E-Book, Deutsch, 312 Seiten
Herrmann Jolandas Reise in die Vergangenheit
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7534-3627-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Schatten im Mond
E-Book, Deutsch, 312 Seiten
ISBN: 978-3-7534-3627-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach dem Tod ihrer Mutter findet Jolanda in deren Nachlass eine Schatulle mit Briefen und Fotos. Ihre vermeintlich heile Welt stürzt ein, als sie erfährt, dass ihre verstorbenen Eltern gar nicht ihre leiblichen Eltern waren. Sie begibt sie sich auf die Reise in den Schwarzwald und nach Sizilien, um die Familiengeheimnisse ihrer Adoptivmutter zu lüften und ihre richtigen Eltern zu finden. Bei ihrer Suche tun sich ungeahnte menschliche Abgründe auf, die sich noch über Jahrzehnte bis in die Gegenwart auswirken. Eine Familie, die den strengen und althergebrachten Werten sowie den Vorurteilen gegenüber den italienischen Gastarbeitern zu Beginn der Sechzigerjahre Tribut zollen muss, auf diese Weise ihren inneren Zusammenhalt verliert und letztendlich daran zerbricht. Ein bewegender und spannender Roman, mit viel Emotionen und einer Prise Amore.
Barbara Herrmann ist in Karlsruhe geboren und in Kraichtal-Oberöwisheim aufgewachsen. Ihre Liebe zu Büchern und zum Schreiben begleitete sie während ihres ganzen Berufslebens als Kauffrau. Nach ihrem Eintritt in den Ruhestand sind mehrere Bücher (Romane, Reiseberichte, humorvolles Mundart-Wörterbuch) von ihr erschienen. Heute lebt die Mutter zweier Söhne mit ihrer Familie in Berlin.
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Das Vermächtnis
Seit Stunden saß Jolanda nun schon am Wohnzimmertisch im Haus ihrer Mutter. Sie fühlte sich inzwischen wie gelähmt. Neben ihr auf dem Sofa stand eine große Holzschatulle, die sie im Arbeitszimmer der Eltern aus dem untersten Fach des großen Schrankes herausgeholt hatte. Sie hatte das Versteck heute zum ersten Mal wahrgenommen, von alleine hätte sie es auf keinen Fall entdeckt, wenn ihre Mutter Florentine nicht den Brief mit Hinweisen für sie hinterlassen hätte. Ihr brummte der Schädel von den vielen neuen Eindrücken und Informationen, die sie gezwungenermaßen aufnehmen musste. Genau genommen war ihr speiübel. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Blitzartig raste sie aus dem Stuhl hoch und tigerte ununterbrochen um den Tisch herum. Ohne anzuhalten, presste sie sich die Hände an die Ohren, um sich selbst zu signalisieren, dass sie eigentlich nichts mehr hören wollte von dem, was in dieser Kiste lag. Dann blieb sie ruckartig stehen und legte die Hände von den Ohren auf die Augen. »Ich möchte nichts mehr hören und nichts mehr sehen!«, rief sie laut durch den Raum. Als sie nämlich vorhin die vielen Unterlagen aus der Kiste genommen hatte, lagen zuunterst Adoptionspapiere, die ihren Namen trugen. Mit offenem Mund blickte sie auf die Buchstaben, die vor ihren Augen anfingen zu tanzen. Blitzschnell warf sie die Hülle mit den Papieren ungelesen auf den Tisch, als ob sie sich die Finger daran verbrannt hätte. »Mein Gott, wo und wie habe ich achtunddreißig Jahre lang gelebt? Wer bin ich überhaupt?« Die letzten Worte brachte sie nur noch flüsternd über die Lippen. Gleich danach ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen, um den bitteren Tränen freien Lauf zu lassen. Sie durchlebte in diesen Minuten eine innere Zerrissenheit in einer Heftigkeit, von der sie nie gedacht hätte, dass man sie je würde erleben können. Dann griff sie mit zitternden Fingern wieder in die Schatulle und tauchte erneut für lange Zeit in die Vergangenheit ihrer Mutter ein. Als sie wieder aufsah, war es schon duster, und Jolanda erhob sich, um das Licht einzuschalten. Auf dem Weg zum Lichtschalter blieb sie am Panoramafenster des Bungalows im Stile der Sechzigerjahre stehen und schaute hinaus in den Garten, der an diesem Novemberabend mit seinen kahlen Bäumen und der gerade eintretenden Dunkelheit ihre gefühlte Einsamkeit und Verlassenheit optisch noch verstärkte. Sie dehnte die verspannten und müden Glieder, indem sie sich streckte und mit wenigen Kniebeugen versuchte, ihren Bewegungsapparat nach dem langen Sitzen wieder geschmeidig zu bekommen. Jolanda seufzte und versuchte, die erneut aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, was ihr körperlich sehr wehtat. Der innere Schmerz presste sich durch ihren Brustkorb und drückte gegen den Magen, als hätte sie schweres, fettiges Essen zu sich genommen. Es war auch eine verdammt schwere Kost, die sie zu verdauen hatte. Sie weinte jetzt erneut, die Tränen rannen ihr wie Wasserfälle die Wangen hinunter, und ihr Schluchzen war bestimmt bis zu den Nachbarn zu hören, obwohl der weitläufige Garten dazwischenlag. Als sie sich nach einiger Zeit wieder etwas beruhigt hatte, schleppte sie sich ins Bad und kühlte ihre brennenden Augen mit kaltem Wasser, das sie sich auch über die Handgelenke laufen ließ. Anschließend schlurfte sie mit schweren Beinen in die Küche, richtete ein kleines Abendbrot her und kochte frischen Tee. Sie war so froh, dass Emilia heute nicht mehr kommen würde. Diese besuchte ihre Schwester. Mit dem Tablett in den Händen war sie gerade auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer, als ihr Handy klingelte. Schnell stellte sie das Essen ab und griff zum Telefon. »Jolanda Mayer.« »Hey Jolanda. Du wolltest doch nach einigen Tagen wieder zurück sein. Warum meldest du dich denn nicht, wenn es länger dauert?«, hörte sie ihren Freund Elias fragen. »Elias«, stöhnte sie. »Was willst du denn? Habe ich dir nicht gesagt, was hier los ist?« »Ja, doch. Du wolltest die Formalitäten erledigen, das Haus verkaufen und nach zwei Wochen wieder zu Hause sein.« Jolanda merkte, wie der Zorn in ihr hochstieg und wie sie plötzlich anfing zu zittern. Elias war natürlich nicht zur Beerdigung gekommen, auch nicht davor, um ihr bei der Organisation zu helfen. Und schon gar nicht heute, um ihr beizustehen, das Gelesene besser zu verkraften. Von einem liebevollen Partner, der sie tröstete, war er so weit entfernt wie der nächste Reisebus vom Mond. Ihr ganzes bisheriges Leben war ein einziger Scherbenhaufen geworden. Sie war gar nicht die, für die sie sich bisher gehalten hatte. Ihre ganze Identität war plötzlich weg. Wer war sie wirklich? »Jolanda, bist du noch da?« Sie schaute das Telefon an, als ob darin ein Geist seine Stimme erhoben hätte. »Ja, Elias, ich bin noch da. Aber du bist ab sofort nicht mehr da, mein Freund. Pack deinen Kram, der noch bei mir in der Wohnung ist, und leg den Schlüssel auf den Tisch. Verschwinde aus meinem Leben!« »Was soll das denn?« »Hau ab, aber schnell!« Nach diesen Worten legte Jolanda einfach auf. Es war höchste Zeit, diese Farce zu beenden. Während dieses Gesprächs war in ihr die schlichte Erkenntnis gereift, dass es nicht reichte, nicht reichen konnte, mit einem Menschen das Leben zu teilen, den man zwar schätzt, aber vermutlich nicht liebt. Es war definitiv zu wenig. Sie ließ ihr Essen erst einmal stehen und huschte durch die Terrassentür in den Garten. Tief sog sie die kalte Luft ein und spürte Erleichterung und Befreiung, was die beendete Geschichte mit Elias betraf. Nun galt es, so gut es ging, einen klaren Kopf zu bekommen, um systematisch die Schatulle durchzuarbeiten und herauszufinden, was das Geheimnis ihrer Familie und vor allem wer sie selbst war. Mit neuem Elan machte sie sich deshalb einige Minuten später wieder über die Kiste her. Sie musste chronologisch vorgehen, beschloss sie und griff zu einem Stapel mit verschiedenen Unterlagen und Fotos, die bis in die Jugend ihrer Mutter zurückreichten. Sie betrafen ihre Großeltern mütterlicherseits, Franz und Katarina Abele aus Hertenbach, einem kleinen Schwarzwalddorf. Das konnte der Anfang dessen sein, wonach sie suchen musste. Auf ein paar Fotos, deren Rückseiten mit den Namen Florentine und Helene Abele beschriftet waren, entdeckte sie zwei kleine Mädchen. Dann fand sie noch ein Fotoalbum mit weiteren Bildern, die die beiden während der Schulzeit und später zeigten. Die beiden jungen Frauen waren so hübsch in ihren Kleidern mit einem weiten Glockenrock und einem breiten Gürtel um die schmale Taille. Dazu trugen sie Riemchenpumps oder auch spitze Ballerina, glänzend aussehend und vorne mit einer Schleife aus Spitze. »Das ist doch bizarr. Wieso hat meine Mutter diese Menschen nie erwähnt?«, murmelte sie. Jolanda betrachtete die Bilder eingehend. Dann fiel ihr ein Foto mit den Großeltern vor deren Haus in die Hände. Ein freundlich dreinschauendes Ehepaar. Warum hatte Florentine nie über ihre Eltern gesprochen und warum niemals gesagt, dass sie aus dem Schwarzwald, aus einem ländlich anmutenden Haus stammte? Wo war ihre Schwester Helene? Und weshalb sah oder hörte man in all den Jahren nie etwas von ihr? Weshalb verschwieg ihre Mutter die Existenz der Schwester? War sie vielleicht tot? Der nächste Stapel enthielt Briefe, die ihre Mutter als junge Frau von einem gewissen Franco bekommen haben musste. Er stammte aus Taormina auf Sizilien. Es war auch ein Bild dabei, das vermutlich diesen Franco zusammen mit Florentine in einer innigen Umarmung zeigte. Als Jolanda alle Briefe gewissenhaft durchgelesen hatte, verstand sie die Welt nicht mehr. Es waren zärtliche Briefe voller Liebe, Zuneigung und der Aufforderung an Florentine, endlich nach Sizilien zu kommen. Dem Datum nach zu schließen, deckten diese aber nur eine relativ kurze Zeit ab, und der Kontakt musste danach abrupt abgebrochen sein. Wer war der Mann? War er Florentines große Liebe – und warum waren sie dann nicht zusammengeblieben? Und konnte es sein, dass dieser Franco vielleicht sogar ihr, Jolandas, Vater war? War sie womöglich Halbitalienerin? Sofort musste sie an ihre schönen schwarzen Haare denken. Dann lag eine kleine Schallplatte dabei. Das Cover zeigte eine Frau, deren Namen sie nicht kannte. Catarina Valente. Sie erhob sich und machte den Plattenspieler an. Und dann sang diese Frau: Komm ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans blaue Meer… Völlig fremde Musik, die zugegeben altmodisch klang, sie aber mit den Worten melancholisch voll abholte. Das blaue Meer, Palmen, das Gefühl von Italien, das sie ja auch ein bisschen kannte, geisterte an ihrem inneren Auge vorbei und entführte sie für einen kleinen Moment in das Land der Sonne, der Pasta und des guten...