Herrath / Brönstrup | Sexualität unbehindert leben | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 386 Seiten

Herrath / Brönstrup Sexualität unbehindert leben

Rechte, Wirklichkeiten, Forderungen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-044810-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Rechte, Wirklichkeiten, Forderungen

E-Book, Deutsch, 386 Seiten

ISBN: 978-3-17-044810-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sexuelle Selbstbestimmung ist ein für alle gültiges Menschenrecht, dennoch kommt unbehinderte Sexualität in der 2009 von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention als zu schützendes Rechtsgut nicht vor. Dabei steht es um die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen nicht zum besten: Frauen mit Behinderungen erfahren sexuelle Gewalt deutlich häufiger als Frauen ohne Behinderung, hilfreiche sexualitätsbezogene Bildungsangebote und Informationsmedien in leichter Sprache sind rar, Institutionen der Eingliederungshilfe stehen den sexuellen Interessen der von ihnen betreuten Menschen noch oft rechtswidrig und manchmal gewalttätig im Wege, das Recht auf Elternschaft wird Menschen mit kognitiver Einschränkung nicht selten verwehrt, Teilhabe wird strukturell mannigfaltig behindert.
Andererseits setzen sich immer mehr Menschen mit Behinderung aktivistisch für ihre Belange und Rechte ein, sind medial sichtbarer, wächst die Zahl der Fachkräfte der Eingliederungshilfe, die sich sexualpädagogisch qualifizieren, ist Sexualassistenz nicht mehr bloß eine exotische und schlecht beleumundete Option.
Wie gelingt es also 2024 Menschen mit Beeinträchtigungen, Sexualität unbehindert zu leben? Welche Wirklichkeiten führen zu welchen Forderungen, um sexuell gleichberechtigt zu sein? Das Buch versammelt ExpertInnen unterschiedlichster Handlungsfelder, verwirklicht in der Wahl der AutorInnen den BRK-Leitsatz "Nichts über uns ohne uns" und differenziert die Besonderheiten sexuellen Lebens für die Behinderungsvarianten.

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Rechtsfragen der Sexualität und Partner*innenschaft von Menschen mit Behinderungen
Julia Zinsmeister Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung. Der Beitrag beleuchtet, welche Anforderungen sich daraus und aus den betreuungs-?, sozial- und strafrechtlichen Vorgaben an den Umgang der rechtlichen Betreuenden und der Mitarbeitenden sozialer Einrichtungen und Dienste mit dem Sexualleben von Menschen mit Behinderungen ableiten lassen. Wie können und müssen sie zur Sicherung und Förderung der sexuellen Selbstbestimmung der Adressat*innen beitragen und zugleich ihrer Schutzverantwortung gerecht werden? Das Recht auf geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung
Art. 2 Abs. 1 GG gewährt allen Menschen in Deutschland das Recht auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Geschützt werden ihre allgemeine Handlungsfreiheit und – in Zusammenschau mit Art. 1 Abs.1 GG – ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht.2 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht verpflichtet den Staat, den Einzelnen die Grundbedingungen zu sichern, die sie brauchen, um ihre Individualität selbstbestimmt entwickeln und wahren zu können.3 Zu den geschützten Aspekten der eigenen Persönlichkeit zählen Rechtsprechung und rechtswissenschaftliche Lehre auch die geschlechtliche Identität eines Menschen und seine Sexualität.4 Mit dem Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung befasste sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eingehender 2017. In seiner Entscheidung wies es darauf hin, dass der Zuordnung zu einem Geschlecht nicht nur herausragende Bedeutung für die individuelle Identität der Einzelnen, sondern gegenwärtig auch noch für deren gesellschaftliche Positionierung zukommt.5 Die Verfassung, betont das Gericht, schützt auch die geschlechtliche Identität jener Personen, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind.6 Werden sie durch binärgeschlechtlich gestaltete Strukturen gezwungen, sich als Frau oder Mann einzuordnen, kann darin eine verbotene Benachteiligung liegen (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG).7 Die Entscheidung fordert eine Sensibilisierung und Anpassung gesellschaftlicher Strukturen an diese Vielfalt – auch in der Eingliederungshilfe. Einrichtungen und Dienste sind aufgefordert, ihre Politiken und Praktiken zu überprüfen, um sicherzustellen, dass sie nicht diskriminierend wirken und die Vielfalt der Geschlechter berücksichtigen. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wird weder in unserer nationalen Rechtsordnung noch im europäischen und internationalen Recht positiv definiert. Das BVerfG hat es mehrfach als Grundrecht eingeordnet, sich aber nur mit Teilaspekten dieses Rechts befasst8 und offen gelassen, was darunter konkret zu verstehen ist. Internationale Menschenrechtsexpert*innen und Nichtregierungsorganisationen haben darum Interpretationshilfen erarbeitet, die zwar rechtlich nicht verbindlich sind, aufgrund ihres tiefen Verständnisses der Bedeutung sexueller und reproduktiver Rechte aber hohe Argumentationskraft haben: Dazu zählen insbesondere die »Yogyakarta Principles on the application of international human rights law in relation to sexual orientation and gender identity« von 20079 und deren Ergänzungen von 2017.10 Orientierung geben auch internationale Fachgesellschaften wie die International Planned Parenthood Federation (IPPF) mit ihrer Charta der sexuellen und reproduktiven Rechte von 1995.11 Eine eingehende Analyse der deutschen Rechtsprechung zum Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung und dessen gesamter Kontur hat 2021 erstmals Valentiner vorgelegt. Sie charakterisiert das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung als die Befugnis einer Person, darüber zu bestimmen, ob, mit wem, auf welche Weise und unter welchen Bedingungen sie Sex hat, und ob und in welchen Grenzen sie Einwirkungen anderer Personen auf ihre Entscheidungen und Handlungen zulässt.12 Das Recht der Einzelnen auf sexuelle Selbstbestimmung endet wie alle Freiheitsrechte da, wo diese auf Kosten der geschützten Selbstbestimmung anderer gelebt werden soll. Einigkeit herrscht daher, dass das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung nur konsensuale und nicht machtmissbräuchliche Sexualitäten schützt.13 Sexueller Missbrauch, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, der Besitz von Missbrauchsabbildungen (sog. Kinder- oder Jugendpornographie) und ähnliche Handlungen werden in Deutschland darum als »Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung« bezeichnet und staatlich verfolgt. Vor allem für heterosexuelle cis-Frauen ist ihre sexuelle Selbstbestimmung eng verknüpft mit ihrem Recht, sich frei für oder gegen eine Schwangerschaft entscheiden zu können.14 Dieses Recht ist Ausfluss des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung, das behinderten Menschen häufig vorenthalten wird und dem in diesem Band darum ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Setzt das Recht auf Selbstbestimmung die Fähigkeit auf Selbstbestimmung voraus?
Behinderten Menschen wird das Recht auf (sexuelle) Selbstbestimmung oft abgesprochen mit der Begründung, sie seien nicht zu freiverantwortlichem Handeln fähig. Das gilt in besonderem Maße für Menschen mit der Diagnose einer Intelligenzstörung, die gemeinhin als »geistig behindert« bezeichnet werden, diese Bezeichnung aber vielfach als diskriminierend ablehnen.15 Aus Respekt vor ihrem Recht auf Selbstdefinition und in Abkehr vom medizinischen Modell von Behinderung16 spreche ich nachfolgend von Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten. Grund- und Menschenrechte gelten universal und dienen gerade dem Schutz derjenigen, deren Menschenrechtsfähigkeit oder -würdigkeit angezweifelt wird. In Art. 3 der UN-BRK haben sich Deutschland und die anderen Vertragsstaaten explizit verpflichtet, die Autonomie aller Menschen mit Behinderungen anzuerkennen. Autonom sind wir nie allein.17 In welchem Maße die Einzelnen die Fähigkeit zu (sexueller) Autonomie entwickeln, hängt maßgeblich von ihrem Zugang zu sozialer Unterstützung, Information und Bildung und davon ab, welche Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten ihnen offen stehen, um sich alleine und in der Interaktion mit anderen zu erfahren und zu erproben. Diesem relationalen Modell von Autonomie folgend versteht die UN-BRK Selbstbestimmung nicht als einen statischen Zustand, der besteht oder nicht, sondern als eine Kapazität, die Menschen grundsätzlich nur mit Hilfe fördernder und unterstützender Strukturen in unterschiedlichem Maße entwickeln und im Lebensverlauf wieder verlieren können.18 Zu diesen Strukturen zählen garantierte Freiheits- und Teilhaberechte, die den Einzelnen Entfaltungsmöglichkeiten sichern, aber auch die Familie, Kitas, Schulen sowie staatliche und nichtstaatliche Informations-?, Beratungs- und Serviceangebote. Die Pflicht des Unterstützungssystems, behinderten Menschen (sexuelle) Selbstbestimmung zu ermöglichen
Für Menschen mit Behinderungen sind in Deutschland flankierend zu den allgemeinen Institutionen, die Bildung, Beratung und andere Unterstützung anbieten, die Träger, Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe und anderer Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe (SGB IX) dafür zuständig, die »Selbstbestimmung und [...] volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe« behinderter Menschen »am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken« (§ 1 SGB IX). Können erwachsene Menschen krankheits- oder behinderungsbedingt ihre Angelegenheiten nicht alleine rechtlich besorgen, soll der Staat ihnen rechtliche Betreuer*innen an die Seite stellen, die sie darin unterstützen, ihr Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten (§ 1821 Abs.1 Satz 2 und Abs. 2 BGB). Die sich hieraus ergebenden Handlungspflichten der Unterstützer*innen sind mehr als ein moralischer Appell: Ihre Verletzung kann aufsichtsrechtliche oder betreuungsgerichtliche Maßnahmen, Haftungsansprüche oder Kürzungen der Leistungsentgelte (§ 129 SGB IX) nach sich ziehen. Bestimmte Pflichtverletzungen, z.?B. die unbefugte Weitergabe sexualbezogener Informationen über Bewohner*innen an deren rechtliche Betreuer*innen oder die Desinformation einer Person, um sie zur Einwilligung in ihre Sterilisation zu bewegen, können auch strafrechtlich verfolgt werden.19 Wie aber können rechtliche Betreuer*innen und Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe und der Kinder- und Jugendhilfe konkret zum Schutz und zur Förderung der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen beitragen? In der Literatur und Praxis werden bislang vorrangig ihre individuelle Förderung durch spezielle sexualpädagogische Angebote propagiert.20 Die UN-BRK macht jedoch deutlich, dass es zur Sicherung der Selbstbestimmung behinderter Menschen neben der Förderung ihrer individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten stets auch der Ermöglichung von Freiheit bedarf und dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen und als Rechtssubjekte, d.?h....


Dr. Frank Herrath und Kathrin Brönstrup sind Mitarbeitende des Instituts für Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Sie gestalten dort Weiterbildungen mit dem Themenschwerpunkt "Sexualität und Behinderung".

Mit Beiträgen von:
Frank Herrath, Kathrin Brönstrup, Sigrid Arnade, Sebastian Bergfeld, Jens Brörken, Lena Cornelissen, Natalie Dedreux, Reiner Delgado, Nicola Döring, Tanja Drusell, Sandra Glammeier, Stefan Göthling, Stefanie Grübl, Andreas von Hören, Tanja Hoyer, Sven Jennessen, Gudrun Jeschonnek, Maren Kolshorn, Patrizia Kubanek, Hannah Long, Beate Martin, Ulrike Mattke, Hemma Mayrhofer, Stefanie Meer-Walter, Jörg Nitschke, Jana Offergeld, Martina Puschke, Dunja Reichert, Ursula Riesberg, Kadidja Rohmann, Dana Schmidt, Maren Seelandt, Ralf Specht, Antje Torlage, Ilona Westphal, Petra Winkler, Saskia Wolfram, Anika Wolters, Charlotte Zach und Julia Zinsmeister.



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