E-Book, Deutsch, 445 Seiten
Reihe: Reclam Taschenbuch
Reclam Taschenbuch
E-Book, Deutsch, 445 Seiten
Reihe: Reclam Taschenbuch
ISBN: 978-3-15-961847-0
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Helge Hesse, geboren 1963, studierte Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. Er verfasste zahlreiche erfolgreiche Sachbücher zu kulturellen, historischen und philosophischen Themen. Sein Bestseller 'Hier stehe ich, ich kann nicht anders. In 85 Sätzen durch die Weltgeschichte' wurde in 14 Sprachen übersetzt. Hesse lebt als freier Autor und Publizist in Düsseldorf.
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1776 Mit neuem Blick auf neue Wege
Gleich nach der Rückkehr im Vorjahr war das Schiff außer Dienst gestellt worden: So dümpelte James Cooks Resolution auch am Neujahrstag in der Themsemündung im Hafen von Deptford. Vom Schiffsrumpf fehlte seit einigen Tagen ein Stück Holz. Das hatte sich Georg Christoph Lichtenberg vor seiner Heimreise nach Deutschland als Souvenir herausschneiden lassen. Wie das Holzstück der Resolution war bereits im Oktober in Stratford-upon-Avon ein Span von Shakespeares Stuhl in Lichtenbergs Besitz gelangt. Für einen Schilling hatte er diesen im ehemaligen Wohnhaus des großen Dichters mitnehmen dürfen. Silvester wieder in Göttingen eingetroffen, betrachtete der Heimkehrer womöglich versonnen das Stück Schiffsholz, das mit seinem Freund Forster und dessen Sohn einst die Meere befahren hatte. Derweil warteten in Soho jene neuen Kräfte und Mächte darauf, entfesselt zu werden, von denen Matthew Boulton vor James Boswell behauptet hatte, sie seien von aller Welt gewünscht. Trotz seiner großen Reden ahnten wohl weder Boulton noch sein Konstrukteur James Watt, wie entscheidend diese Kräfte Eisen und Dampf bald zur raschen Veränderung der Welt beitragen sollten. Unter wochenlanger akribischer Aufsicht Watts stellte man nun jene Atmosphärendruck-Dampfmaschine auf, deren Herstellung Lichtenberg noch recht ratlos gemacht hatte. Der Januar war noch nicht sehr alt, da stand sie bereit für den Einsatz. In Amerika hatte Thomas Paine die Schrift als Waffe entdeckt. Aus seiner Feder erschien um den 10. Januar in Philadelphia, zunächst anonym, das dünne Büchlein Common Sense. Schon bald war es im ganzen Land eine halbe Million Mal verkauft, und die zweite Auflage verriet immerhin, der Autor sei »An Englishman«. Dann sickerte Paines Name durch, auch weil Benjamin Franklin dessen Urheberschaft einigen Weggefährten mitgeteilt hatte. Ende Januar las George Washington das Buch. Sein General Charles Lee hatte ihm in einem Brief seine Begeisterung geschildert. In Common Sense führte Paine eine vehemente Attacke gegen das britische Mutterland, das unter der Führung König Georges III. die Freiheit der Amerikaner unterdrücken wolle. Paine argumentierte: »Mehr als einfache Fakten, klare Gründe und gesunder Menschenverstand« sprächen für eine Unabhängigkeit. Die oft vorgetragene Ansicht, wonach alles, was aus der »alten« Welt in die »neue« komme, schlechter werde, kehrte er um. Das Gegenteil sei der Fall: Alles werde in der neuen Welt besser. Denn hier herrsche ein Aufbruch, in dem die Laster der alten Welt verschwänden. Paine rief dazu auf, eine Gesellschaft zu schaffen, in der jeder, egal welcher Herkunft, sich als Gleicher unter Gleichen sehe und in der das Individuum wichtiger sei als der Staat. Der Staat sei, das unterstrich Paine ausdrücklich, nur ein unvermeidliches Übel, das möglichst selten in das Leben des Einzelnen eingreifen dürfe. Paines Ausführungen gipfelten in dem Ausruf: »Es steht in unserer Macht, die Welt aufs Neue zu beginnen.« Diesen Neubeginn sah Paine in der Errichtung einer Republik, denn eine Monarchie hemme den Fortschritt und schere sich nicht um die Menschheit. Eine amerikanische Republik, aufgebaut auf Common Sense, werde schließlich die Freiheit in alle Welt tragen. Allein schon deshalb müsse man die Freiheit in Amerika erkämpfen. Was für eine Vision! Watts Maschine sollte in Bersham aufgestellt werden, wo sie beim Eisenhüttenbetreiber John Wilkinson für den Antrieb der Gebläse vorgesehen war. In einer Art früher Arbeitsteilung hatte Wilkinson die Zylinder der Maschine selbst gefertigt und dafür ein spezielles Verfahren benutzt. Es beruhte auf einem Patent zum Gießen und Bohren von eisernen Kanonenrohren, das er selbst zwei Jahre zuvor angemeldet hatte. Alle diese Arbeiten überwachte James Watt akribisch, dabei permanent gequält von Kopfschmerzen. Die befielen ihn immer, wenn er unter Druck stand; und das stand er meist. Watt stammte aus der westschottischen Hafenstadt Greenock. Er war der Sohn eines zwar armen, aber äußerst gebildeten Schiffsausrüsters und Tüftlers. Als Kind oft krank gewesen, war ihm ein Studium verwehrt geblieben. Doch die Universität von Glasgow war auf seine Talente aufmerksam geworden und hatte ihn auch ohne akademische Bildung als Mechaniker und Instrumentenbauer angestellt. Watt ging alles mit unerbittlicher Systematik an und erwies sich rasch als geborener Wissenschaftler. Zugleich zeigte er großes Talent für das Praktische. Er konstruierte Brillen und sogar eine Orgel. Watts Geschäftspartner Boulton bildete in vielem dessen Gegenpart: ein lebenslustiger, von unverwüstlicher Zuversicht durchdrungener und gewinnender Menschenfreund, der, als Sohn eines Unternehmers aus Birmingham ohnehin schon wohlhabend von Geburt, auch durch Mitgift und Erbe aus zwei Heiraten – wovon zumindest die erste Ehe als eine eher strategische gesehen wird – sehr reich geworden war. Geschäfte mussten für Boulton auf langfristigen vertrauensvollen Beziehungen aufbauen. Anders als Watt, der in Fragen des Geldes das Klischee des sparsamen Schotten erfüllte, schaute Boulton nicht immer auf den Penny, weshalb Watt einmal spottete, seinem Geschäftspartner sei der Ruhm wichtiger als der unternehmerische Gewinn. Wie Watt hatte Boulton nicht studiert, sich aber mit unersättlicher Neugier durch die Bibliothek seines Vaters gelesen und in unzählige wissenschaftliche Experimente gestürzt. Er war vernarrt in die Verheißungen des technischen Fortschritts und angetrieben von der Idee, die Welt zu einer besseren zu machen. Zwischen 1762 und 1765 hatte Boulton auf den Wiesen am Rande Birminghams, das schon seit Generationen als Zentrum britischer Eisenproduktion galt, mit seinem damaligen Partner John Fothergill im Örtchen Soho die Soho Manufactory errichten lassen. Das dreistöckige, von dem Klassizismus des italienischen Renaissance-Baumeisters Andrea Palladio beeinflusste Hauptgebäude mit Uhrenturm wurde zum Symbol der Manufaktur. Es beherbergte Werkstätten, Ateliers und Maschinenhallen. In der obersten Etage wohnten leitende Angestellte mit ihren Familien. Ein Industrieviertel wuchs heran, eines der ersten der Welt. Während Boulton eine Fabrik aufbaute, in der Arbeiter in festgelegten Schichten arbeiteten, erhielt Watt 1764 in Glasgow die Aufgabe, eine der Universität gehörende defekte Atmosphärendruckmaschine zu reparieren, eine des Typs, den Thomas Newcomen schon 1711 entwickelt hatte. Diese ersten kommerziell genutzten Dampfmaschinen setzte man vor allem für das Auspumpen von Steinkohlegruben ein, die man immer tiefer in die Erde trieb, was dazu führte, dass weitere dieser Maschinen gebraucht wurden, um das in der zunehmenden Tiefe immer stärker eindringende Wasser herauszupumpen. Zum Antrieb der Maschinen benötigte man viel Holz, und so verfeuerte man für den Abbau der in immer größeren Mengen nachgefragten und immer kostengünstiger abzubauenden Steinkohle nach und nach Englands Wälder. Ein Teufelskreis der Naturzerstörung war im Gang. Watt wollte die Effizienz der Maschinen steigern. Er tüftelte Tag und Nacht und kam schließlich auf die Idee eines Kondensators. Dieser machte seine Version einer Dampfmaschine um 75 Prozent leistungsfähiger. 1769 erhielt er dafür ein Patent. Doch Watt brauchte Finanziers. Er fand den Grubenbesitzer John Roebuck. Der zahlte Watts Schulden und bekam dafür einen Großteil der Rechte. Doch dann ging Roebuck pleite. Etwa zur gleichen Zeit starb Watts Frau nach der vierten Schwangerschaft. Watt war am Boden zerstört. Da bewog ihn Boulton, nach Birmingham zu ziehen, wo er die konzentrierte Arbeit an seiner Erfindung 1775 wieder aufnahm. Boulton übernahm als Schuldenausgleich Roebucks Zweidrittel-Anteil an Watts Patent, und es gelang ihm dank seiner Verbindungen zum britischen Parlament, die Patentrechte bis 1800 zu verlängern. Zugleich rührte er in seiner überschwänglichen Art die Werbetrommel und lobte überall Watts Fähigkeiten über den grünen Klee, was dazu führte, dass der Botschafter von Zarin Katharina der Großen Watt nach Russland locken wollte. Boulton war alarmiert und machte Watt auf die Beschwernisse einer Reise nach Russland, auf die dortige Kälte und dessen schwache Gesundheit aufmerksam. Watt blieb. Als Watt dann erneut heiraten wollte, sprang Boulton ihm bei. Watt hatte für sich eine neue Gefährtin und für seine Kinder eine neue Mutter gesucht, und in Glasgow hatte er tatsächlich eine Braut gefunden. Auf die Frage des argwöhnischen Brautvaters, ob denn ein Vertrag der Partnerschaft mit Boulton bestehe, antwortete Watt auf eine Weise, die dem Vater »erlaubte, zu glauben, ein solcher Vertrag existiere«, wie er Boulton gestand. Das aber war nicht der Fall. Boulton half Watt aus der Patsche, indem er dem Vater der Braut vorlog, der Gesellschaftervertrag sei sehr vorteilhaft für den Schwiegersohn in spe, nur leider gerade nicht zu finden. So heiratete Watt am 29. Juli die Witwe Anne McGregor. Wie Watts erste Frau erwies sie sich als wundervolle Unterstützung. Anne war liebevoll, sprang ihm in geschäftlichen Dingen bei, die ihm allzu oft schwerfielen, vor allem half sie ihm immer wieder aus tiefen Gemütsverdunkelungen. Watt und Boulton fanden bald einen Weg, wie sie Kunden von der Anschaffung der teuren Maschinen überzeugen konnten. Sie ließen sich als Preis ein Drittel der Ersparnis gegenüber der Newcomen-Maschine zahlen. Diese Summe konnten die Kunden in Anteilen und in Raten begleichen. Für alle Kunden, die keine Newcomen-Maschine benutzt hatten und meist nach wie vor Pferde...