen, ziehen um, wandern aus. Sie verändern ihre Umgebung und ihre Umgebung verändert sie.
Im Rahmen von 20 Interviews mit Menschen, die im Ausland geboren wurden, werden Migrationsbiografien unter die Lupe genommen: 20 sehr unterschiedliche Menschen aus 12 Ländern stellen sich selbst und ihre Lebensgeschichte vor, sie berichten von ihren Träumen, dem Abschiednehmen und dem Ankommen und davon, was für sie Heimat ist. Gemeinsam ist ihnen, dass sie heute in Telfs leben und das Leben in diesem Ort auf unterschiedlichste Weise mitgestalten. Sie sind Alte Neue TelferInnen.
Die Migrationsgeschichte Tirols im Brennglas - Telfer Migrantinnen und Migranten
Die 20 Lebenserzählungen Alter Neuer TelferInnen veranschaulichen die jüngere Migrationsgeschichte Tirols. Sie zeigen die Vielfalt unserer Gesellschaft auf und lassen, was zunächst fremd erscheint, vertraut werden. Der Fotograf Michael Haupt ergänzt die Erzählungen in Form sehr persönlicher Porträts
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Oral History (Zeitzeugen)
- Sozialwissenschaften Ethnologie | Volkskunde Volkskunde Minderheiten, Interkulturelle & Multikulturelle Fragen
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Soziologie von Migranten und Minderheiten
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Historische Migrationsforschung
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
Weitere Infos & Material
Zur Telfer Migrationsgeschichte und der Bedeutung ihrer Dokumentation
Als Geschichte wird wahrgenommen, was sichtbar ist. Das allgemeine, im öffentlichen Raum abgebildete, zwar konstruierte aber dennoch beharrliche Geschichtsbild prägt das Selbstverständnis einer Bevölkerung maßgeblich. Diese Geschichte wird in Büchern und Museen reproduziert, bei Veranstaltungen und im Rahmen von Traditionen dargestellt, interpretiert und inszeniert. Das Phänomen der Migration lässt sich allerdings kaum in Form von Denkmälern oder Gebäuden, sondern bestenfalls in Form schriftlicher Hinterlassenschaften oder einzelner Objekte dokumentieren. Es ist eng mit den Biografien der Menschen verbunden, die eine solche Wanderung auf sich genommen haben. Gerade dann, wenn es im Zuge der Migration zur Marginalisierung kommt und Menschen ihre gewohnte soziale Stellung in der Gesellschaft verlieren und gesellschaftlich an den Rand gedrängt werden, handelt es sich vielfach um weniger angenehme Erfahrungen. Gerne werden die persönlichen Erlebnisse in Zusammenhang mit der eigenen Migration dann versteckt, verdrängt, vergessen. So kommt es mitunter dazu, dass auch das Phänomen der Migration selbst versteckt, verdrängt, vergessen wird. Nur noch an den Namen, vielleicht auch am Äußeren einer Person oder an einem leichten Akzent sind die Spuren einer Reise von dort nach hier erkennbar. Aber in die Geschichtsschreibung geht das Phänomen der Migration, besonders jenes der Zuwanderung während der letzten 50 Jahre, kaum ein. Kaum ist es in Schulbüchern, kaum in wissenschaftlichen Arbeiten, kaum in der regionalen Dokumentation zu finden. Und nur selten wird es als Bestandteil einer regionalen Identität repräsentiert. Dabei eilt Telfs sein Ruf als Gemeinde mit einem hohen Anteil an MigrantInnen voraus. Sei es wegen des Minaretts, das die islamische Glaubensgemeinschaft 2006 errichtete, oder auch wegen der Sichtbarkeit seiner „Neuen“ EinwohnerInnen, die sich mit ihren Kindern viel auf Spielplätzen aufhalten und manchmal aus religiösen Gründen Kopftücher tragen. Faktum ist, dass in Telfs Menschen aus immerhin 84 Nationen ihren Wohnsitz haben, und die Gemeinde mit einem AusländerInnen-Anteil von 16,89 % über dem Gesamt-Tiroler Schnitt von 13,29 % liegt – was allerdings für einen Zentralort nicht außergewöhnlich ist.1 Die Tatsache, dass die Gemeinde eine besonders heterogene Bevölkerung beheimatet, ist allerdings alles andere als neu. Lange vor dem 2012 errichteten Flüchtlingsheim und auch vor der Zuwanderung durch die erwünschten „GastarbeiterInnen“ seit den 1960ern erlebte Telfs immer wieder starke Zuwanderungsbewegungen. Der Aufschwung der Textilindustrie Mitte des 19. Jahrhunderts zog viele hundert ArbeiterInnen an, aber auch in den Jahrhunderten zuvor war das Leben in Telfs als einwohnerstärkste Siedlung der Region, als Gerichtssitz, Verkehrsknoten und wichtiger Handels- und Transitort mit kleinstädtischem Charakter seit jeher mit Vielfalt und Migration konfrontiert.2 Die Wanderungsbewegungen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sind, soweit das retrospektiv möglich war und ist, heute einigermaßen dokumentiert. Zu den Migrationsbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus und nach Österreich gab es bis vor wenigen Jahren allerdings ungleich weniger schriftliche Dokumente. Sogar der zahlenmäßig umfangreiche Zuzug unter dem Schlagwort der „Gastarbeiterwanderung“ seit den 1960er Jahren blieb bis vor kurzem bar einer gründlichen wissenschaftlichen Dokumentation.3 In vielen Archiven fand die Arbeitsmigration kaum Niederschlag, bzw. wurden die Akten nach einigen Jahren vernichtet, weil sie offenbar für irrelevant gehalten wurden. Lebensgeschichtliche Erzählungen stellen daher – gemeinsam mit der Dokumentation diverser Egodokumente (wie Briefe, Tagebücher, sonstige Aufzeichnungen) – wichtige zeithistorische Zeugnisse dar. Nicht nur die Migrationserfahrung steht im Mittelpunkt des Interesses, häufig erlauben biografische Erzählungen auch Einblicke in das Erleben historischer Krisen (z. B. Jugoslawienkrieg, Kalter Krieg und „Eiserner Vorhang“, Wirtschaftskrisen). Sie stellen einen Puzzlestein in der Aufarbeitung des 20. Jahrhunderts dar, leisten aber auch einen wichtigen Beitrag zum Selbstverständnis der Bevölkerung: Die Erzählungen Zugewanderter sowie ihre Egodokumente erlauben einen unbefangeneren Blick auf die Gemeinde und ihre Bevölkerung. Während etwa Migranten aus der Türkei im Zuge ihrer Erinnerungen an die Ankunft in Österreich von engen Betriebsunterkünften und großer sozialer Distanz zur einheimischen Bevölkerung berichten, erinnern sich Migrantinnen aus dem skandinavischen Raum z. B. daran, wie ihnen in den ersten Jahren in Österreich mangelnde Infrastruktur, der übermäßige Alkoholkonsum der Männer oder die stark traditionelle geschlechterspezifische Rollenverteilung auffielen. Das empirische Material eignet sich durchaus zur gesellschaftlichen Reflexion und spiegelt darüber hinaus sehr unterschiedliche Perspektiven wider. Im Rahmen vieler kleiner und größerer Forschungsprojekte einerseits,4 andererseits im Zuge von Schwerpunktsetzungen mit großer medialer Reichweite seitens großer Museen5 rückt nun auch die Migrationsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend in den Fokus. Ausstellung „Alte Neue Telfer Innen“ im Noaflsaal 2014 [Edith Hessenberger]. Geschichtsforschung als Methode der Sensibilisierung
Das Projekt „Alte Neue TelferInnen“ mit Fokus auf die Telfer Migrationsgeschichte möchte einen Beitrag dazu leisten, die Geschichten der Zugewanderten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr ins Bewusstsein zu rücken. Ereignisse, Perspektiven und Lebenserzählungen von MigrantInnen werden dokumentiert und teilweise öffentlich zugänglich gemacht, um damit Personengruppen in den Fokus zu holen, die bis dato in der Geschichtsschreibung der Marktgemeinde wenig repräsentiert waren. Dies trifft insbesondere auf ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei oder Jugoslawien zu. Das Interviewprojekt hat hier den Anspruch, die gesellschaftlich vielfach defizitäre Wahrnehmung von MigrantInnen und ihres Beitrags zum Zusammenleben aufzuweichen und vielleicht sogar umzukehren. Gerade das Thema der Migration und Integration ist im Zuge politischer Diskussionen stark emotionalisiert. Da allerdings im Projekt das Phänomen der Migration im Allgemeinen, verbunden mit ihrer Wahrnehmung durch die Betroffenen und die vielfältigen Begleiterscheinungen, im Mittelpunkt steht, endet das Interviewprojekt nicht beim Thema Arbeitsmigration. In den 1950er Jahren waren es vor allem Menschen, die im Rahmen des Optionsabkommens zwischen Hitler und Mussolini nach Tirol migrierten, und die damalige Telfer Bevölkerung mit ihren fremden Gebräuchen und durch ihre zahlenmäßig starke Zuwanderung in die „Südtiroler Siedlung“ durchaus irritierten. Die Migrations- und Integrationserfahrungen dieser Südtiroler OptantInnen sind jenen der ArbeitsmigrantInnen aus den 1970er Jahren in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Aus diesem Grund setzt das Forschungsprojekt bei den ältesten noch Lebenden der Telfer „Zuagroasten“, nämlich den SüdtirolerInnen an. Doch auch durch das Einbeziehen dieser Gruppe ist längst nicht alles gesagt. Die Mobilität der Gesellschaft, der Wohlstand und seine Begleiterscheinungen wie etwa der Tourismus nahmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stetig zu und bewirkten, dass Menschen aus unterschiedlichsten Regionen und Ländern in (Liebes-) Beziehung traten und so überwiegend aus emotionalen denn aus wirtschaftlichen Gründen nach Telfs kamen. Diese Lebensgeschichten ähneln einander unabhängig vom Herkunftsland insofern, als sich das Gefühl der Vertrautheit durch den „einheimischen“ Partner im Ort mit dem Gefühl der Fremdheit durch die eigene Migrationsgeschichte vermischen. Im Zentrum des Projekts stehen also lebensgeschichtliche Interviews mit Menschen, die im Ausland geboren wurden und heute seit mehreren Jahrzehnten in Telfs wohnhaft sind. Ihr Beitrag zum Zusammenleben, einmal ins Rampenlicht gerückt, ist beeindruckend: Die gebürtige Dänin Jytte Klieber hat etwa das System der Hauskrankenpflege in Telfs und den umliegenden Gemeinden aufgebaut, der gebürtige Türke Temel Demir setzte sich für die Infrastruktur der Islamischen Glaubensgemeinschaft ein und bereitete maßgeblich den Boden für den interreligiösen Dialog, der gebürtige Bulgare Kristian Tabakov ist als Musikschullehrer und Musiker aus der Kulturszene nicht mehr wegzudenken, die Tanztherapeutin Judy Kapferer schuf völlig neue Angebote für Frauen, die dazu einluden, sich mit sich selbst und der eigenen Rolle auseinanderzusetzen. Doch die Leistung der Neuen TelferInnen besteht nicht nur in ihrem Beitrag zum öffentlichen Leben. Auch Menschen, die weniger in der Öffentlichkeit stehen, gestalten ihr Umfeld maßgeblich mit: durch ihre frische Perspektive auf das gesellschaftliche Leben, durch ihre verlässliche und qualitätsvolle Arbeit, durch ihre einzigartigen Erfahrungen nicht nur im Rahmen ihrer Migration, und vor allem durch ihr klares Bekenntnis zu Österreich, Tirol und Telfs als...