E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Hermann Nichts als Gespenster
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403375-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-10-403375-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. 2021 erschien der Roman »Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, und für den Judith Hermann mit dem Bremer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien 2023 bei S. FISCHER »Wir hätten uns alles gesagt«, basierend auf den Frankfurter Poetikvorlesungen, die Judith Hermann im Frühjahr 2022 hielt. Dafür erhielt sie den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Literaturpreise: Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2023 Preis der LiteraTour Nord 2022 Bremer Literaturpreis 2022 Rheingau Literatur Preis 2021 Blixenprisen 2018 für »Lettipark« Erich-Fried-Preis 2014 Friedrich-Hölderlin-Preis 2009 Kleist-Preis 2001 Hugo-Ball-Förderpreis 1999 Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 1999
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Ruth (Freundinnen)
Ruth sagte »Versprich mir, daß du niemals etwas mit ihm anfangen wirst«. Ich erinnere mich, wie sie aussah dabei. Sie saß auf dem Stuhl am Fenster, die nackten Beine hochgezogen, sie hatte geduscht und sich die Haare gewaschen, sie trug nur ihre Unterwäsche, ein Handtuch um den Kopf geschlungen, ihr Gesicht sehr offen, groß, sie sah mich interessiert an, eher belustigt, nicht ängstlich. Sie sagte »Versprich mir das, ja?«, und ich sah an ihr vorbei aus dem Fenster, auf das Parkhaus auf der anderen Straßenseite, es regnete und wurde schon dunkel, die Parkhausreklame leuchtete blau und schön, ich sagte »Also hör mal, warum sollte ich dir das versprechen, natürlich fange ich nichts mit ihm an«. Ruth sagte »Ich weiß. Versprich es mir trotzdem«, und ich sagte »Ich verspreche es dir«, und dann sah ich sie wieder an, sie hätte es nicht sagen sollen.
Ich kenne Ruth schon mein Leben lang.
Sie kannte Raoul seit zwei oder drei Wochen. Er war für ein Gastspiel an das Schauspielhaus gekommen, an dem sie für zwei Jahre engagiert war, er würde nicht lange bleiben, vielleicht hatte sie es deshalb so eilig. Sie rief mich in Berlin an, wir hatten zusammen gewohnt, bis sie wegen des Engagements umziehen mußte, wir konnten nicht gut damit umgehen, voneinander getrennt zu sein, sie rief mich eigentlich jeden Abend an. Ich vermißte sie. Ich saß in der Küche, die jetzt leer war bis auf einen Tisch und einen Stuhl, ich starrte auf die Wand, während ich mit ihr telefonierte, an der Wand hing ein kleiner Zettel, den sie dort irgendwann aufgehängt hatte, »tonight, tonight it’s gonna be the night, the night«. Ich dachte ständig darüber nach, ihn abzureißen, aber dann tat ich es nie. Sie rief mich an, wie immer, und sagte sofort und ohne zu zögern »Ich habe mich verliebt«, und dann erzählte sie von Raoul, und ihre Stimme klang so glücklich, daß ich aufstehen und mit dem Telefon in der Hand durch die Wohnung laufen mußte, sie machte mich unruhig, in gewisser Weise nervös. Ich hatte mich nie für ihre Männer interessiert und sie sich nie für meine. Sie sagte »Er ist so groß«. Sie sagte all das, was man immer sagt, und auch ein bißchen was Neues, ihre Verliebtheit schien sich nicht unbedingt von anderen, früheren Verliebtheiten zu unterscheiden. Sie waren eine Woche lang umeinander herumgeschlichen und hatten sich Blicke zugeworfen und die Nähe des anderen gesucht, sie hatten sich nachts, nach einem Fest, betrunken in der Einkaufspassage der Kleinstadt zum ersten Mal geküßt, sie küßten sich hinter den Kulissen in den Pausen zwischen zwei Szenen und in der Kantine, wenn die Kollegen gegangen waren und die Kantinenköchin die Stühle hochstellte – er habe so weiche Hände, sagte sie, sein Schädel sei kahlrasiert, manchmal trage er eine Brille, das sehe dann seltsam aus, ein kleines, verbogenes Metallgestell, unpassend für sein Gesicht. Sie sagte »Er ist eigentlich eher Typ, wirklich, genau dein Typ, du würdest umfallen, wenn du ihn sehen könntest«, ich sagte »Was soll das denn sein, mein Typ?«, und Ruth zögerte, kicherte dann, sagte »Weiß nicht, körperlich eben? Bißchen asozial vielleicht?« Er würde schöne Sachen sagen – »Die Farbe deiner Augen ist wie Gras, wenn der Wind hineinfährt und die Halme ins Weiße kehrt« –, sie zitierte ihn andächtig, er sei auch eitel (sie lachte darüber), in gewisser Weise wie ein Kind, er spielte den Caliban im , das Publikum würde toben, Abend für Abend. Er käme aus München, sein Vater sei schon lange tot, er habe Philosophie studiert, eigentlich, im Sommer fahre er nach Irland, schlafe im Auto, versuche zu schreiben an den Klippen mit Blick auf das Meer. Raoul. Ruth sagte .
Als ich Ruth besuchte – nicht wegen dieser neuen Liebe, ich hätte sie ohnehin besucht –, holte sie mich vom Bahnhof ab, und ich sah sie, bevor sie mich sah. Sie lief den Bahnsteig entlang, versuchte mich zu entdecken, sie trug ein langes, blaues Kleid, die Haare hochgesteckt, ihr Gesicht leuchtete, und ihre ganze Körperspannung, ihr Gang, die Haltung ihres Kopfes und ihr suchender Blick drückten eine Erwartung aus, die in keiner Weise, die niemals mir gelten konnte. Sie fand mich auch nicht, und irgendwann stellte ich mich ihr einfach in den Weg. Sie erschrak, und dann fiel sie mir um den Hals, küßte mich und sagte »Liebe, Liebe« – das neue Parfum, das sie trug, roch nach Sandelholz und Zitronen. Ich löste ihre Hände von mir und hielt sie fest, ich sah in ihr Gesicht, ihr Lachen war mir sehr vertraut.
Ruth hatte eine winzige Wohnung in der Innenstadt gemietet, eine Art amerikanisches Apartment, ein Zimmer, eine Kochnische, ein Bad. Vor den großen Fenstern hingen keine Vorhänge, einzig im Badezimmer konnte man sich vor den Blicken der Autofahrer, die ihr Auto im gegenüberliegenden Parkhaus abstellten und dann minutenlang, wie geistesabwesend, herüberstarrten, verbergen. Das Zimmer war klein, ein Bett darin, eine Kleiderstange, ein Tisch, zwei Stühle, eine Stereoanlage. Auf dem Fenstersims das Foto mit dem Blick aus dem Fenster unserer Wohnung in Berlin, das ich ihr zum Abschied geschenkt hatte, auf dem Tisch ein silberner Aschenbecher aus Marokko, ein Paßfoto von mir im Rahmen des Spiegels über dem Waschbecken im Bad. Es muß einen Moment gegeben haben, in dem ich in der Wohnung alleine war – Ruth im Theater, beim Einkaufen, mit Raoul –, und ich erinnere mich, daß ich auf dem Stuhl am Fenster saß, auf Ruths Stuhl, eine Zigarette rauchte und mich den Blicken der Menschen im Parkhaus aussetzte, die Leuchtreklame flackerte, das Zimmer war fremd, das Treppenhaus hinter der Wohnungstür dunkel und still.
Ruth sieht anders aus als ich. Alles an ihr ist mein Gegenteil, was an ihr rund ist und weich und groß, ist an mir hager und knochig und klein, meine Haare sind kurz und dunkel, ihre sehr lang und hell, lockig und knistrig, ihr Gesicht ist so schön, ganz einfach, und es stimmt alles, ihre Augen, ihre Nase, ihr Mund in einem ebenen Gleichmaß. Als ich sie das erste Mal sah, trug sie eine riesige Sonnenbrille, und noch bevor sie sie abnahm, wußte ich, wie ihre Augen sein würden, grün.
Ich wollte drei Tage lang bleiben, dann nach Paris fahren, dann zurück nach Berlin. Ich reiste in dieser Zeit oft in fremde Städte, blieb eine orientierungslose, zähe Woche lang und fuhr wieder ab. Noch auf dem Bahnsteig sagte Ruth »Bleib länger, ja?« Die Stadt war klein und überschaubar, die Fußgängerzone gleich hinter dem Bahnhof, das Theater am Marktplatz, die Spitze der Kirche immer über den Dächern zu sehen. Ruth trug meinen Koffer, beobachtete mich, war besorgt, daß ich zynisch werden könnte, abfällig, hochmütig gegenüber der Fußgängerzone, dem Tchibo, dem Kaufhaus, dem Marktplatzhotel, dem Ort, an dem sie jetzt lebte für zwei Jahre. Ich mußte lachen, ich war weit davon entfernt, zynisch zu werden, ich beneidete sie um diese zwei Jahre in der Kleinstadt, ohne daß ich ihr wirklich hätte erklären können, weshalb. Wir setzten uns in ein italienisches Eiscafé, bestellten Erdbeereis mit Schlagsahne und Kaffee und Wasser, ich zündete mir eine Zigarette an und hielt mein Gesicht in die Spätsommersonne. Ich dachte »In einer Kleinstadt könnte ich sorgloser sein«. Der Kellner servierte Kännchen, Eisbecher, Gläser, sah Ruth andächtig an, sie merkte es nicht, mich ignorierte er. Ruth war unruhig, aß ihr Eis nicht auf, bestellte noch einen Kaffee, sah immer wieder die Fußgängerzone hinauf und hinunter, ein hastiger, eiliger, suchender Blick über die Menschen, zurück in mein Gesicht, wieder fort. Dann lächelte sie und sagte »Es ist schlimm, schlimm, schlimm«, sie sah überhaupt nicht unglücklich aus dabei. Sie sagte »Du mußt mir sagen, was du von ihm hältst, ja? Du mußt ganz ehrlich sein«, und ich sagte »Ruth«, und sie sagte ernsthaft »Das ist mir wichtig«. Es war schwieriger geworden mit Raoul in der vergangenen Woche, es hatte den ersten Streit gegeben, ein sinnloses Mißverständnis, schon wieder vorüber, und dennoch, es schien irgendeine Exfrau zu geben in München, mit der er in Ruths Gegenwart lange Telefonate geführt hatte, er entzog sich von Zeit zu Zeit, hielt Verabredungen nicht ein oder kam zu spät, war schweigsam manchmal, mürrisch und dann wieder euphorisch, ungeduldig, berauscht von Ruths Schönheit. Sie sei nicht sicher, sagte sie, was er von ihr wolle, sie sagte »Vielleicht will er mich auch nur flachlegen«. Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ich sie besuchte, hatte er sie zumindest noch nicht flachgelegt. Aber es gab Gerüchte, irgend jemand hatte gesagt, er habe einen Ruf und nicht den besten, Ruth war eigentlich von so etwas nicht zu verunsichern, und dann doch, sie sagte »Ich will keine Trophäe sein, verstehst du« und sah mich dabei so kindlich und offen an, daß ich mich fast schämte, für mich, für Raoul, für den ganzen Rest der Welt. Ich sagte »Ruth, das ist albern, du bist keine Trophäe, niemand wird dich verraten und niemand wird dich erjagen, ich weiß das«, ich meinte es ehrlich, und Ruth sah für einen kurzen Moment getröstet und sicher aus. Sie nahm meine Hand und sagte »Und du? Und wie geht es dir?«, ich wich aus, wie immer, und sie ließ mich ausweichen, wie immer, und dann saßen wir so, vertraut, schläfrig im Nachmittagslicht. Gegen sieben mußte Ruth ins Theater, ich begleitete sie.
Ruth, schlafend. Als wir die erste Wohnung miteinander geteilt hatten – vor wie vielen Jahren, vor fünf, vor zehn? –, schliefen wir in einem Bett. Wir gingen oft gleichzeitig schlafen, lagen einander zugewandt, Gesicht an Gesicht, Ruths Augen in...