E-Book, Deutsch, 64 Seiten
Reihe: Streitschrift
Im Gespräch mit Gilles Vanderpooten
E-Book, Deutsch, 64 Seiten
Reihe: Streitschrift
ISBN: 978-3-8437-0133-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Gespräch mit dem jungen Journalisten Gilles Vanderpooten vertieft der ehemalige Diplomat seine Vorstellung von einem engagierten Leben. Eine komplexer gewordene Welt, so Hessel, erfordert komplexe Strategien. Widerstand darf aber nicht nur im Kopf passieren. Wir müssen handeln, und zwar mit den Mitteln der Demokratie. Dazu gehören die Beteiligung an Protesten, internationale Zusammenarbeit sowie persönliches Engagement im Kleinen. Aber vor allem brauchen wir eines: den Glauben daran, dass unser bürgerliches Engagement die Welt verändern kann.
"Der Diplomat Stéphane Hessel" - Ein Kinodokumentarfilm. Jetzt auf DVD: www.derdiplomatstéphanehessel-derfilm.de
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Widerstand heute
Gilles Vanderpooten: Eine Ihrer Botschaften an die Jugend von heute lautet: »Setzt euch zur Wehr«[1], wie Sie es selber getan haben. Sie sagen: »Es braucht nur eine geschlossene, aktive Minderheit engagierter junger Menschen, und unser Land wird ein Land des Widerstandes sein.« Wie kann man den Geist der Résistance von 1941 bis 45 auf heute übertragen? Und wofür und wogegen genau soll man sich engagieren?
Stéphane Hessel: Die Résistance war historisch einmalig, nicht wiederholbar: ein besetztes Land, Menschen, die sich gegen Unerträgliches auflehnten.
Und heute? Unerträgliches auch jetzt, und wir sollten es halten wie damals, als wir die deutsche Besetzung, Auschwitz, den Nationalsozialismus, den Antisemitismus nicht hinnehmen wollten – mit der Vision, unser Land werde, sobald es befreit wäre, die Werte aus dem Programm des Nationalen Widerstandsrates für die Zukunft festschreiben.
G. V.: Das Programm des Nationalen Widerstandsrates forderte ganz konkrete Maßnahmen wie »die Rückgabe der gemeinsam erarbeiteten und dann monopolisierten großen Produktionsmittel, der Energiequellen, der Bodenschätze, der Versicherungsgesellschaften und der Großbanken an die Nation«. Halten Sie das auch heute noch für aktuell?
S. H.: Selbstverständlich hat sich seither vieles geändert. Die Problematik ist eine andere, und damit auch die Relevanz unseres damaligen Programms. Da würde blinder Übernahmeeifer nur schaden. Die Werte aber, denen wir damals verpflichtet waren, sind die gleichen geblieben und gleich verbindlich: die Werte unserer Republik und der Demokratie. Alle Regierungen seither können daran gemessen werden.
Das Programm des Nationalen Widerstandsrates verkörperte eine Vision, die nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat: ein entschiedenes Nein zum Diktat von Geld und Profit, zum Auseinanderklaffen von extremer Armut und arrogantem Reichtum, zum Wirtschaftsfeudalismus, ein entschiedenes Ja für eine wirklich unabhängige Presse, für umfassende soziale Sicherheit. Vieles von dem, was uns damals wichtig war und auch umgesetzt wurde, wird heute in Frage gestellt, bis zur echten Gefährdung.
Zahlreiche Maßnahmen der letzten Zeit sind für meine Kameraden aus der Résistance – und für uns – ein Schock. Sie lassen sich nicht mit diesen Grundwerten vereinbaren. Wir, und vor allem die Jungen, dürfen das nicht hinnehmen. Verschließen wir nicht die Augen vor den schreienden Ungerechtigkeiten um uns herum. Lassen wir uns nicht vor Tatsachen stellen, die wir als leider vollendet zu akzeptieren hätten.
G. V.: Zum Beispiel?
S. H.: Für den größten Skandal halte ich die soziale Ungleichheit im Wirtschaftsleben, den Gegensatz von sehr reich und sehr arm in einer Welt, die zusammengewachsen ist. Nicht genug, dass es reiche und arme Länder gibt. Die Kluft zwischen beiden wird immer noch tiefer, vor allem seit etwa zwanzig Jahren, und wirkliche Abhilfe ist nicht in Sicht.
Der Jugend von heute muss das klargemacht werden. Aber gegen diese Art Ungerechtigkeit etwas zu unternehmen ist viel komplexer, als sich gegen eine Besatzungsmacht aufzulehnen. Damals schloss man sich einer Widerstandsgruppe an, ließ einen Eisenbahnzug hochgehen. Das war einfach – relativ. Heute heißt das: nachdenken, publizieren, Politiker wählen, die hoffentlich das Richtige tun werden – kurz, sehr langfristig planen und handeln.
G. V.: Wie sensibilisiert man für den »Skandal der Ungleichheit« die vielen Menschen, die damit nicht unmittelbar in Berührung kommen?
S. H.: Es genügt nicht, sich aufzuregen, wie ungerecht die Welt ist. Ungerechtigkeit ist sehr konkret. Sie lauert an meiner Tür, hier und jetzt.
Ich lebe unter Reichen und Armen. Irgendwann merke ich, dass es diese schlimme Armut gibt und dass ich falsch reagiere, wenn ich auf jemanden treffe, der gerade seine Stelle verloren hat, während seine Firma munter weiter kassiert.
Was wird da von mir gebraucht? Zur Stelle sein mit Worten und Taten, mit Herz und Verstand. Dem Betroffenen Unterstützung gewähren. So kann mich diese Kluft zwischen sehr reich und sehr arm, die meine Empörung geweckt hat, zu konkretem Handeln führen. Für diesen ersten großen Problembereich kann das Wort »Widerstand« also durchaus einen konkreten Sinn haben.