Herbst / Butkus Siesta
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86532-291-3
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stories 1
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-86532-291-3
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hans Herbst wurde 1941 in St. Pauli/Hamburg geboren. Nach einer Lehre als Autoschlosser reiste er durch Europa, später nach Mexiko, Nordamerika, Brasilien und in die Karibik. Erste Texte entstanden 1979. Hans Herbst hat zahlreiche Stories, Reportagen und einen Roman veröffentlicht. Er lebt als Autor und Musiker in Hamburg. www.hansherbst.de
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Tagsüber
Krebs ging die Straße runter, weil er nichts anderes zu tun hatte. Es war kalt, und er schwitzte. Als er die beiden Bullen sah, wurde ihm übel, und er ging auf die andere Straßenseite. Die Bullen gingen auch auf die andere Straßenseite und genau auf ihn zu. Er konnte das nicht aushalten und ging wieder zurück. Die Bullen grinsten zu ihm rüber, und einer sagte: »Fall nicht hin.«
Krebs sagte: »Heute noch nicht.«
Sie waren beide in Zivil. Krebs hatte mal mit ihnen zu tun gehabt. Er ging langsam die Straße runter und fühlte den Schweiß unter seinen Achseln, kalt und klebrig.
Er sah die Frau, gerade als sie in ihren Wagen stieg. Eine große, schöne Frau mit kräftigen Schultern, geradem Rücken und einem prächtigen Arsch, der nicht zu groß war, und endlos langen Beinen, die in Stiefeln steckten. In diesem Rolls durch die Stadt kutschieren! Sie sitzt neben ihm, er fährt. Er legt ihr seine linke Hand in den Nacken, arbeitet sich durch das dichte schwarze Haar, streichelt sanft den Nacken rauf und runter und lässt seine Finger spielen. Sie lehnt sich gegen seine Hand, lächelt und reibt sich mit geschlossenen Augen an seiner Hand wie eine Katze. Durch die Hand, den Arm, geht ein warmes Gefühl in ihn rein, runter bis zum Magen und wieder rauf in seinen Kopf, und er sagt, mit breitem Lächeln und voller Freude: »Ich liebe dich.« Sie wirft sich auf seine Schenkel, presst ihr Gesicht in seinen Schoß, drückt sich an ihn und sagt: »Du bist ein Verrückter, du bist durch und durch verrückt.« Dabei lacht sie, und er spürt ihren warmen Atem. Das Radio ist an, AFN bringt Parker. Krebs ist glücklich und greift sich die flache Flasche mit dem Calvados. »Nächste Woche sind wir in Amerika«, sagt er, »und wir werden uns mit Musik vollpumpen und in großen Hotelbetten liegen, und ich werde einfach in dich reinkriechen und von drinnen nach Champagner schreien.« Er drückt ihren Kopf in seinen Schoß, und sie lacht und beißt ihn und sagt: »Ich liebe dich.«
Als Krebs bei dem Gedanken angekommen war, sah er Massel. Der schräge Gang war nicht zu verkennen, genauso wie der Eierkopf und die dicke Brille. Massel hielt genau auf ihn zu, und Krebs sah überhaupt keine Fluchtmöglichkeit. Er rannte genau in ihn rein. Massel sah aus, als hätte jemand Zentnerschweres auf seinem Gesicht gesessen und dabei Zement gepupt. Zur Begrüßung sagte er: »Mann, ist das kalt.«
Krebs sagte: »Ja.«
Sie gingen zusammen die Straße runter, und der Eierkopf wackelte, die dicke Brille blinkte, und die bläulichen Lippen gaben eine saure Fahne frei, die Krebs, als sie ihn genau ins Gesicht traf, exakten Aufschluss über Massels Fressen und Saufen der letzten drei Tage gab. Er sagte: »Dir geht’s nicht schlecht, was?«
Massel erwiderte schlicht: »Ich war eingeladen.«
Krebs war ehrlich erstaunt. »Wer lädt denn dich ein?«
Ohne besondere Betonung sagte Massel: »Ein alter, blinder Schwuler, der gerade seine Rente abgeholt hatte.«
Krebs schluckte. »Du wirst es noch zu was bringen«, meinte er vorsichtig.
Sie überquerten den Fluss, und Krebs merkte, dass er dringend etwas zu trinken brauchte. Vor einem großen Haus blieben sie stehen, und Krebs zeigte nach oben. »Im dritten Stock läuft ’ne Festivität. Ich bin eingeladen und soll ’nen Kum pel mitbringen. Jede Menge Weiber da. Und reichlich zu fressen.« Er drückte auf einen Klingelknopf, und als der elektrische Öffner die Tür freigab, schob er Massel rein. »Sag denen, ich komm’ gleich, will mir nur schnell ’n bisschen Shit besorgen.«
»Okay«, sagte Massel und trabte los.
Krebs nahm eine Taxe. Die Wärme in dem Wagen stimmte ihn hoffnungsvoll. Sie hielten vor einem Haus, das die Würde einer in Ehren zerbeulten Mülltonne ausstrahlte, und Krebs kletterte durch verschiedene Geruchsschichten in den vierten Stock, machte eine Tür auf und sagte: »Morgen.«
Jemand plärrte: »Mach die Tür zu!« Es klang nach Panik.
Krebs ließ die Tür offen und trat in den Raum. »Ich bin der Geist von Foremans linker Hand«, erklärte er würdevoll, »also Vorsicht.«
Eine Frau mit rotem Haar und einem chinesischen Morgenrock trat auf ihn zu und sagte pikiert: »Wie siehst du denn aus? Nicht gepennt?«
»Ich war mit Massel«, antwortete er ohne Pathos.
»Das ist ’ne Erklärung!« Die Frau lachte. »Das ist wirklich ’ne Erklärung.«
»Ich finde das verdammt unfair, wie ihr mit Massel umgeht«, plärrte ein kleines graues Mädchen. Es saß ganz in die Ecke gedrückt, trug einen dicken Pullover und kratzte sich.
So was könnte Massels Pup-Partnerin sein, dachte Krebs.
»Ihr bildet euch wohl ein, ihr seid was Besseres, beschissen finde ich das, Massel ist ein verdammt netter Junge, der viel Liebe braucht und keiner Fliege was zuleide tut.« Das Mädchen hatte sich in Eifer geredet, und das graue Gesicht wies ein paar hektische Flecken auf.
»Dann lass dich doch mal von ihm vögeln und drück ihm seine Pickel aus«, sagte Krebs.
»Aber mit ’ner Zange«, grölte jemand aus dem anderen Zimmer, und Krebs dachte Gott sei Dank und ging schnell nach nebenan.
In einem dicken Sessel saß der Amerikaner und kramte gerade eine kurze Pfeife aus seinem Bart. Er war barfuß und hielt Krebs die Pfeife hin. »Kräftig saugen, Cancer«, grunzte er, »schmeckt wie Pussy.«
Krebs saugte und lutschte und schnupperte an der Pfeife.
»Stimmt«, sagte er und hatte einen schweren Verdacht.
Der Amerikaner grinste. »Ich wusste, dass du ein Gourmet bist, Cancer, mit dir kann man getrost die kleinen Freuden des Alltags teilen. Das Ding hat gerade eben in einer schönen roten Pussy gesteckt. Verfeinert den Geschmack.«
Krebs grinste glücklich und saugte kräftig an der Pfeife. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er gerührt. Von nebenan kam Gekicher. Das Haschisch trocknete ihm den Mund aus, und Krebs bekam Durst. »Ich hab Durst«, sagte er.
»Es ist noch was Milch im Eisschrank«, plärrte die Graue von nebenan.
Krebs zuckte zusammen. »Wie heißt die eigentlich?«, fragte er.
Der Amerikaner guckte die Decke an und seufzte. »Die tote Traute.«
»Schöner Name«, sagte Krebs und griff dankbar die Calvadosflasche, welche die Rothaarige reinbrachte. »Auf ewige Jugend!« Er nahm einen einzigen Schluck. Er wusste, dass mehr ihn umhauen würde, Alkohol und Haschisch vertragen sich nicht, er hatte da ein paar überflüssige Erfah rungen. Aber er liebte das Gefühl, wenn der Stoff durch die Kehle lief, um dann sanft im Magen zu explodieren. Eigent lich wollte ich nur was trinken, dachte er, und jetzt bin ich schon wieder vollgedröhnt. Am frühen Nachmittag. Auch gut.
»Mir fällt gleich der Himmel auf den Kopf«, stöhnte der Amerikaner und befreite Krebs von seinen Selbstbetrachtungen. »Und immer, wenn mir der Himmel auf den Kopf fällt, krieg’ ich ’n Ständer.« Er zog die Rothaarige auf seinen Schoß.
»Du stinkst«, sagte die Rothaarige.
»Klar«, sagte der Amerikaner freundlich, »nach dir.«
Die Frau lachte und setzte sich rittlings auf ihn, das Gesicht ihm zugewandt. Krebs konnte nur ihren Rücken sehen. Er wusste, dass sie unter ihrem Rock nichts anhatte. Der Amerikaner zog in aller Ruhe seinen Hosenschlitz auf.
Die Rothaarige hob sich ein wenig und brachte alles in die richtige Stellung. Dann ließ sie sich sanft wieder runtergleiten. »Der ist drin«, sagte sie.
»Und ob«, grunzte der Amerikaner und legte den Kopf zurück. Er verhielt sich passiv und überließ alles der Frau.
Krebs sah ihren Rücken und ihre langsamen, kreisenden Bewegungen. Ihm taten die Eier weh. Vielleicht können wir ’ne Triole machen, dachte er, aber er verwarf den Gedanken sofort wieder und langte nach der Calvadosflasche. Auf dem Plattenspieler rotierte eine abgelaufene Platte. Krebs ging hin und legte die Nadel auf Anfang. Art Blakeys Drum Suite, The Sacrifice. Fünf melodische Paukenschläge als Einleitung für den Gesang des Zauberers, der Sänger wiederholt die fünf Töne, singt in Suaheli, erzählt von zwei Burschen, die den Krokodilen geopfert werden sollen. Die Menge antwortet ihm, und die Zeremonie nimmt ihren Lauf.
Krebs schloss die Augen und stellte sich vor, wie die Kroko dile zuschnappten. Vor allem schloss er die Augen, weil er den kreisenden Arsch der Frau nicht sehen wollte. Der Zauberer annoncierte »Mumba«, den Tod der beiden. Krebs sang die Worte mit, er kannte genau die Stelle, wo Candido Cameros Conga einsetzte. Es rüttelte ihn jedes Mal schockartig durch, und er spürte die Kraft, die diesen großen, glatzköpfigen Neger antrieb, einen Rhythmus aus einer einfachen Holztrommel herauszuprügeln, der alles mit sich fortreißt und einem keine Zeit mehr zum Denken lässt, ein gewaltiger Elefant, der in irrem Tempo durch den Wald jagt und durch nichts und niemanden aufgehalten werden kann und dem sich die anderen nur anschließen können, um mit ihm zu rennen, zu brüllen und zu toben. Art Blakey, Jo Jones, Charles Wright, Sabu Martinez, mächtige Zau berer, deren Trommeln selbst einen Weißen in den Bann ihrer Magie treiben können und ihn mitreißen, mitnehmen auf ihren Höllentrip zu Ehren dieser widerlichen, schmutziggrünen Ungeheuer, die ihre Zähne in die schreienden Opfer schlagen und sie auf den Grund des stinkenden Flusses ziehen, gnädig gestimmt jetzt, und die Trommeln toben ein Schwarzes Halleluja und feiern den glücklichen Verlauf der Zeremonie mit einem jubelnden Finale, wobei sich alle noch verbliebene Kraft der Trommler in einem letzten gewaltigen Schrei konzentriert, in den sich ein fürchterliches Gebrüll mischte, so dass Krebs erschrocken die Augen aufriss. Er brauchte eine Weile, um...




