E-Book, Deutsch, 704 Seiten
Herrin Ravenna
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8062-4526-4
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hauptstadt des Imperiums, Schmelztiegel der Kulturen
E-Book, Deutsch, 704 Seiten
ISBN: 978-3-8062-4526-4
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ravenna - Byzanz des Westens und Stadt der Mosaike
Einst war Ravenna der Treffpunkt der griechischen, lateinischen, christlichen und barbarischen Kulturen und der Dreh- und Angelpunkt zwischen Ost und West. Während Rom sich provinzialisierte, erlebt die neue Hauptstadt des Weströmischen Reichs eine Blütezeit. Ungewöhnlich lebhaft erzählt Judith Herrin nicht nur von der bewegten Geschichte Ravennas, sondern auch von den Menschen dieser Zeit: von Kaiserinnen und Königen, Gelehrten und Ärzten, aber auch von Handwerkern und dem Alltagsleben in der Stadt.
- Detailreich und lebendig: Porträt der Hauptstadt des frühchristlichen Europas
- Aufstieg und Fall einer Metropole: Wie Ravenna zum »Byzanz des Westens« wurde
- Von Herrschern und Bürgern: Leben in einer spätantiken Stadt
- Meisterlich erzählt: Judith Herrins Sachbuch wurde mehrfach ausgezeichnet
- Prächtige Zeugen der Vergangenheit: Fotos der Kirchen und Mosaiken Ravennas
Vom römischen Hafen zur Hauptstadt: der Aufstieg Ravennas
Als im Jahr 402 n. Chr. eindringende Stämme aus dem Norden Mailand belagerten, verlegte der weströmische Kaiser Honorius den Regierungssitz nach Ravenna. Bis ins Jahr 751 war die goldglänzende Stadt an der Adria zunächst die Hauptstadt des Weströmischen Reiches, dann die des riesigen Königreichs des Goten Theoderich und schließlich das Zentrum der byzantinischen Macht in Italien. Die überwältigend schönen frühchristlichen Kirchen mit ihren Mosaiken, die von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurden, zeugen von dieser Zeit des Umbruchs.
Judith Herrin lässt diese Epoche dank ihres fundierten Wissens wieder lebendig werden. Die renommierte Althistorikerin, Archäologin und Expertin für Byzanz ist auch eine glänzende Stilistin, was ihr Buch zu einem besonderen Lesevergnügen macht.
Weitere Infos & Material
Einführung
Als sich im Jahr 1943 die alliierten Streitkräfte darauf vorbereiteten, in Italien einzumarschieren und das Land zu besetzen, konzipierte der britische Marine-Geheimdienst vier Handbücher „ausschließlich zur Benutzung durch Personen im Dienste Seiner Majestät“, die über alle Aspekte des Landes berichten sollten. Der erste Band erschien im Februar 1944, fünf Monate nach der ersten Landung der Alliierten. Randvoll mit Diagrammen und ausklappbaren Karten, beschrieb er auf 600 Seiten Italiens Küsten- und Regionaltopografie. Band 2 und 3 behandelten ausführlich die Geschichte, Bevölkerung, Straßen, Eisenbahnen, Landwirtschaft und Industrie des Landes. Der letzte, 750 Seiten starke Band, der im Dezember 1945 erschien, bot knappe, aber durchaus akkurate Beschreibungen der 70 Binnen- und 48 Küstenstädte des Landes. Der Text zu Ravenna, einer kleinen Stadt an der Adria im Norden Italiens, begann mit der ebenso kurzen wie respekteinflößenden Aussage: „Als Zentrum frühchristlicher Kunst ist Ravenna unerreicht.“
Doch als der Band veröffentlicht wurde, lagen weite Teile der Stadt in Trümmern, auch einige ihrer unvergleichlichen frühchristlichen Kunstwerke waren in den 52 alliierten Bombenangriffen zerstört worden. Im August 1944 wurde die Basilika San Giovanni Evangelista von Fliegerbomben getroffen, die für den Bahnhof und die Abstellgleise bestimmt waren. Die Mitte des 5. Jahrhunderts errichtete Kirche hatten prächtige Mosaiken geziert. Die Bodenmosaiken waren bereits verloren gegangen, als die Kirche im 17. Jahrhundert modernisiert worden war. 1944 wurde das gesamte Gebäude in Schutt und Asche gelegt.1
Wenn Sie noch nie in Ravenna waren, haben Sie wirklich etwas verpasst, und dieses Buch soll das außergewöhnliche Erlebnis, das ein Besuch dort bedeutet, lebendig werden lassen. Ich beginne meine Darstellung der einzigartigen Rolle und immensen Bedeutung Ravennas mit solch wehmütigen Gedanken an die Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg, um deutlich zu machen, was mich veranlasst hat, dieses Buch zu schreiben.
Die Italiener zählen zu den besten Kunstrestauratoren der Welt. Gleich nach dem Krieg machten sie sich daran, ihr kunsthistorisches Erbe in Ravenna wieder instand zu setzen. Um Geld dafür zu sammeln und den Fremdenverkehr wieder auf Touren zu bringen, zeigte man eine Ausstellung mit Reproduktionen einiger der prächtigsten Mosaiken der Stadt. In den 1950er-Jahren war die Ausstellung u. a. in Paris, London und New York zu sehen. Als sie in England Station machte, besuchte meine Mutter, die damals als Allgemeinmedizinerin tätig war, diese Ausstellung.
Ein paar Jahre später beschloss sie, selbst nach Italien zu reisen und ihrer Tochter das Land zu zeigen. Und so näherten wir uns 1959 vom Norden her Ravenna, um uns die Mosaiken anzuschauen, die sie seit der Ausstellung so faszinierten. Ich weiß noch genau, wie wir den Glockenturm der Abtei Pomposa erspähten, dessen rote Ziegel in der untergehenden Sonne schimmerten. In der Stadt beeindruckte mich besonders das Mausoleum der Galla Placidia mit seinem Mosaik des Sternenhimmels, der über Tauben und Hirschen thront, die aus Brunnen trinken, und den faszinierenden geometrischen Mustern auf den Bögen, die die Kuppel stützen. Aber der Sommer war heiß, ich war ein Teenager und fand es erstrebenswerter, in einem kühlen Restaurant Feigen mit Prosciutto zu essen, als mir Mosaiken anzusehen. Dennoch – ein Samen der Neugier war mir eingepflanzt worden, und eine Postkarte mit dem Porträt von Kaiserin Theodora aus der Kirche San Vitale begleitete mich zur Universität.
Außerdem redete ich offenbar ständig von unserem Besuch in Ravenna. Vierzig Jahre später, als wir in der Toskana Urlaub machten, buchte mein Partner uns als Überraschung einen Tagesausflug nach Ravenna – er wollte unbedingt sehen, was mich damals so beeindruckt hatte. Dort besichtigten wir im Rahmen einer Stadtführung mit einem dicht gedrängten Programm die bedeutendsten Kulturdenkmäler Ravennas. Ich war hingerissen und kaufte vor Ort mehrere Reiseführer, die ich auf der Fahrt zurück zu unserem Urlaubsort sichtete. Während wir vor Bologna in einem nicht enden wollenden Stau standen, ärgerte ich mich zunehmend darüber, dass keines dieser Bücher dem Leser verriet, warum überhaupt es zu dieser erstaunlichen Konzentration frühchristlicher Kunst in Ravenna gekommen war und wie diese Kunst überlebt hat.
Die Idee zu diesem Buch entstand also in dichtem Autoverkehr, und zwar in Form einer doppelten Frage: Weshalb gibt es die unvergleichlichen Mosaiken von Ravenna, und wie lässt sich erklären, dass sie die Zeiten überdauert haben? Am Anfang war ich überzeugt, dass ich diese Fragen ohne allzu große Schwierigkeiten würde beantworten können – vielleicht ein wenig zu überzeugt, wie sich herausstellen sollte. Aber wie heißt es so schön: Man nimmt ein Problem erst dann wirklich wahr, wenn man bereits in der Lage ist, es zu lösen. Unbescheiden, wie ich war, hatte ich das Gefühl, bestens gerüstet zu sein. In meinem ersten Buch, The Formation of Christendom, hatte ich mich ausführlich mit der mediterranen Welt dieser Zeit beschäftigt und wusste, welch entscheidende Rolle die Goten, die eine der bedeutendsten Basiliken Ravennas erbaut hatten, in dieser Welt gespielt hatten. Im zweiten Buch, Women in Purple, hatte ich dargelegt, wie drei Kaiserinnen im byzantinischen Bilderstreit für die Umkehr zurück zur Bildverehrung gesorgt hatten, und mit Unrivalled Influence war ein Band mit meinen gesammelten Aufsätzen über die Rolle der Frau in Byzanz im Erscheinen begriffen. Ich meinte, auf dieser Grundlage den Einfluss von Kaiserin Galla Placidia richtig einschätzen und die beeindruckende Ausstrahlung von Theodora, der Frau von Kaiser Justinian I., entsprechend würdigen zu können.
Ravenna war auf dem Höhepunkt seines Einflusses eindeutig eine byzantinische Stadt. In dem Buch Byzanz. Die erstaunliche Geschichte eines mittelalterlichen Imperiums, das kurz vor der Veröffentlichung stand, hatte ich starke Argumente ins Feld geführt, dass sich das Byzantinische Reich eben gerade nicht durch Schmeichelei, starre Hierarchien und Manipulation hervorgetan hatte – das sind bis heute die pejorativen Konnotationen des Adjektivs „byzantinisch“ –, sondern gerade deshalb über den so langen Zeitraum von 330 bis 1453 hatte Bestand haben können, weil es ganz außergewöhnlich belastbar und extrem selbstbewusst war. Diese Stärke wurzelte in einer dreifachen Kombination: Das Rechtswesen und militärische Geschick der Römer verband sich mit griechischer Bildung und Kultur und mit christlichen Glaubens- und Moralvorstellungen. Ein Beweis für diese These ist die große Vitalität der Außenposten von Byzanz, die nach der Eroberung der Hauptstadt im Jahr 1204 ein byzantinisches Eigenleben führten; meine Aufsätze zu diesen Außenposten, unter denen Ravenna eine besondere Rolle spielte, sind unter dem Titel Margins and Metropolis erschienen.
Der Preis, den ich für mein allzu übersteigertes Selbstbewusstsein zahlte, waren neun Jahre intensiver Forschung! Ich musste lateinische Dokumente auf Papyrus studieren und mit der italienischen Wissenschaftssprache zurechtkommem, die sehr viel anspruchsvoller ist als die Alltagssprache. Ich musste mich mit einer Geschichtsschreibung auseinandersetzen, die sich allzu sehr auf den Niedergang des Westens konzentriert und den Aufstieg und die Rolle von Ravenna nicht ausreichend anerkennt. Ich traf auf zahlreiche historische Figuren, die es auseinanderzuhalten galt: etwa den Arzt Agnellus, den Bischof Agnellus und den Geschichtsschreiber Agnellus. Ich fand mich in der wunderschönen Stadtbibliothek von Ravenna wieder, wo – in der Absicht, die Leser zu inspirieren – in temperaturkontrollierter Umgebung die Gebeine Dante Alighieris aufbewahrt werden (der als Exilant aus Florenz nach Ravenna gekommen war). Ich fuhr auf der alten Römerstraße, der Via Flaminia, die den Apennin überquert, das beeindruckende Rückgrat Italiens, das Ravenna und Rom zugleich verband und trennte, und erkundete auch die Militärstraßen, die der byzantinische General Belisar im 6. Jahrhundert benutzte. Ich folgte, so gut ich konnte, der Route, die den Gotenkönig Theoderich, der eine so wichtige Rolle in der Geschichte Ravennas spielte, durch den Norden des Balkans bis an die Ufer des Isonzo führte, wo er seinen Rivalen Odoaker überwältigte, um anschließend Italien und einen Großteil Südgalliens zu erobern. Auf dieser Reise konnte ich in Cividale del Friuli die Handwerkskunst der Langobarden bestaunen: Sie reichte von christlichen Statuen über Schnitzereien und gemalte Verzierungen bis zu vorchristlichen Grabbeigaben aus Gold und Granat. Mit vier großzügigen Seglern aus Ravenna fuhr ich über die Adria, um mir ein Bild davon zu machen, wie aufwendig es für Mosaikkünstler aus Ravenna gewesen sein mochte, in Parentium (dem heutigen Porec in Kroatien) zu arbeiten. Dort bestaunte ich die schimmernden Mosaiken der Euphrasius-Basilika, die so eng mit Ravennas Monumenten verbunden sind (sie wurden jeweils im 6. Jahrhundert angefertigt).
Diese Erkundungen machten mir...




