Herrmann | Platzwechsel | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Herrmann Platzwechsel


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-86391-226-0
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-86391-226-0
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eigentlich hatte André gedacht, endlich den Absprung aus seiner Heimat in der Provinz Sachsen-Anhalts geschafft zu haben. Weg von Klassentreffen, Hochzeiten und Thermomixen. Wären da nicht sein Großvater, der an Demenz erkrankt ist, ins Heim zieht und jeden Tag ein bisschen mehr den Anschluss an die Welt verliert, und sein bester Kumpel Maik, der auf die furchtbar grandiose Idee kommt, André einen Job in der Heimat zu besorgen ...

André Herrmann erzählt mit viel Humor von den weniger lustigen Seiten des Lebens: von Krankheiten, Ängsten und vom Altern – aber auch von lebensgroßen T-Rex-Skulpturen, von Trennungsfeiern und davon, was passiert, wenn man den eigenen Eltern zu Weihnachten einen Joint schenkt.

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2.
»Aaaalso, wenn ich hier sitze«, meine Mutter rannte aufgeregt um den Tisch herum, »ähm, dann könntest du ja da sitzen, und der Antreh da drüben, und dann wär hier frei für …« »Nee, nee«, rief meine Tante. »Ich könnte ja hier, du da, und hier wär dann noch …« Ich seufzte. Alle im Restaurant hatten längst aufgehört zu essen und folgten stattdessen gebannt der neuesten Folge der Familie-Herrmann-Comedyshow mit dem Titel »Familie Herrmann versucht, sich beim Osteressen ganz normal zu benehmen«. Wahrscheinlich würden die Leute sogar Eintritt dafür bezahlen, sich Jahr für Jahr immer am Ostersonntag die Premiere unseres neuen Stücks anzuschauen. »Neeee«, rief meine Tante, als sich meine Mutter direkt neben sie setzte, »du musst noch zwee rücken!« Entnervt zog ich einfach den nächstbesten Stuhl heran und setzte mich. »Antreh!«, brüllte meine Mutter. »Du bringst alles durcheinander, lass mich mal da hin!« »Nee, ich könnt ooch«, sagte meine Tante. »Oder die Oma!« Meine Mutter, meine Tante und meine Oma Emma rannten wie angestochen um den Esstisch herum und versuchten, den optimalen Sitzplatz für sich zu finden. Dieser zeichnete sich dadurch aus, dass neben ihm zufällig zwei Plätze frei blieben, auf denen, so ihrer aller Hofnung, meine Cousine und ihr anderthalbjähriger Sohn würden sitzen können. »Ist doch scheißegal, wo wir sitzen!«, rief ich. »Wir sind doch eh nur kurz zum Essen hier. Dann sitzt ihr halt mal nicht neben dem Kleinen.« »Es geht nicht immer alles nur um den Kleenen«, rief meine Tante, während sie versuchte, den feixenden Leuten am Nachbartisch einen freien Stuhl wegzunehmen. »Braucht ihr noch ’n bissl Musik? Wollmer Stuhltanz machen?«, entgegnete ich entnervt. »Du, Antreh, wir sind hier im Restorong, du kannst dich ruhig ma’ benehmen!«, sagte meine Mutter. An den Nachbartischen wurden die ersten Handys gezückt, um dieses Spektakel für die Ewigkeit oder wenigstens den Quatsch Comedy Club festzuhalten. »Sie kommen!«, kreischte meine Tante und drängelte sich an meiner Mutter vorbei, sodass zwischen ihr und mir die ersehnten zwei Plätze frei blieben. »Eyyyy!«, rief meine Mutter. »Mutter, wir sind hier im Restaurant!«, rief ich. Alle kicherten. Seit der Geburt meines Großcousins hatte sich alles verändert. 28 Jahre nach meiner Geburt hatten meine Cousine und ihr Freund meinen Plan vom langsamen Aussterben unserer Familie heimtückisch durchkreuzt, und es schien, als würde sich in den Reihen meiner Verwandten mit einem Mal ein schier unendliches Potenzial an aufgestauter Kindersehnsucht entladen. Meine Tante schien längst die menschliche Sprache verlernt zu haben und rief stattdessen fast ausschließlich »BUBUBU«, meine Mutter hatte sich in den Kopf gesetzt, alle Wolle der Welt zu kaufen und daraus jedes nur erdenkliche Kleidungsstück zu filzen, auf dass der kleine Mensch schon von Geburt an wie ein elender Hippie herumlaufen möge. Naja, und die Sache mit meinem Opa Ludwig eben. »Ihr Lieben«, sagte meine Oma. »Wie schön, dass wir alle noch mal zusammengekommen sind, auch wenn der Opa …« »BUBUBUBUBU!«, schrie meine Tante das völlig entsetzt blickende Kind an. Das darf doch wohl nicht wahr sein, dachte ich. »JA, WO ISSER DENN? WO ISSER DENN?«, bläkte meine Mutter quer über den Esstisch. »Wenn du die Hände vor deinen Augen wegnehmen würdest, dann wüsstest du auch, dass er direkt vor dir sitzt!«, rief ich und zeigte auf das Kleinkind. »GUCK MAL, WAS ICH DIR FÜR EINE FEINE FILZMÜTZE GEFILZT HABE!«, brüllte meine Mutter und zerrte einen grün-gelb-blauen Spitzhut aus ihrer Tasche, den sie offenbar auf einem ganz fiesen LSD-Trip gebastelt hatte. »HIER«, brüllte sie, »SETZE MA’ OFF!« Meine Cousine grinste entschuldigend und stülpte dem Kind den viel zu großen Hut über. Sofort begann es zu weinen. »UIUIUIUIUI, WER WEINT DENN DA?«, riefen sie alle gleichzeitig. Meine Güte, dachte ich. Was war mit diesen Menschen bloß los? Hatten sie das alles auch bei mir gemacht? Hatte ich mich nur deshalb zu dieser lebensbejahenden, von Glückseligkeit getränkten Persönlichkeit entwickelt, weil man mich als Kleinkind wie einen Vollidioten behandelt hatte? »Aaaah, die Familie Herrmann!«, rief die Kellnerin, als sie unser Essen brachte und wandte sich an den Kleinen: »Na, hier is’ ja jemand Neues am Tisch! Och ja, is’ immer schön, wenn die Familie größer wird, hö?« »Naja, der Opa …«, sagte ich und bekam unterm Tisch sofort einen Tritt von meiner Mutter. Meine Oma sah betreten auf ihren Teller. Mit einem Mal sah sie sehr klein aus, so als hätte sie der Gedanke an meinen Opa in sich zusammensinken lassen. Sie blickte wortlos auf ihren Teller. Der Kleine fing an zu schreien. »Was hatter denn?«, fragte die Kellnerin. »Soweit ich weiß, müssen Sie BUBUBU machen, sonst versteht er das nicht!« »BABABABABA!«, schrie meine Tante. »Antreh, gibst du der Oma mal ein Taschentuch?«, rief mein Vater. »BUBUBU?«, fragte ich. »Kannst du dich nich’ eenma’ normal benehmen?«, rief meine Mutter, die sich den Filzhut mittlerweile einfach selbst aufgesetzt hatte. »Könnt ihr euch nicht einmal normal mit dem Kleinen unterhalten?«, fragte ich. »Halt mal eben«, sagte meine Cousine und reichte mir den Jungen. »Nee, nee«, sagte ich abwehrend. »Aber er kann sich ja bei mir melden, sobald er 17 ist, dann können wir gern mal ’n Bier trinken gehen.« Meine Oma hatte Tränen in den Augen. »OCH OMA, GUCKE MA’! WIE SÜSS ER SEIN HAPSI PAPSI ISST!«, brüllte meine Mutter, während der Kleine mit der flachen Hand auf seinen Teller schlug und ihrer Bluse eine Ladung Brei verpasste. Eilig hantierte meine Tante auf ihrem Teller herum. »BUBUBUBU!«, rief sie drohend und reckte ein monströses Stück Fleisch über den Tisch. »Nee, nee«, sagte meine Cousine. »Der kann das noch gar nicht kauen.« »Ach, das macht nichts«, rief meine Mutter und steckte sich ein Stück Fleisch in den Mund. »Das könnwer vorkauen!« »Untersteht euch!«, rief ich. »Hier wird überhaupt nichts vorgekaut!« »BRRRRRR«, machte meine Tante und ließ ihre Gabel durch die Luft gleiten, »GLEICH KOMMT DAS FLIEGERCHEN!« »Nee, nee, lieber nich’«, sagte meine Cousine. »Ach was, das hamm wir beim Antreh früher ooch immer so gemacht«, rief meine Mutter. »IHR HABT WAS?!«, brüllte ich. »Naaaa, ist da jemand ein bisschen eingeschnappt, weil er jetzt nicht mehr der Jüngste in der Familie ist, hä?«, flüsterte meine Tante mir zu. NEEEEIIIIN!, dachte ich und antworte: »Quatsch!« »Was machst du jetzt eigentlich so, Antreh?«, schaltete sich meine Cousine ein. »Dies, das«, sagte ich und rollte mit den Augen. »Der Antreh ist noch in der Orientierungsphase«, sagte meine Mutter, die noch immer den Filzhut trug. »Mal gucken«, sagte ich. »Der Maik hat letztens irgendwas erzählt. Vielleicht schau ich mir das mal an.« »Und dann arbeitest du hier?«, fragte meine Tante. »Hoffentlich nicht«, sagte ich und deutete auf meine Oma, die zum wiederholten Male in ihr Taschentuch schnäuzte. »Ich find das übrigens richtig scheiße, was ihr hier macht.« »Was machen wir denn?«, fragte meine Tante mit einem Schulterzucken. »Ihr tut so, als ob überhaupt nichts wär!« »Ja, was is’ denn auch?«, rief meine Tante. »Genau das is’!«, erwiderte ich und stand auf, um zu gehen. »Hier, Oma, du musst BUBUBUBUBU machen«, sagte jemand hinter mir. Ich drehte mich um. Meine Oma versuchte zu lächeln. »Gebt mir mal Geld«, sagte ich. »Ich geh schon mal zahlen.« »Orrr is’ das schön mit so’m Kleenen, hä, Herr Herr­mann?«, sagte die Kellnerin. »So wenn die Familie größer wird, schön is’ das, na?« »Naja, sagen wir, sie ist wenigstens gleich groß geblieben.« Verständnislos sah mich die Kellnerin an, dann sah sie zum Tisch, zählte kurz durch und schaute wieder auf mich. »Ha!«, machte sie, als sie begriffen hatte. »Der Opa?« Sie deutete eine Kopf-ab-Geste an. »Nee«, sagte ich und überlegte, wie ich ihr am unkompliziertesten den Platzwechsel erklären konnte, der sich in meiner Familie vollzogen hatte. Wie seltsam gleichzeitig das passiert war. Der eine kam neu dazu, und der andere vergaß von einem Tag auf den anderen, wer er war. Der eine wuchs und wurde von den Verwandten mit »BUBUBUBU!« angebrüllt, der andere durfte neuerdings nicht mal mehr aus dem Heim, weil er auf halbem Weg vergaß, mit wem er überhaupt unterwegs war, und es deshalb für eine spontane Entführung hielt. Und wie gleichzeitig meine komplette Familie versuchte, sich mit übertriebener Kinderliebe über den Fakt hinwegzutrösten, dass es sich absolut beschissen anfühlte, was hier gerade passierte. Mit großen Augen sah mich die Kellnerin an. Ach, dachte ich, sie wird’s eh nicht kapieren. »Okay, ja«, sagte ich und machte ebenfalls die Kopf-ab- Geste. »Ha! Sein Se nich’ traurich, Herr Herrmann. Wissen Se, meine Oma wurde damals als unsere Katze wiedergeboren.« Na prima, dachte ich, jetzt hamm wir auch noch die örtliche Esoterik-Tante erwischt. Wahrscheinlich holt sie gleich noch ein paar Räucherstäbchen und Energiesteine, und dann geht’s...


André Herrmann ist Schriftsteller und Comedy-Autor. Er ist Gründungsmitglied der Lesebühnen "Schkeuditzer Kreuz" in Leipzig sowie "Fuchs & Söhne" in Berlin und war Teil des legendären "Team Totale Zerstörung", das 2011 und 2012 die deutsch-sprachigen Meisterschaften im Poetry Slam gewann. Er konzipiert Comedy-Programme und schreibt u.a. für das "Neo Magazin Royale" (ZDF), "Olaf macht Mut" (ARD), "[sla(m]dr)" und "Comedy mit Karsten" (MDR). 2015 erschien sein Debütroman "Klassenkampf" bei Voland & Quist.



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