E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Reihe: Wie wir leben wollen
Herr / Speer Wenn die letzte Frau den Raum verlässt
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8437-3591-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was Männer wirklich über Frauen denken | Vorurteile, Ängste und krude Argumente gegen Gleichstellung
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Reihe: Wie wir leben wollen
ISBN: 978-3-8437-3591-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vincent-Immanuel Herr (*1988) verdankt es seiner Familie, schon früh Berührung mit Gerechtigkeitsfragen und politischen Debatten gemacht zu haben. So wurde am Esstisch mit seinen Eltern und seiner Schwester nicht selten über Feminismus und die Rolle des Individuums für gesellschaftlichen Fortschritt diskutiert. Nach dem Abitur am Berliner Goethe-Gymnasium studierte er Geschichte, Soziologie und Politik in den USA (Bachelor of Arts) und in Deutschland (Master of Arts). Er ist Teil des Berater- und Autoren-Duos 'Herr & Speer'. Sie schreiben Artikel und Bücher, halten Keynotes und Workshops. Gemeinsam sind sie HeForShe-Botschafter für UN WOMEN Deutschland und wurden im Jahr 2022 in den Gender Equality Advisory Council der G7-Staaten (GEAC) berufen. Ihr Engagement wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Jean Monnet Prize for European Integration, dem Innovation in Politics Award, dem Bayreuther Vorbildpreis und dem Blauen Bären der Stadt Berlin.
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VORWORT
»Dieser ganze Genderkram geht mir dermaßen auf den Keks«, platzte es aus einem der Männer vor uns im Raum heraus. Andere lächelten zustimmend. Veranstaltungen dieser Art sind seit Jahren zentraler Bestandteil unserer Arbeit: Wir begleiten und besuchen Organisationen oder Unternehmen, um in gemischten oder rein männlichen Gesprächsrunden über Geschlechtergerechtigkeit zu sprechen. In diesem Fall handelte es sich um eine Fokusgruppe (also eine moderierte Befragung zur Datenerhebung), bestehend aus zwölf Männern mit dem Ziel, herauszuarbeiten, wie es um männliche Einstellungen gegenüber Gleichstellungsmaßnahmen in der Organisation bestellt sei. Der Satz oben machte deutlich: kompliziert. Genau genommen hatte der Mann nicht »Keks« gesagt, sondern ein vulgäreres Wort verwendet. Unabhängig von der Wortwahl drückt der Ausspruch eine Haltung aus, die unter Männern keine Seltenheit ist. Wir beobachten seit ein paar Jahren, wie sich der Konflikt über eines der wichtigsten Themen unserer Zeit zuspitzt: Geschlechtergerechtigkeit.
Auf der einen Seite erhalten Fragen rund um Gleichberechtigung und Diversität mehr und mehr Aufmerksamkeit. Unternehmen feiern in den sozialen Medien die Vielfalt ihrer Belegschaft, rein männlich besetzte Panels und Expertenrunden werden seltener. Sexistische Sprüche, die Frauen aufgrund ihres Geschlechts diskriminieren oder herabwürdigen, oder gar Übergriffe werden weniger häufig ignoriert, sondern ziehen immer öfter Konsequenzen nach sich, Medienschaffende beleuchten das Thema regelmäßig, der Anteil von Frauen in Spitzenpositionen steigt (wenn auch im Schneckentempo).
Auf der anderen Seite wächst der Widerstand vieler Männer gegen Themen, die mit Frauen, Geschlechtergerechtigkeit oder Gleichstellung zu tun haben. Antifeministen und Pick-Up-Artists ziehen Hunderttausende junger Männer in ihren Bann, Landesfürsten verbieten geschlechtergerechte Sprache, Präsidenten werden sexistischen Ausfällen und Schlimmerem zum Trotz wiedergewählt, Firmenchefs kürzen Frauen- und Diversitätsbudgets, Spitzenpolitiker werten Frauen und ihre Anliegen ab, Männern geht der Feminismus zu weit. Selbst die Stilleren unter ihnen sorgen sich um ihre Karriere oder Männlichkeit in einer gefühlten Welt von Quoten, Gleichstellungsbeauftragten und woken Internetmemes.
Diese beiden gegenläufigen Entwicklungen – die Zunahme von feministischen Themen im öffentlichen Diskurs und die Zunahme von (sichtbarem und viel häufiger noch: unsichtbarem) männlichem Widerstand – laufen zeitgleich ab. Ohne Schwarzmalerei zu betreiben: Die Spannungen werden in den nächsten Jahren vermutlich noch zunehmen. In unserer Arbeit, die mittlerweile beide Seiten des Atlantiks umspannt, sehen wir regelmäßig: Der Kessel der Debatte rund um Geschlechtergerechtigkeit steht gehörig unter Druck. Es liegt in unser aller Interesse, die Temperatur zu senken, bevor er uns um die Ohren fliegt. Um das tun zu können, müssen wir zunächst verstehen, worin der Widerstand vieler Männer begründet liegt, was dahintersteckt und wie wir mit passenden Argumenten und Methoden Männer sogar als Verbündete für Geschlechtergerechtigkeit an Bord holen können. Genau darum geht es in diesem Buch.
Wir schreiben als zwei weiße, deutsche Männer, die sich zwar umfassend mit dem Thema auseinandersetzen, gleichzeitig aber zwei weiße deutsche Männer sind – mit allen Prägungen, Privilegien und Limitierungen im Gepäck, die dieser biografische Hintergrund mit sich bringt. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass es uns Männern häufig schwerfällt, das Problem Sexismus überhaupt zu verstehen, geschweige denn die strukturelle sowie alltägliche Dimension wirklich zu erfassen. Ebenso wissen wir, dass sexistische Denk- und Handlungsmuster zur DNA unseres kulturellen Männlichkeitsbilds gehören: über Rollenzuschreibungen in Kinderbüchern, sexistische Werbung oder Repräsentation von Frauen und Männern in den Medien bis hin zu sozialen Codes, die Männer in Wirtschaft, Politik, Medien und auch privat belohnen, die vorlaut und meinungsstark sind und andere abwerten, die mitfühlend und ruhig sind. Wir werden in einem patriarchalen System geprägt, das uns Männern immer wieder einflüstert:
Auch wir beide waren nicht frei von dieser unausgesprochenen Maxime und haben Dinge getan, die wir heute bereuen: Frauen unterbrochen oder übertönt. Sexistische Witze gemacht oder darüber gelacht. Unangebrachte Sprüche gemacht oder geschwiegen, wenn jemand anders sie machte. Uns selbst überschätzt und Frauen unterschätzt. Viel Raum eingenommen oder Dank erwartet, wenn wir es nicht getan haben. Sorgearbeit und Fürsorglichkeit automatisch von Frauen erwartet. Und uns dabei erwischt, bei einem missglückten Einparkmanöver eine Frau am Steuer des Autos zu vermuten. Bis heute sind wir nicht frei davon, in diese Denkfallen zu tappen.
Doch wir haben nicht nur an uns selbst, sondern auch an vielen anderen beobachtet: Männer können mit kleinen und manchmal sogar großen Schritten diesen Morast aus Sexismus und Rollenzwängen, die auch für Männer negative Auswirkungen haben, hinter sich lassen. Das ist nicht immer einfach und oft auch schmerzhaft – z. B. wenn wir Männer uns selbst eingestehen müssen, dass auch wir Frauen eingeschüchtert oder verletzt haben –, doch der Weg lohnt sich.
Das Wichtigste ist, dass wir uns überhaupt auf den Weg machen. Denn am Ende steht eine bessere Welt für uns alle. Eine Welt, in der wir miteinander auf Augenhöhe leben und arbeiten können, in der Menschen aller Geschlechter frei von Rollenvorschriften sein und sich ohne Vorverurteilung in den Bereichen betätigen können, die sie interessieren. Eine Welt, in der es völlig normal ist, wenn Frauen zu höchsten Ämtern aufsteigen und Männer ihrem Wunsch nach mehr Familienzeit nachgehen können, ohne Witze über sich ergehen lassen zu müssen. Eine Welt, in der Frauen sich im öffentlichen Raum oder auf dem Büroflur frei und sicher bewegen können, und eine, in der auch Männer, für die Karriere und Geldverdienen nicht höchstes Ziel sind, als echte Männer gesehen werden. Wir brauchen eine Welt mit einer modernen Form von Männlichkeit, in der Männer sich nicht darüber definieren, Frauen abzuwerten, oder sich eingeschüchtert fühlen von weiblichem Erfolg. Wir arbeiten dafür, dass Männer sich zunehmend und selbstverständlich als Verbündete von Frauen verstehen und für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen. Genau um diese Art von Veränderung geht es bei dem so passenden Konzept von Male Allyship1, also Männer als Verbündete für Frauen und queere Menschen; Männer, die Sexismus ansprechen, auch und gerade wenn es mal unangenehm werden kann.
Male Allyship bedeutet ganz konkret, als Mann einen eigenen und effektiven Beitrag zu einer Welt zu leisten, in der sich unsere Schwestern, Mütter, Töchter, Ehefrauen und Partnerinnen, Kolleginnen und Freundinnen genauso sicher, frei und froh bewegen und erfolgreich verwirklichen können wie wir Männer. Male Allyship mag für uns Männer echte und vor allem ernst gemeinte Arbeit bedeuten, langfristig läuft es aber auf etwas ganz Wunderbares hinaus: Entspannung. Aus starren kulturellen Erwartungen und sozio-ökonomischen Zwängen auszubrechen, ist gerade für uns Männer ein echter Befreiungsschlag. Auf Augenhöhe mit Frauen zu leben, zu arbeiten, zu lieben und zu gestalten, bedeutet, tiefer atmen zu können, Verantwortung zu teilen, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, gesünder zu leben, ausgeglichener zu sein, neue Fähigkeiten für den Beruf zu erlernen, sich selbst besser kennenzulernen – und vor allem sich nicht immer als krasser Kerl (gerade auch anderen Männern gegenüber) beweisen zu müssen.
Wir sehen es in unseren Trainings, Workshops und Vorträgen so häufig, ob im DAX-Konzern, beim Mittelständler oder an der Uni: Wenn Frauen und Männer ehrlich aufeinander zugehen, miteinander ins Gespräch kommen, voneinander lernen, dann verändert sich etwas. Auf strengen Gesichtern erscheint plötzlich ein Lächeln, die Atmosphäre wird freundlicher und konstruktiver, Gemeinsamkeiten werden sichtbar, Lösungen kreativer und nachhaltiger, die Rollenerwartungen, denen wir uns alle viel zu häufig beugen, verlieren an Einfluss und Kontrolle.
In diesem Sinne haben wir dieses Buch geschrieben. Nicht als Brandmarkung von Männern, sondern als ehrlichen Einblick in die Widerstände, die wir Männer verspüren, in die Sorgen und Ängste, die uns umtreiben – und die viele Männer erst dann äußern, wenn Frauen nicht mehr im Raum sind. Wir hoffen, dass sich dies zukünftig ändert. Echter Fortschritt kann und wird nicht in reinen Männerrunden begründet, sondern wenn wir zusammen anpacken. Oder wie Jutta Allmendinger treffend sagt: »Es geht nur gemeinsam.«2
Vincent-Immanuel Herr & Martin...