E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Herrmann Gretas Erzählung
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7543-7027-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die verlorenen Weihnachtskugeln
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-7543-7027-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach dem Tod seiner Mutter beschließt Daniel Gruber, eine Stelle als Meteorologe in deren Heimatdorf im Salzburger Land anzunehmen und das Haus der Familie zurückzukaufen. Dort entdeckt sein Sohn Julian auf dem Speicher eine Kiste mit Weihnachtskugeln, die ihn sofort in ihren Bann ziehen. Die Nachbarin Greta erzählt ihm daraufhin die Geschichte von zwei Waisenkindern, die von ihrem Onkel ausgebeutet und schikaniert wurden und in ihrer Verzweiflung zusammen mit den Schwabenkindern über die Alpen wanderten, um Arbeit zu finden. Schweren Herzens mussten sie die geliebten Weihnachtskugeln, die sich schon seit Generationen in der Familie befanden, zurücklassen. Eine bewegende und mystische Weihnachtsgeschichte über eine Bergbauernfamilie im frühen 20. Jahrhundert.
Barbara Herrmann ist in Karlsruhe geboren und in Kraichtal-Oberöwisheim aufgewachsen. Ihre Liebe zu Büchern und zum Schreiben begleitete sie während ihres ganzen Berufslebens als Kauffrau. Nach ihrem Eintritt in den Ruhestand sind mehrere Bücher (Romane, Reiseberichte, humorvolles Mundart-Wörterbuch) von ihr erschienen. Heute lebt die Mutter zweier Söhne mit ihrer Familie in Berlin.
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Der Umzug
Was für eine Aufregung. Julian und Sofia saßen ordentlich angeschnallt auf dem Rücksitz des betagten Familienautos, das scheppernd im zweiten Gang die kurvenreiche Bergstraße hochächzte. »Mama, wann sind wir denn da?«, fragte die neunjährige Sofia, während sie das Buch zuklappte, in dem sie die ganze Zeit gelesen hatte. »Nur noch zehn Kilometer«, antwortete ihre Mutter Pauline, die sich halb umdrehte und ihr zulächelte. »Ooch, das ist aber noch weit«, maulte Julian, der auf seinem Sitz mitsamt dem Gurt etwas nach vorne gerutscht war. Dabei ließ er die Beine gegen die Rücklehne des Fahrersitzes baumeln, sodass er seinem Vater rhythmisch in den Rücken trat. »Mir ist so langweilig, Mama!«, rief er und warf seine Beine immer schneller gegen den Sitz. »Aufhören, du Monster!«, schrie sein Vater so laut los, dass Julian vor Schreck zuerst erstarrte und dann in Tränen ausbrach. »Was soll denn das, Daniel?«, herrschte Pauline ihren Mann an. Ihre Stimme bebte, ihre Augen blitzten, und auf ihrer Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet. Sie hatte Mühe, vor den Kindern nicht gänzlich die Beherrschung zu verlieren. Daniel schüttelte den Kopf. »Reg dich bitte nicht auf, Pauline, mir ist nur kurz der Gaul durchgegangen.« Er schaute sie bittend an. »Wenn dir einer ununterbrochen im selben Rhythmus ins Kreuz tritt, während du dich auf den Verkehr konzentrieren musst, dann verlierst auch du die Beherrschung.« Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad und strich ihr beruhigend über den Arm. Dann blickte er in den Rückspiegel und sah seinem Sohn in die Augen. »Ich habe das nicht so gemeint, Julian. Du hast mir zwar nicht wehgetan mit deinen Füßen, aber du hast mich vom Fahren abgelenkt. Da kann schon mal ratzfatz ein Unfall geschehen, wenn man unaufmerksam ist. Das solltest du wissen, du bist doch schon elf Jahre alt. Entschuldige bitte, dass ich so laut geworden bin.« Julian wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. »Ist schon gut, Papa. Ich habe es ja verstanden«, schniefte er. »Na, dann können wir ja wieder nett zueinander sein.« Daniel lächelte und nickte ihm durch den Rückspiegel zu. »Wir sind auch in wenigen Minuten da, dann ist es vorbei mit der Langeweile.« Julian gab sich zufrieden und sah aus dem Fenster. Doch wie hier die Langeweile vorbei sein sollte, das konnte er sich nicht vorstellen. Hier waren überhaupt keine Leute unterwegs, und es kamen ihnen auch kaum Autos entgegen. Es gab nur Felder, Wiesen und Bäume, ganz wenige Häuser, keine Läden mit Schaufenstern, keine Spielplätze, aber viele hohe Berge und Kühe auf den Wiesen. Er stöhnte laut und sah seine Schwester an. »Denkst du, dass die Langeweile da oben in dem Dorf vorbei ist?« Sofia schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Hier ist es einfach nur grässlich. Und es gibt gar nichts für Kinder. Ich möchte wieder zurück nach Wien zu Oma.« Sie zog eine Grimasse und blickte aus dem Fenster. »Wir sind da«, sagte Mama Pauline kurze Zeit später und deutete auf ein Ortsschild mit dem Namen Wiesen. Julian schüttelte den Kopf. »Heißt das Dorf Wiesen, weil es hier so viele Wiesen gibt?« Daniel lachte. »Stimmt, der Name passt zufällig. Vielleicht kann man ja nachlesen, woher das Dorf seinen Namen bekommen hat«, erklärte er, während er das Auto vor dem Haus parkte. Es war ein schönes großes Haus, das mit seinen grauen Steinen aussah, als hätte es jemand in den Felsen hineingeschoben. Das Dach reichte fast bis auf den Boden, die Fenster waren klein und die Fensterläden dunkelbraun. Vor dem Haus stand eine Sitzbank aus Holz. Das alles interessierte Julian und Sofia aber überhaupt nicht. Die trauerten in Gedanken ihren Freunden und der lebhaften Stadt nach, in der sie bislang gelebt hatten. Sie hatten zwei schöne Kinderzimmer oben im zweiten Stock, der über eine schmale Holzstiege zu erreichen war. Auch der große Flur davor lud zum Spielen ein. Das Haus war schon mit ihren Möbeln aus Wien eingerichtet, alles war fast wie von Geisterhand geschehen. Als sie mit dem Auto losgefahren waren, hatte sich auch ein großer Lastwagen mit vielen Männern auf den Weg gemacht. Während sie selbst noch ein paar Tage bei Oma und Opa, Mamas Eltern, zu Besuch blieben, räumten die Männer die Möbel ins Haus. So war jetzt alles schön gemütlich geworden. Das Elternschlafzimmer, zwei Gästezimmer und das Bad waren im ersten Stock, und im Erdgeschoss befanden sich das Wohn- und das Esszimmer, die Küche, eine Toilette und Mamas großes Arbeitszimmer. Sie arbeitete als Illustratorin von zu Hause aus, während Papa als Meteorologe hierher ins Salzburger Land versetzt worden war. Er würde oben auf dem Berg zusammen mit einem Kollegen die Wetterstation und die Lawinenüberwachung übernehmen. Dazu musste er jeden Tag mit der Seilbahn hochfahren und die letzten beiden Kilometer bis zur Station hochwandern. Er hatte den Kindern erzählt, dass man früher, als es noch keine Seilbahn gab, den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen musste. So war er froh, dass es jetzt diese Seilbahn gab. Seit ein paar Tagen waren sie nun hier eingezogen, aber für Julian und Sofia gab es nichts, das sie interessierte. Selbst die Kühe vom Nachbarn standen nur langweilig auf der Wiese herum. Andere Kinder kannten sie noch nicht, denn sie hatten noch zwei Wochen Ferien. Danach würden wieder jeden Tag alle Kinder aus den kleinen Dörfern ringsherum eingesammelt und in die Kreisstadt zum Unterricht gefahren. Das hatte ihnen Mama bereits vor Monaten erzählt. Mittlerweile wussten sie, dass in ihrem Dorf nur sechs Kinder wohnten, davon waren zwei erst sieben, die anderen vierzehn und fünfzehn Jahre alt. Es gab also niemanden hier, der zu ihnen passte. Und an Mamas Trost, dass bestimmt viele Kinder in der Schule seien, die zu ihren Freunden werden könnten, wollte Julian auch nicht so richtig glauben. Auch heute streifte er gelangweilt durch das neue Haus und wusste nicht, womit er sich beschäftigen sollte. Als er am Zimmer seiner Schwester vorbeikam, blickte er durch die offene Tür. Sofia saß auf dem Boden und spielte mit ihren Puppen. »Kommst du mit nach draußen?«, fragte er. Nach kurzem Nachdenken schüttelte sie den Kopf. »Nein, was soll ich denn da? Da ist es langweiliger als hier.« Sofias Puppen leisteten ihr immer noch durch ihre Anwesenheit etwas Gesellschaft, und außerdem war sie eine Leseratte, sodass sie weniger mit Langeweile zu kämpfen hatte als ihr Bruder, der sich nun wieder alleine eine Abwechslung suchen musste. Aber was sollte er tun? Mut- und ideenlos stand er auf dem Flur vor den Kinderzimmern und tastete mit seinen Augen den Raum ab. In der Ecke war eine kleine Zugleiter aufgeklappt, die zum Speicher führte. Mama hatte vorhin etwas dort oben gemacht und wohl die Leiter nicht wieder eingefahren. Er überlegte kurz, aber dann konnte er der Versuchung nicht widerstehen und schlich nach oben. Dort war ihm plötzlich, als wäre er in einer Schatzkammer angekommen. Lauter Holzkisten zwischen alten Möbeln, ein Schaukelpferd und viele andere Dinge, die er nicht zuordnen konnte. Julian fühlte sich wie auf einem Besuch im Abenteuerland. Aufgeregt durchstöberte er alle Kisten und Schränke, die er öffnen konnte, streichelte alte Blechspielsachen, wie zum Beispiel kleine Karussells, Autos und bunte Vögelchen, die man aufziehen konnte und die sich dann drehten, fuhren oder hüpften. Er staunte nicht schlecht, als er merkte, dass ihm das sehr viel Spaß machte, weil er diese einfachen Dinge gar nicht kannte. Er spielte eher mit dem Computer oder gerade mal noch mit seinem Technikbaukasten. In einer Ecke fand er alte Kinderbücher, Bauklötze und eine Holzeisenbahn. Nun öffnete er eine Holzkiste, die voller Kleidungsstücke war. Zuerst wollte er sie gleich wieder schließen, dann aber entschied er sich, richtig nachzusehen. Nachdem er mit den Armen die Pullover hin- und hergeschoben hatte, fand er ganz unten eine kleinere Kiste, die mit einem Eisenriegel verschlossen war. Er nahm die Kiste heraus und setzte sich damit auf den Fußboden. Es dauerte eine ganze Weile, bis er mit seinen kleinen Fingern den verrosteten Riegel aufschieben konnte. Als es ihm gelungen war, öffnete er vorsichtig den Deckel, und es leuchtete ihm lauter bunter Weihnachtsbaumschmuck entgegen. Weihnachtskugeln mit feinen Ornamenten, silberne Tannenzapfen, Engelchen sowie silberne Vögelchen mit Schwänzchen aus weichen, weißen Büscheln. Er fasste alles ganz vorsichtig und ehrfürchtig an, weil es so zerbrechlich aussah. »Wow, ist das schön«, flüsterte er. »So einen schönen Baumschmuck habe ich ja noch nie gesehen.« Vorsichtig legte er die Kugeln zurück und verschloss die Kiste wieder. Spontan nahm er sie mit hinunter auf sein Zimmer und schob sie...