Herrmann | Elchtest | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Herrmann Elchtest

Ein Jahr in Bullerbü
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-548-92032-0
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Jahr in Bullerbü

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-548-92032-0
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit Frau und Baby nach Bullerbü - als Gunnar Herrmann das Angebot erhält, für die Süddeutsche Zeitung nach Stockholm zu gehen, klingt das für die junge Familie paradiesisch: Schweden mit seiner unberührten Natur und den roten Holzhäuschen. Ein einziger großer Kinderspielplatz! Doch im Land der Elche und Billy-Regale ist nicht alles »Bullerbü«. Die Winter sind endlos lang und dunkel, die Menschen höflich, aber verschlossen, und das staatliche Rundum-Sorglos-Paket gibt es nur für den, der in den Warteschlangen der Bürokratie standhaft bleibt. Immerhin: Wenn die Herrmanns das Heimweh packt, können sie ins nahegelegene Möbelhaus flüchten. Dort schmecken die Fleischbällchen genau wie daheim. Mit viel Witz, Sympathie und Augenzwinkern erzählt Gunnar Herrmann vom Familienleben im hohen Norden. 

Gunnar Herrmann und Susanne Schulz, beide 1975 geboren, zogen 2006 nach Stockholm und gründeten dort eine Familie. Gunnar Herrmann, der Geschichte studiert hat, berichtet von dort als Nordeuropa-Korrespondet für die Süddeutsche Zeitung. Susanne Schulz hat Politikwissenschaften studiert und arbeitet in Stockholm als freie Journalistin für deutsche Medien und als Deutschlehrerin.
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1

Ausgerechnet Dezember! Es gibt wahrlich bessere Monate, um nach Stockholm zu ziehen. Den Juni zum Beispiel, da ist Mittsommer: Die Schweden sind fröhlich, trinken in nicht unwesentlichen Mengen Schnaps und setzen sich Blumenkränze aufs Haar. Oder den April: Da taut der Mälarsee auf, und die Stockholmer warten ungeduldig wie die Kinder auf den Frühling, den sie am letzten April mit großen Freudenfeuern begrüßen. Oder den August, die Saison für Flusskrebse; den Februar, die beste Zeit zum Skilaufen, oder … eigentlich erscheinen mir jetzt hier am Flughafen alle Monate besser als ausgerechnet der Dezember. Aber Stefanie wollte ja unbedingt bis jetzt warten mit ihrem Umzug. Ich sehe auf die Uhr neben dem Terminalausgang. Ihr Flugzeug müsste vor zwei Minuten schwedischen Boden berührt haben. Wahrscheinlich rollt der Flieger gerade über die Landebahn. Jeden Moment wird Stefanie durch die Schiebetür vor mir kommen. Es sei denn, sie ist von der Finsternis an diesem frühen Nachmittag so entsetzt, dass sie gleich wieder umdreht und zurück nach München fliegt. Aber es wird schon gutgehen – schließlich habe ich sie vorgewarnt. Vor dem Wetter, der Dunkelheit und auch vor der seltsamen Stimmung, die um diese Jahreszeit in der Stadt herrscht. Der Stockholmer Dezember ist matschig, kalt, grau, und vor allem ist er sehr dunkel. Selbst den Einheimischen schlägt das aufs Gemüt, und sie werden dann noch schweigsamer, als sie es ohnehin schon sind.

Leider trifft diese Beschreibung nicht auf alle Stockholmer zu, insbesondere nicht auf John Svenzon, der ein paar Meter vor mir steht. Sein meckerndes Lachen habe ich bereits vor einigen Minuten bemerkt. Da klärte er grade eine Redaktionskollegin am Mobiltelefon lautstark über den neuesten Klatsch aus der Welt der Stockholmer Hochfinanz auf. Ich hatte gehofft, dass er mich nicht bemerken würde, und mich vorsorglich hinter einer türkischen Großfamilie versteckt. Aber weil ich so in meine Gedanken über den schrecklichen Stockholmer Dezember versunken war, habe ich zu spät bemerkt, wie meine Tarnung überschwänglich die Großmama begrüßte und sich in Richtung Ausgang bewegte und mich damit voll John Svenzons Blicken preisgab. Er hatte mittlerweile aufgehört zu telefonieren und war ganz offensichtlich auf der Suche nach einem Zeitvertreib, da sieht er mich schutzlos in der Wartehalle stehen.

»Hej Gunnar, willst du auch eine Braut abholen?«, ruft er unvermittelt; so laut, als wolle er diesen dämlichen Satz durch die Decke und die dicken Mauern des Terminals bis in die Abflughalle und damit in die ganze Welt hinaus schreien.

Jetzt ruht seine mit einem dicken Siegelring beschwerte Hand auf meiner Schulter, und der Moschusgeruch seines Aftershaves kitzelt unangenehm in meiner Nase.

»Also ich für meinen Teil treffe hier gleich ein Mädchen aus London. Analystin, hab sie neulich auf einer Pressekonferenz kennengelernt«, sagt John grinsend, ohne eine Antwort auf seine Frage abzuwarten. Dann wirft er einen geschäftigen Blick auf das extrabreite Display seines Handys. »Sie sollte jeden Moment da sein.« Dann beugt er sein fleischiges Gesicht an mein Ohr. »Hab übrigens was gehört von einer Großfusion in der Telekombranche. Könnte dich auch interessieren, ich maile dir mal meinen Artikel.« Er beginnt manisch auf den mickrigen Tasten des Telefons herumzuhacken.

»Schon unterwegs!«

»Oh, danke. Ich lese das dann zu Hause, wenn ich wieder an meine Mails komme«, antworte ich. Eine elegant in Rot gekleidete Frau tritt durch die Schiebetür. Inständig hoffe ich, dass sie die »Braut« ist, gekommen um mich von John zu erlösen. Pech gehabt: John Svenzon würdigt sie keines Blickes. Seine Glupschaugen starren stattdessen fassungslos auf mich: »Was! Kannst du deine Mails etwa nicht auf dem Handy abrufen? Also ich habe mir neulich das Teil hier zugelegt. Total spitze, weiß gar nicht, wie ich früher ohne ausgekommen bin.«

John Svenzon, der eigentlich Johann Svensson heißt, also frei übersetzt: Peter Müller, seinen Durchschnittsnamen jedoch wie viele Schweden mit angelsächsischen Attributen veredelt hat, ist Journalist – genau wie ich. Damit sind unsere Gemeinsamkeiten aber bereits hinreichend benannt. Sein Spitzname ist »Gadget-Johnny«, weil er ständig mit dem neuesten technischen Spielzeug ankommt. Während er mich wortreich in die Finessen seines Super-Handys einweiht und dabei lauthals Begriffe wie »Mail Client«, »Smartphone« und »Multimessaging« in die Welt schleudert, überlege ich, wer wohl der größere Angeber ist: John oder der Typ, der neben dem Terminalausgang ein riesiges Plakat mit der Aufschrift »Stockholm, Capital of Scandinavia« aufgehängt hat. Man muss schon Chuzpe haben, um sich einfach so zur Hauptstadt des ganzen Nordens zu erklären. Aber bescheiden waren die Stockholmer noch nie. Auch wenn sie selbst immer das Gegenteil von sich behaupten.

Eine ganze Weile starre ich auf das Plakat, während Johnny neben mir mit missionarischem Eifer über die Segnungen der modernen Telekommunikation predigt. Wahrscheinlich dauert es am Gepäckband wieder einmal länger. Bestimmt fünfzig Mal sehe ich auf die Uhr neben der breiten Schiebetür mit den Lettern »Utgång« und beobachte, wie sich die Tür öffnet und einen Pulk Reisender in die niedrige Empfangshalle des Terminals 5 Flughafen Arlanda entlässt. Da kommt schon der nächste Schwung: Stefanie und Laura sind wieder nicht dabei. Und was noch viel blöder ist: »Die Braut« lässt ebenfalls auf sich warten.

»Habe ich dir eigentlich schon von meinem neuen Cabrio erzählt«, sagt Gadget-Johnny, dem zu seinem Telefon offenbar nichts mehr einfällt. »Könnte dich interessieren – deutsches Fabrikat.«

Thema Auto – es kann immer noch schlimmer werden. Mein Rest an gelassener Vorfreude ist dahin: Wenn die Uhr neben der Tür richtig geht, dann ist mein sündhaft teures Parkticket vor genau sechs Minuten abgelaufen. Die Parkplätze vor dem Terminal sind im schummrigen Licht des Stockholmer Nachmittags kaum mehr zu erkennen. Angestrengt spähe ich an Johnny vorbei durch die Glasscheiben nach draußen, in der Hoffnung keinen der Parkwächter zu entdecken, die hier in sehr kurzen Abständen vorbeizuschauen pflegen.

»Und das Verdeck, das geht automatisch auf und zu!«, erzählt Johnny.

Vielleicht sollte ich schnell zum Auto rennen und nachzahlen? Andererseits: Stefanies Flugzeug ist ja schon gelandet, jedenfalls steht das so auf der Anzeigentafel. Wieder öffnet sich die Schiebetür, ohne dass dahinter ein bekanntes Gesicht erscheint. »Getriebe«, »Schaltung«, »Ledersitze« – wie feiner Nieselregen setzen sich diese Worte in meinen Gehörgang. Das Park ticket ist mittlerweile gute zehn Minuten abgelaufen, und eine innere Stimme sagt mir, dass ich mich nicht aufregen soll. Nerven wie aus Schwedenstahl bräuchte ich jetzt – und Ohropax.

»Hörst du mir eigentlich zu?«, fragt Johnny nun.

»Entschuldigung. Ich warte auf Stefanie und Laura, die kommen heute aus Deutschland. Sie bleiben jetzt hier, weißt du.«

Johnny, der eben noch ein wenig beleidigt schien, grinst nun breit.

»Ach ja richtig. Du bist ja unter die Familienväter gegangen. Und: Wie ist es so? Kannst du’s empfehlen? Hast schon gelernt, wie man wickelt? Ist bestimmt eine ziemliche Umstellung. Mein Bruder ist neulich auch Vater geworden.«

Während Johnny mir lang und breit vom Vaterglück seines Bruders erzählt und bald in die technischen Details abgleitet, die das Gefährt seines Neffen zum »Ferrari unter den Kinderwagen« machen, denke ich: Er hat recht. Das war wirklich eine ziemliche Umstellung in den letzten Monaten. Und sie fängt jetzt eigentlich erst so richtig an.

Es ist noch kein Jahr her, im Frühjahr, da hat mich meine Münchener Zeitungsredaktion in den hohen Norden geschickt. Als Nordeuropakorrespondent soll ich fortan über Schweden, Dänemark, Norwegen, Finnland, Island und sogar Grönland berichten. Als das Angebot kam, hatte ich gerade meine Ausbildung zum Redakteur abgeschlossen und war glücklich über die einmalige Gelegenheit.

»Die haben Sie Ihrer Mutter zu verdanken, grüßen Sie sie und vergessen Sie das nicht«, hatte der Chefredakteur zum Abschied gesagt, halb im Scherz. Aber er hatte recht: Meine Mutter ist Schwedin, in Stockholm aufgewachsen, und nur darum habe ich in meinem Geschichtsstudium zwei Auslandssemester im südschwedischen Lund verbracht und die Sprache gelernt. Ohne diesen Hintergrund hätte man mir wohl kaum die Stelle als Korrespondent angeboten. Und ohne das Okay von Stefanie, meiner Lebensgefährtin, hätte ich das Angebot wohl nicht angenommen. Erleichtert hörte ich sie eines Abends sagen: »Na gut, dann ziehen wir eben für ein paar Jahre nach Stockholm.«

Bald malte ich mir das Korrespondentenleben in den wildesten Farben aus. »Sie müssen ein einsamer Wolf werden«, hatte der Chefredakteur mir noch als guten Rat mit auf den Weg gegeben. Und welches Revier würde wohl besser zu so einem Tier passen als der Norden? Also wollte ich künftig ein Wolf sein: einer, der mal die endlosen schneebedeckten Weiten durchstreift, mal durch die Gassen fremder Städte huscht und mal geschmeidig über das glatte Parkett der Außenpolitik gleitet – immer wachsam, immer auf der Suche nach der nächsten Story. Es dauerte einige Wochen, bis endlich der Umzugswagen kam und die Möbelpacker...


Herrmann, Gunnar
Gunnar Herrmann und Susanne Schulz, beide 1975 geboren, zogen 2006 nach Stockholm und gründeten dort eine Familie. Gunnar Herrmann, der Geschichte studiert hat, berichtet von dort als Nordeuropa-Korrespondet für die Süddeutsche Zeitung. Susanne Schulz hat Politikwissenschaften studiert und arbeitet in Stockholm als freie Journalistin für deutsche Medien und als Deutschlehrerin.

Gunnar Herrmann und Susanne Schulz, beide 1975 geboren, zogen 2006 nach Stockholm und gründeten dort eine Familie. Gunnar Herrmann, der Geschichte studiert hat, berichtet von dort als Nordeuropa-Korrespondet für die Süddeutsche Zeitung. Susanne Schulz hat Politikwissenschaften studiert und arbeitet in Stockholm als freie Journalistin für deutsche Medien und als Deutschlehrerin.



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