Herrmann | Klassenkampf | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 382 Seiten

Herrmann Klassenkampf


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86391-120-1
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 382 Seiten

ISBN: 978-3-86391-120-1
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Eigentlich hatte sich André nach der Schule geschworen, seine Heimatstadt in der ostdeutschen Provinz erst wieder zu besuchen, wenn sie von einem herabstürzenden Meteoriten getroffen wurde. Eigentlich hatte für ihn nach der Schule etwas Großes beginnen sollen. Doch schon als er zum nächsten Weihnachtsfest zurück nach Sachsen-Anhalt fährt und seinen Eltern vom abgebrochenen Studium erzählen muss, merkt er, dass im Leben vieles anders läuft, als man es plant.

Ein Roman über die Quarterlife-Crisis, über zehn vergebliche Versuche, nicht zum Klassentreffen zu gehen, und über eine Kleinstadt, in der jeder eine Thunderdome-CD besitzt.

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Prolog
Es war Juli. Dem Geruch nach zu urteilen, war ich bereits vor drei Wochen auf tragische Art und Weise verstorben. Reglos lag ich auf der kleinen Couch in meinem Zimmer. Ich war am Ziel. Sofort nach meiner mündlichen Abiprüfung war ich in eine andauernde Starre verfallen, seit Tagen hatte ich mich nicht mehr bewegt. Mir war ein enormer Bart gewachsen, der mich tagsüber kühlte und nachts mollig warm hielt. Meine Haut war ledrig geworden, mittlerweile sah ich sogar Ötzi verblüffend ähnlich. Draußen herrschte ein besonders heißer Sommer, und ich konnte die Nachbarskinder hören, wenn sie jauchzend im Pool tobten oder herzerweichend weinten, wenn sie mit ihren kleinen Füßen wieder am geschmolzenen Teer auf den Straßen festklebten. Noch gut drei solcher Monate lagen vor mir, ehe ich in Potsdam mein Nichtstun fortsetzen und das Ganze dann Studium nennen dürfte. Potsdam, meine Erlösung! Endlich würde ich rauskommen aus dieser Stadt in Sachsen-Anhalt, deren Ruhm, mal abgesehen vom Bauhaus, maßgeblich auf den Schultern von Nazi-Schlägern ruhte. Lange hatte ich überlegt, welches Fach zu mir passen könnte. Leider fehlten mir jegliche Ambitionen, irgendetwas auswendig zu lernen, eine Aussicht auf Arbeit war mir egal, und trotzdem wollte ich mir immerzu die Möglichkeit offenhalten, doch noch ein gefeierter Schriftsteller zu werden. Germanistik passte perfekt. Nicht zuletzt, weil es selbst im Falle eines Suizids prima als Grund würde herhalten können. Durch geschicktes Schütteln meines Bartes löste ich einige Brotkrumen, die sich unterhalb meines Kinns verfangen hatten, und ließ sie in meine Achselhöhle rutschen, wo ich seit einigen Tagen einem verletzten Mauersegler Unterschlupf gewährte. Plötzlich schwang die Tür meines Zimmers auf. Ein gleißend heller Lichtstrahl traf mich im Gesicht. »Du sitzt ja immer noch da!«, rief meine Mutter. »Wie siehst’n du aus?« »Ich habe gerade einen neuen Geisteszustand erreicht«, antwortete ich. »Und ich kann feierlich verkünden, dass mir endlich alles egal geworden ist. Ich bin Zarathustra!« »Hast du dir da Haare auf die Füße jeklebt?« »Ja«, sagte ich. »Ich habe beschlossen, das mit dem Studium doch sein zu lassen, und werde mit unserem Gärtner gen Mordor ziehen, um die Nachbarskinder in den Schicksalsberg zu werfen.« »Der Vati und ich, wir hamm’ uns überlecht, dass wir dir zur Feier deines Abiturs was Schönes schenken wolln.« Geil, dachte ich, eine Xbox würde ich in Potsdam gut gebrauchen können. »Und weil du ja bald Germanistik studierst …« Xbox, dachte ich, Xbox! »… hamm wir jedacht, so ein bunt gestreifter Schal wäre doch richtig fesch.« Ein bunt gestreifter Schal. Das, dachte ich, muss einer dieser Momente sein, in denen man den Zünder drücken würde, hätte man gerade zufällig einen Bombengürtel um. Ein bunt gestreifter Schal! Ich musste zugeben, dass ich mich mit dem Vorhaben, Germanistik zu studieren, nicht gerade als ernst zu nehmende Person qualifiziert hatte, aber das hatte ich nicht verdient. Ein regenbogenfarbener Mitgliedsausweis aus Taka-Tuka-Land! Der schon aus hundert Metern Entfernung schrie: Bitte nehmt mich nicht ernst, ich studiere Lehramt und schreibe immer in vier verschiedenen Farben mit! Na vielen Dank auch. »Du freust dich wohl gar nich?«, fragte meine Mutter. Ich rekapitulierte. Was würde meine Biografie über diesen Tag wohl sagen? 01. Juli 2005, André Herrmann bekommt zum Abitur einen bunt gestreiften Schal geschenkt, Glück durchströmt ihn. Darüber hätten sich nicht einmal die Kinder in Afrika gefreut. »Na ja«, sagte ich, »wenn ihr jetzt doch noch die Xbox rausholt, könnte das meine Laune bessern.« »Na los, mach ihn ma um!« »Niemals!« »Och bitte!« Vorsichtig sah ich nach links und rechts. Wenn man solch ein Accessoire anlegte, musste man sich immer zuerst vergewissern, dass sich niemand mit so einem neumodischen Handy mit Kamerafunktion in der Nähe aufhielt. »Orr, richtig schick siehste aus! Wie’n echter Student!« Lustig, dachte ich, was meine Eltern für ein Studentenbild haben mussten. Ein Haufen zauseliger Vollidioten mit bunten Schals, soso. Dass meine Eltern damit gar nicht so falschlagen und mich womöglich nur tarnen wollten, das erfuhr ich erst viiieel, viel später. »Den kannste gleich nachher ummachen, wenn wir zur Schule gehn!« »Wir gehn überhaupt nicht!«, sagte ich. »Aber heute ist doch Zeugnisausgabe!«, grinste meine Mutter, die sich den Termin wahrscheinlich schon seit Wochen mit ganz vielen Kringeln im Kalender angestrichen hatte. Ich schüttelte mich. Solche Nebensächlichkeiten hatte ich vollständig verdrängt. »Hach, wie schnell doch die Zeit vergeht. Grade warst du noch so klein und jetzt.« »Da braucht ihr aber nich mitkommen«, sagte ich. »Yes!«, rief mein Vater. »Na klar komm’ wir da mit!«, rief meine Mutter. »Och nö!«, rief mein Vater. Und obwohl ich mir geschworen hatte, erst dann wieder in die Nähe meiner Schule zu kommen, wenn ich Blitze schießen oder Erdbeben verursachen könnte, stand ich eine Dusche später tatsächlich vorm Haupteingang. Meine Haare rochen noch ein wenig verbrannt. Sie hatten etwas abbekommen, als ich versucht hatte, den bunten Schal anzuzünden. Vor der Schule hatten sich haufenweise Eltern postiert, meine Mitschüler im Schlepptau. Die Fotoapparate klickten so hochfrequent, dass es selbst japanischen Reisegruppen zu krass gewesen wäre. Und wie es aussah, hatte die Haargel-Industrie heute einen goldenen Tag erlebt. Hier und da spuckten sich aufgeregte Mütter in die Hände, um den letzten widerspenstigen Haaren ihrer Sprösslinge eine neue Form zu geben. Die Mädchen trugen irgendetwas zwischen Reeperbahn und amish paradise und schauten immer wieder nervös zu ihren fünf Jahre älteren Freunden, die wie gewohnt mit ihren tiefergelegten Golfs vor der Schule parkten. »Das«, sagte jemand, der meinen wehmütigen Blick auf die VW Golfs und ihre armseligen Besitzer bemerkt zu haben schien, »ist das Knight-Rider-Syndrom!« Ich drehte mich um, stieß mit dem Fuß an einen Bierkasten und sah mich einer derart behaarten Brust gegenüber, dass ich kurz überlegte, ob ich mich nicht vielleicht doch fälschlicherweise in einem Baumarkt befand. »Gewagtes Outfit«, sagte ich und deutete auf Maiks Hawaii-Hemd, dessen oberste fünf Knöpfe er großzügig offen gelassen hatte. »Ach weeßte, was soll ich’n in so’m Anzug. Ich weeß ja nich ma, ob ich überhaupt ’n Zeugnis krieje.« »So schlecht warst du doch gar nich«, sagte ich. »Oder isses wegen Sport?« »Ey, ich hab dem Sportfuzzi immer jesacht, ich mach keene Ballspiele. Und in’ Sandkasten hüpf ich ooch nich! Aber Darts wollter nich als Ersatzleistung anerkenn’.« Während er dozierte, geleitete mich Maik mit seinen riesigen Pranken zu unserer Klasse. Mit einem Auge musterte ich die armen Mittzwanziger in ihren breitbereiften Blechkonserven, in denen seit Jahr und Tag ein und dieselbe Thunderdome-CD zu laufen schien. »Was ist das Knight-Rider-Syndrom?«, fragte ich Maik. »Wenn du keene Zukunft, aber ’n tieferjelechtes Auto hast. Und wenn die Mädchen trotzdem voll auf dich abfahrn, spricht man in Fachkreisen vom sojenannten Knight-Rider-Syndrom.« Die Frage, welche Fachkreise er meinte, erübrigte sich, als Maik zwei Bierflaschen aus dem Kasten zog und mir eine davon hinhielt. »Nee«, sagte ich. »Komm! Schon Wilhelm Busch hat jesacht: Die erste Pflicht der Musensöhne / Ist, dass man sich ans Bier gewöhne.« Wenn es um Hopfen und Malz ging, war Maik schon immer ein wandelndes Poesialbum gewesen. Irgendwie würde ich ihn in Potsdam vermissen. Ihn, der mich damals seinem völlig entstellten Kumpel, dem Hausmeister, vorgestellt hatte, sodass wir im Winter immer im Keller roochen durften, während die anderen sich draußen die Beine abfroren. Ihn, der schon Haare auf der Brust hatte, während wir noch auf die ersten Schamhaare warteten. Der nicht einmal mit zur Abschlussfahrt durfte, weil er einmal in der Hofpause eine Korbflasche Portwein geleert und...


André Herrmann ist studierter Politikwissenschaftler und lebt als Autor in Leipzig. Er ist Gründungsmitglied der Lesebühne "Schkeuditzer Kreuz" und Teil des legendären "Team Totale Zerstörung" mit Julius Fischer, das 2011 und 2012 die Deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam gewann. Als Schöpfer des Begriffs "Hypezig" schreibt er eine wöchentliche Kolumne für das Leipzig-Portal Weltnest und ist Autor der TV-Sendung "Comedy mit Karsten".



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