E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Hermann Alice
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400631-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-10-400631-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. 2021 erschien der Roman »Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, und für den Judith Hermann mit dem Bremer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien 2023 bei S. FISCHER »Wir hätten uns alles gesagt«, basierend auf den Frankfurter Poetikvorlesungen, die Judith Hermann im Frühjahr 2022 hielt. Dafür erhielt sie den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Literaturpreise: Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2023 Preis der LiteraTour Nord 2022 Bremer Literaturpreis 2022 Rheingau Literatur Preis 2021 Blixenprisen 2018 für »Lettipark« Erich-Fried-Preis 2014 Friedrich-Hölderlin-Preis 2009 Kleist-Preis 2001 Hugo-Ball-Förderpreis 1999 Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 1999
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II. Conrad
Sie hatten eine Wegbeschreibung. Conrad hatte Alice eine Wegbeschreibung nach Berlin geschickt, altmodisch, mit der Post. Anschrift, Telefonnummer und eine kleine Skizze. Das Haus, in dem er und Lotte wohnten, ein weißes Rechteck, das gelbe Haus, südlich davon. Conrads Schrift war fein und zittrig, schon vertraut; das geht schnell, dachte Alice, daß einem eine Schrift vertraut vorkommen kann, viel schneller vertraut ist, als der Mensch, der sie schreibt. Die Skizze lag auf ihrem Schoß. Sie hatte einen geblümten, zerknitterten Rock an. Sie saß auf dem Beifahrersitz, Anna schlief auf der Rückbank, den Kopf an ihren Rucksack gelehnt, den Arm über dem Gesicht. Der Rumäne fuhr. Seitdem sie die italienische Grenze überquert hatten, sprach er italienisch. Schien ein anderer zu sein. Sagte, weißt du, was Sahne heißt auf italienisch, Alice sagte, sie wisse es nicht. Warum gerade – Sahne? Unverständlich.
Und umgekehrt – vom Italienischen ins Deutsche, macchiato? Latte macchiato?
Ich weiß es nicht, sagte Alice, hörst du nicht, ich weiß es auch umgekehrt nicht.
Befleckte Milch, sagte der Rumäne. Befleckte Milch.
Sie nahmen die Autobahnabfahrt Rovereto Sud. Weiter Richtung Riva, noch dreißig Kilometer bis Gargnano Bogliaco. Dann gingen die Berge auf und gaben den Blick auf den See frei. Sehr prächtig. Dunkelblau. Unzählige weiße Segel, eine Flottille. Die Hitze nahm zu, und es wurde gleichzeitig kühler, man brauchte nur aufs Wasser zu sehen. Das Wasser ist eiskalt, Bergsee eben, sagte der Rumäne, der schon mal hier gewesen war, frosta oder was, sagte Alice gereizt, na so ungefähr, sagte der Rumäne, lachte in sich hinein. Er hielt auch das Lenkrad anders seit der italienischen Grenze, lässiger, nur noch mit der Linken, lenkte jetzt nur mit der Linken in einen Tunnel rein, dessen Schwärze Alice so lange den Atem verschlug, bis sie begriff, daß sie die Sonnenbrille abnehmen mußte. Anna hinten auf der Rückbank wachte auf. Sie glitten wieder raus aus dem Tunnel, rechts Zypressen, links der See, blendendes Licht und extrem scharfe Konturen, dann der nächste Tunnel, paß mal auf deine Pupillen auf, sagte Alice zu Anna, drehte sich um dabei und spürte, wie verschwitzt sie war. Ein Wahnsinn, sagte Anna, und wir müssen sofort anhalten, mir ist absolut schlecht.
Sie hielten hinter einer Kurve. Anna und Alice standen nebeneinander an einer steinernen Brüstung und sahen über das Wasser, dunstig weiter hinten, das andere Ufer war gar nicht zu erkennen. Palmen. Zitronenbäume. Die Berge düster. Es gab überhaupt nur die Berge, dann die Straße, dann das Wasser, eigentlich keine Landschaft, wenig Raum für Menschen, eng und weit zugleich.
Findest du das schön, sagte Anna.
Ich weiß nicht, sagte Alice. Wahrscheinlich ist es sehr schön. Oder?
Der Rumäne, irgendwo hinter ihnen, drückte auf den Auslöser seiner Kamera. Sie konnten das hören. Panorama: Anna und Alice am See.
Also, sagte Alice, jetzt mußt du aufpassen, ich glaube, wir sind gleich da. Attenzione, capito?
Fünf Uhr am Nachmittag auf der Straße zwischen Gargnano Bogliaco und Toscolano-Maderno. Dieses kleine Auto, mal von oben gesehen auf der Straße am Ufer des Sees entlang, und Anna hinten, und der Rumäne und Alice vorn, und das Gepäck im Kofferraum, und die auf dem Boden herumrollenden Wasserflaschen und der Aschenbecher voller Kippen, Papier von Eis und Folie von Zigarettenschachteln, eine Aufregung jetzt, die sie alle drei überkam, offene Fenster, Anna hielt die Hand raus in den Fahrtwind, und Alice rief: Rechts! Jetzt rechts abbiegen, da vorne rechts auf dieses Ristorante zu, rechts dran vorbei, ja, ganz genau richtig, gleich sind wir da.
Nach fünfzig Metern, hatte Conrad geschrieben, treffen sich fünf Wege. Ihr nehmt den Weg durch das schmiedeeiserne Tor hindurch, den »Fünften«. Auf das gelbe Haus zu.
Der fünfte Weg war ein Sandweg. Links ein kleiner Wasserlauf, ein Olivenhain, zwischen den Bäumen Ziegen, die gelangweilt die Köpfe hoben. Das Auto schaukelte. In der Kurve oben am Hang ein alter großer Stall, ausgebaut, hohe Fenster zum See hin, die Läden zugezogen. Vor ihnen, am Ende des Weges, das gelbe Haus. Italienischer Palazzo. Geschlossene Läden. Efeu. Zwei Balkone, einer zum Berg hin, der andere zum See. Eine Terrasse, Feigenbäume, Agaven, Bougainvillea. Man kann ja Tatsache die Zikaden hören, sagte Anna von der Rückbank aus, andächtiges Staunen in der Stimme. Sie stiegen aus dem Auto, ließen die Türen offenstehen, gingen sofort auseinander.
Alice lief den Sandweg zurück und rauf zu Conrads und Lottes Haus. Steinchen in den Sandalen. Sie sah zu dem schwarzen Berg hinter dem Haus hoch und duckte sich. Stieg über breite Stufen zwischen riesigen, tropischen Lavendelbüschen hindurch. Feuerkäfer, leuchtend rot, die Leibchen aneinandergekettet. Hatten es eilig. Und Rauschen in den Bäumen, leichter Wind. Auf der Terrasse saß Lotte. Die Terrasse war, bis auf eine Kugel aus grauem Stein und dem Stuhl, auf dem sie saß, leer. Im unteren Teil des Hauses drei Türen, zwei geschlossen, die mittlere einen Spalt offen. Lotte stand auf, als Alice die Terrasse betrat, kam ihr entgegen, und sie begrüßten sich mit einer tastenden Umarmung, so vorsichtig, als könnte die andere sich bei einer Berührung in Luft auflösen.
Da bist du, sagte Lotte. Sie lächelte und hörte wieder auf zu lächeln, wenn sie nicht lächelte, waren die Falten um ihre Augen herum weiß. Lotte war siebzig Jahre alt. Conrad auch. Über ein Vierteljahrhundert älter als Alice. Ist alles gutgegangen, sagte Lotte. Hattet ihr eine gute Reise. Sie stellte Fragen im Ton von Feststellungen, erwartete aber trotzdem eine Antwort.
Ja, sagte Alice. Es ist alles gutgegangen. Es war anstrengend. Aber jetzt sind wir da, und wir freuen uns, Lotte, ich freue mich sehr.
Lotte sagte, Conrad ist krank. Er ist leider krank, nichts Schlimmes, nur ein wenig Fieber, aber er liegt im Bett.
Sie deutete auf die mittlere Tür, hinter der Tür war es dunkel, es drang kein Laut heraus.
Er will nicht, daß du ihn so begrüßt, im Bett liegend, er möchte das nicht. Er kommt später zu euch, Lotte lächelte wieder, es sah nach etwas zwischen Ironie und Traurigkeit aus. Sie war braun von der italienischen Sonne, trug ein Kleid aus Leinen, nicht zerknittert, blaßviolett und leicht, akkurater Faltenwurf, und eine Kette aus silbrigen, glatten Steinen dazu. Sie sah so ausgeruht aus, so ordentlich, Alice dachte an alle Autobahn-Raststätten der vergangenen zehn Stunden, an die Radiomusik in den Waschräumen, den Geruch von Urin und Desinfektionsmittel, die kaputten Seifenspender, an ihr eigenes, mitgenommenes Gesicht in einem Spiegel aus zerkratztem Blech. Sie war froh darüber, daß sie Conrad jetzt nicht begrüßen mußten; er konnte sich seine Vorstellung von ihrer Ankunft erhalten: ein Bild von einer Ankunft.
Komm, sagte Lotte weich. Ich schließe euch das gelbe Haus auf.
Sie hielt ein kleines Paar Schlüssel hoch, das sie die ganze Zeit über wohl schon in der Hand gehabt hatte, sie hatte mit den Schlüsseln in der Hand auf der Terrasse gesessen und auf sie gewartet, und Alice dachte, daß es Conrad gewesen war, der sie eingeladen hatte. Es war seine Einladung gewesen, er hatte diese Einladung mit Lotte sicher abgesprochen, aber es war seine Idee gewesen. Komm uns besuchen und bring mit, wen du willst. Alice hatte sich für Anna entschieden, ohne Anna wollte sie nirgendwo hin. Und für den Rumänen, weil er immer höflich war und sich benehmen konnte. Vielleicht auch, weil sie nicht in ihn verliebt war. Soweit sie wußte, war auch Anna nicht in den Rumänen verliebt. Sie hatte das Conrad so vorgeschlagen, er war einverstanden gewesen. Und jetzt war er krank. Fieber. Er hätte ihnen das gelbe Haus aufgeschlossen und gezeigt. Es wäre ihm, das wußte Alice, eine große Freude gewesen. Sie folgte Lotte die Treppen hinunter, Lottes langsamen, gemessenen Schritten. Drehte sich nicht noch einmal nach der mittleren Tür um. Die Feuerkäfer flitzten davon, verschwanden in den Fugen der Steine.
Das gelbe Haus hatte drei Stockwerke und sechs Zimmer. Alice nahm das Zimmer unter dem Dach, das Zimmer, in dem früher Conrad gewohnt hatte, bevor er mit Lotte die Stalla ausgebaut hatte. Das Zimmer war quadratisch, zwei Fenster zu zwei Seiten, ein schmales Bett darin, ein Schrank, ein roter Teppich mit schwarzem Webmuster und genau in der Mitte ein Tisch, von dem aus Alice die Gipfel der Berge sehen konnte auf der anderen Seite des Sees. Anna nahm das Zimmer daneben. Feigenblätter auf der Decke über dem breiten Bett und eine Tür zum zweiten Balkon und eine andere zu einem Bad mit Badewanne, glanzvollen Armaturen, blauen Kacheln und zwei Waschbecken vor zwei Spiegeln. Eine Treppe nach unten in den zweiten Stock, ohne Geländer, eine goldene Kordel an der Wand, die weich durch Alices Hand glitt. Bettwäsche, gestärkt und gebügelt in der Truhe unter der Treppe. Der Rumäne hatte sich das kleinste Zimmer ausgesucht. Das Fenster beschattet von Efeu, ein Metallbett und ein Tischchen daneben, poliertes Holz, feine Intarsien. Im Erdgeschoß die Küche, ein Eßzimmer, ein Wohnzimmer, tiefe Sofas vor dem Kamin und im Bücherregal Spiele für Regenzeiten, Monopoly, Mensch ärgere dich nicht, Schach. An den Wänden die gerahmten Zeichnungen der Kinder. Lottes und Conrads Kinder, drei. Und die Zeichnungen der Enkelkinder, fünf. Ein Gästebuch neben dem Telefon. In der großen Speisekammer hinter der Küche ein Kühlschrank, in den Conrad am Tag zuvor eine Wassermelone gelegt hatte. Alice ging von Zimmer zu Zimmer und stieß alle Fensterläden auf, dann...