Verstehen, was wir beten
E-Book, Deutsch, 149 Seiten
ISBN: 978-3-7615-6447-9
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Geschrieben in dem allgemeinverständlichen und unterhaltsamen Stil, der schon sein vorheriges Buch auszeichnete, und der sich gleichwohl der biblisch-reformatorischen Theologie verpflichtet weiß.
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II. „Vater“
Mehr Vertrauen geht nicht
Wie bei Opas altem Diaprojektor „Schon hier hört es bei mir auf.“ Erschrocken blickt die Runde auf die junge Frau mir gegenüber. Wir befinden uns in einem Gesprächskreis, der sich monatlich um Themen des Glaubens und Lebens trifft. Heute Abend geht es um den Anfang des Vaterunsers: Vater unser … „Schon hier hört es bei mir auf.“ Die junge Frau erzählt von ihren Schwierigkeiten, sich Gott als Vater vorzustellen. Das hänge mit bestimmten Erfahrungen ihrer Kindheit zusammen. Ihr Vater sei ein regelrechter Tyrann gewesen. Oft sei er angetrunken nach Hause gekommen und habe sie und ihre Schwester grundlos verprügelt. „Und dann gab es da noch die Nächte, wenn er in unser Schlafzimmer kam …“ Sie bricht ab. Ein paar Tränen rinnen ihr über das Gesicht. Die Frau neben ihr nimmt sie in den Arm. Wir anderen unterbrechen das Gespräch für eine Weile. Es gibt nicht wenige Menschen, die beim Beten des Vaterunsers bereits mit der Anrede Gottes ihre Probleme haben. Immerhin bezeichnet „Vater“ ja eine bestimmte Person, mit der jeder Mensch seine ganz eigenen Erfahrungen gemacht hat. Wenn nun Gott im Vaterunser als „Vater“ angeredet wird, scheint es leicht nachvollziehbar, dass manche Menschen ihre Vatererfahrungen eben auch auf Gott übertragen: Habe ich gute Erfahrungen mit meinem eigenen Vater gemacht, dann fällt es mir nicht schwer, nun auch Gott mit „Vater“ anzusprechen. Habe ich schlechte Erfahrungen gemacht, dann kann ich da eben eventuell schnell ins Stolpern geraten. Man kann sich das wie eine Art „Projektion“ vorstellen, wenn man sich noch an Opas alten Diaprojektor erinnert. Das „Dia“ meiner eigenen Vatererfahrung wird nun auf die große „Leinwand“ meiner Gottesvorstellung projiziert. Das Problem dabei ist nur: Auf der Leinwand ist nie mehr und grundsätzlich nie etwas anderes zu sehen als das, was auf dem Dia in meinem Kopf bereits vorhanden ist. Aus Sicht des Glaubens ist das insofern schade oder manchmal sogar gefährlich, weil ich – gefangen in meiner eigenen Vatererfahrung – kaum mehr in der Lage bin, auch einmal eine neue Erfahrung mit Gott als „Vater“ zu machen. In der Bibel wird dieser problematische Vorgang häufig thematisiert, dort allerdings nicht „Projektion“, sondern „Bilder machen“ genannt. „Du sollst dir kein Bildnis machen …“ heißt es beispielsweise bereits in den Zehn Geboten (2. Mose 20,4). Warum? Weil Bilder – neben aller Anschaulichkeit, die sicher nützlich seinkann – immer auch die Gefahr der Einengung, der Verfügung, ja der Beherrschung meines Gegenübers bedeuten können. Eine Gefahr, die wir aus dem zwischenmenschlichen Bereich gut kennen. Wie ich mit einer Frau, einem Mann, einem Kind, einem Italiener, einem Menschen mit einer Behinderung oder einer anderen Hautfarbe umgehe, hängt häufig zuhöchst eben von dem „Bild“ ab, das ich zuvor von einer Frau, einem Mann, einem Kind, einem Italiener, einem Menschen mit einer Behinderung oder einer anderen Hautfarbe in meinem Kopf gespeichert habe. Dieses Bild in meinem Kopf mag seine verschiedenen Ursachen haben. Es ist aber oft genug auch ein Hindernis, mich dem konkreten Menschen vor mir ohne Vorbehalt zuzuwenden. Der Schriftsteller Max Frisch hat diesen Vorgang mit geradezu religiösem Pathos gegeißelt: „Es ist eine Versündigung, die wir fast ohne Unterlass begehen.“ Und die Theologin Dorothee Sölle spricht in dem Zusammenhang sogar von einem „Begräbnis“. Indem ich mir ein Bild von meinem Gegenüber mache, „begrabe“ ich gewissermaßen seine Möglichkeit, auch „ganz anders“ sein zu können. Die Bibel kritisiert solche „Versündigung“ des Bildermachens vor allem im Hinblick auf Gott. Sich von ihm ein Bild machen, hieße ja: sich ihn nach den eigenen Vorstellungen zurechtbasteln. Ihn nur das sein lassen, was unsere menschlichen Erfahrungen hergeben. Hieße: Gott letztlich in unsere Verfügung bekommen. Hieße: Gottes Möglichkeit, auch „ganz anders“ sein zu können – mit Sölle zu spre-chen –, zu „begraben“. Die Bibel jedenfalls verurteilt diese Art des Bildermachens von Gott mit überaus beißendem Spott: „Ihre Götzen aber sind Silber und Gold, von Menschenhänden gemacht. Sie haben Mäuler und reden nicht, sie haben Augen und sehen nicht, sie haben Ohren und hören nicht, sie haben Nasen und riechen nicht, sie haben Hände und greifen nicht, Füße haben sie und gehen nicht, und kein Laut kommt aus ihrer Kehle.“ (Psalm 115,4-7) Wo Gott in ein von Menschen gemachtes Bild gezwängt wird, ist er nicht mehr der Freie und Lebendige, sondern allenfalls noch ein toter Götze. Nun kann man fragen: Aber ist nicht die Anrede „Vater“ genauso ein menschliches Bild von Gott? Und zwar eins, das uns doch immerhin von Jesus selbst in den Mund gelegt wird. Und weiter: Bietet uns die Bibel nicht an anderen Stellen zahllose weitere menschliche Bilder von Gott an: etwa „Hirte“ (Psalm 23,1), „Freund“ (2. Mose 33,11), „Arzt“ (2. Mose 15,26), „Richter“ (Psalm 50,6) oder auch „Mutter“ (Jesaja 66,13), um nur einige zu nennen? Doch genau diese Vielfalt biblischer Gottes„bilder“ sollte uns aufmerken lassen. Es wird seinen Grund haben, dass die Bibel Gott nicht in einem einzigen Bild festlegt. Die verschiedenen Bilder sind offenbar dazu da, je nach Situation ganz verschiedene Seiten Gottes zum Sprechen zu bringen. Gott selbst entzieht sich immer wieder allen menschlichen Festlegungen. Er bleibt der Freie, der Lebendige und Souveräne. Deshalb beginnt der erwähnte Spottpsalm mit den Worten: „Unser Gott ist im Himmel; er kann schaffen, was er will“ (Psalm 115,3). Man tut also gut daran, die biblischen Gottes„bilder“ nicht gleich von seinen eigenen Erfahrungen her zu deuten, sondern von dem her, was diese Bilder von sich aus über Gott sagen wollen. Dazu ist es nötig, immer wieder ein wenig Abstand von sich selbst zu gewinnen. Auch von den – so oder so gemachten – guten oder schlechten Vatererfahrungen. Der Theologe Karl Barth hat deshalb an dieser Stelle gemeint, dass man den „Diaprojektor“ am Ende gewissermaßen umdrehen müsse. Gottes Vatersein bestimme sich nicht nach Maßgabe menschlicher Vatererfahrungen. Es sei vielmehr genau umgekehrt: Gottes ursprüngliches und eigentliches Vatersein sei das „Urbild“, an dem sich dann alle menschliche Vaterschaft zu orientieren habe. In letzter Zeit ist ja immer wieder von den sogenannten „neuen Vätern“ die Rede. Von Männern, die „anders“ mit ihren Kindern umgehen wollen und sollen, als sie das vielleicht selber bei ihren eigenen Vätern erlebt haben. Hier beim „Vater“ des Vaterunsers hätten sie einen Ansatzpunkt zur Umorientierung.
„Abba“ Wir erinnern uns: Das Wort „Vater“ ist eine Übersetzung des entsprechenden Wortes im griechischen Urtext des Neuen Testaments. Und auch dieser Urtext ist ja nur eine spätere Verschriftlichung dessen, was einmal – etwa eine Generation vorher – von Jesus selbst gesprochen worden war, und zwar in seiner Muttersprache, dem Aramäischen. In dieser seiner Muttersprache hat Jesus – darin sind sich die Forscher sehr einig – mit hoher Wahrscheinlichkeit für „Vater“ das aramäische Wort „Abba“ benutzt. Wenn wir dieses Wort einmal laut aussprechen, merken wir rasch, dass es allein seinem Klang nach einen ganz anderen Ton anschlägt als das herbere „Vater“ bzw. „pater“. „Abba“ – das klingt ja fast wie „Papa“. In diesen beiden schlichten Silben liegt alle kindliche Zärtlichkeit. Liegt ein großes Vertrauen, eine große Nähe. Wie viele verletzte Kinderseelen haben sich nicht schon in dieses warme Wort hinein bergen können: „Papa“. Und alles wird gut. Es ist schon sehr auffallend, dass Jesus Gott sehr häufig mit „Vater“ bzw. auch mit „mein Vater“, d. h. in seiner Sprache mit „Abba“ anredet. Die wohl bekannteste Stelle finden wir in der...