E-Book, Deutsch, 1452 Seiten
Herbert Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-406-70842-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 1452 Seiten
ISBN: 978-3-406-70842-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrich Herbert ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau und einer der bekanntesten deutschen Zeithistoriker. 2014 wurde er mit dem Bayerischen Buchpreis in der Kategorie "Sachbuch" ausgezeichnet.
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Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Zum Buch;1452
4;Über den Autor;1452
5;Impressum;4
6;Widmung;5
7;Inhalt;7
8;Vorwort;11
9;Einleitung;15
10;Erster Teil: 1870 bis 1918;23
10.1;1. Deutschland um 1900: Der Fortschritt und seine Kosten;25
10.1.1;Wirtschaftlicher Aufstieg;26
10.1.2;Die Neuerfindung der Welt;30
10.1.3;Gesellschaftliche Wandlungsdynamik;34
10.1.4;Fortschrittsbegeisterung und Orientierungskrise;42
10.1.5;Radikale Antworten auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft;55
10.2;2. Das Neue Reich;69
10.2.1;Das Erbe Bismarcks;69
10.2.2;Ende der liberalen Ära;74
10.2.3;Neuer Kurs;80
10.2.4;Reich und Weltreich;82
10.2.5;Flottenbau und «Weltpolitik»;90
10.2.6;Stabile Krise;95
10.2.7;Radikaler Nationalismus;102
10.2.8;Vor dem Krieg;106
10.3;3. Die Macht des Krieges;117
10.3.1;Kriegsbeginn;117
10.3.2;Geist und Ideen von 1914;121
10.3.3;Abnutzungskrieg;130
10.3.4;Kriegswirtschaft;135
10.3.5;Innenpolitische Konfrontation;146
10.3.6;Auswirkungen der Oktoberrevolution;155
10.3.7;Märzoffensive und Zusammenbruch;161
10.3.8;Der Erste Weltkrieg in der deutschen Geschichte;170
11;Zweiter Teil: 1919 bis 1933;175
11.1;4. Revolution und Republik;177
11.1.1;Revolution und konstitutionelle Bewegung;177
11.1.2;Aufstand von links;186
11.1.3;Versailles und die Folgen;189
11.1.4;Kapp-Putsch und Ruhrkrieg;195
11.1.5;Reparationen und Erfüllungspolitik;199
11.1.6;Verkehrte Welt;201
11.1.7;Die totale Krise;207
11.1.8;Prekäre Stabilisierung;213
11.2;5. Deutschland um 1926: Zwischen Krieg und Krise;223
11.2.1;Wirtschaft zwischen den Krisen;223
11.2.2;Sozialpolitische Steuerungsversuche;230
11.2.3;Klassen, Geschlechter, Generationen;234
11.2.4;Kultur der Großstadt;244
11.2.5;Kritik und Gegenentwürfe;251
11.2.6;Zukunftsperspektiven;256
11.3;6. Die Zerstörung der Republik;259
11.3.1;Krise des Parlamentarismus;259
11.3.2;Weltwirtschaftskrise;262
11.3.3;Die radikale Linke;267
11.3.4;Die radikale Rechte;270
11.3.5;Der Aufstieg der NSDAP und die Entmachtung des Parlaments;280
11.3.6;Varianten der Diktatur;290
11.3.7;Entscheidung für Hitler;296
12;Dritter Teil: 1933 bis 1945;303
12.1;7. Die Dynamik der Gewalt;305
12.1.1;«Machtergreifung»;305
12.1.2;Sicherung der Diktatur;319
12.1.3;Politik gegen die Juden;324
12.1.4;Funktionswandel des Terrors;334
12.1.5;Rüstungsboom und Arbeitsschlacht;341
12.1.6;Aufrüstung und Außenpolitik;349
12.1.7;Arbeiter, Bauern, Bürger;358
12.1.8;Kriegskurs;369
12.1.9;Kristallnacht;379
12.1.10;Am Vorabend des Krieges;387
12.2;8. Die Zerstörung Europas;393
12.2.1;Besatzungspolitik;395
12.2.2;Polnische Juden;401
12.2.3;Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz;406
12.2.4;«Euthanasie»;413
12.2.5;Hegemonie;420
12.2.6;Kriegsplanungen;428
12.2.7;Barbarossa;435
12.2.8;Umsteuerung auf den langen Krieg;446
12.3;9. Deutschland um 1942: Völkermord und Volksgemeinschaft;455
12.3.1;Helene Holzman;455
12.3.2;Vergeltung;458
12.3.3;Endlösung;467
12.3.4;Zwangsarbeit;487
12.3.5;Volksgemeinschaft im Krieg;493
12.3.6;Volksstimmung und Massenkultur;504
12.4;10. Untergang;511
12.4.1;Rückzug;511
12.4.2;Terror und Totaler Krieg;516
12.4.3;Perspektiven des Widerstands;520
12.4.4;Krieg in Deutschland;532
12.4.5;Das Ende;538
12.4.6;Nach dem Dritten Reich;543
13;Vierter Teil: 1945 bis 1973;547
13.1;11. Nachkrieg;549
13.1.1;Stunde Null;549
13.1.2;Stunde der Alliierten;557
13.1.3;Umgestaltung;563
13.1.4;Politischer Neuaufbau;580
13.1.5;Kalter Krieg und deutsche Teilung;589
13.1.6;Sommer 1948;595
13.1.7;Vergangenheit und Zukunft;602
13.1.8;Zwei Staatsgründungen;607
13.2;12. Wiederaufbau in Westdeutschland;619
13.2.1;Wirtschaftswunder;619
13.2.2;Westintegration im Kalten Krieg;629
13.2.3;Innere Stabilisierung;645
13.2.4;Sozialpolitik;651
13.2.5;Reintegration der NS-Anhänger;657
13.2.6;Entschädigung der NS-Opfer;670
13.2.7;Gesellschaft in den fünfziger Jahren;676
13.2.8;Alltagskultur;682
13.2.9;Abendland und Sittlichkeit;690
13.3;13. Das sozialistische Experiment;699
13.3.1;Das kommunistische Projekt;699
13.3.2;Sowjetisierung;704
13.3.3;Vom 17. Juni zum 13. August;712
13.3.4;Sozialismus durch Wissenschaft und Technik;727
13.3.5;Prag und Bonn;738
13.3.6;Das Ende der Ära Ulbricht;743
13.4;14. Vorboten des Wandels;747
13.4.1;Deutschlandpolitik im Kalten Krieg;747
13.4.2;Krise und Kritik der Ära Adenauer;756
13.4.3;Vergangenheitsbewältigung;769
13.4.4;Das schnelle Ende der Regierung Erhard;777
13.5;15. Deutschland um 1965: Zwischen den Zeiten;783
13.5.1;Zwei Gesellschaften;783
13.5.2;Aufstieg und Unterschichtung;787
13.5.3;Euphorie der Modernität: Neues Bauen;791
13.5.4;Atom: Hoffnung dieser Zeit;799
13.5.5;Planungsoptimismus;805
13.5.6;Konsum und Populärkultur;809
13.5.7;In einem heimgesuchten Land;821
13.6;16. Reform und Revolte;835
13.6.1;Moderne Politik;835
13.6.2;Internationale Protestbewegung;841
13.6.3;Strukturmerkmale der Revolte;845
13.6.4;Emphase des Neuanfangs;865
13.6.5;Ostpolitik;867
13.6.6;Innere Reformen;876
13.6.7;Modell Deutschland;881
14;Fünfter Teil: 1973 bis 2000;885
14.1;17. Krise und Strukturwandel;887
14.1.1;Das Ende von Bretton Woods und die erste Ölpreiskrise;887
14.1.2;Strukturwandel;895
14.1.3;Gesellschaftlicher Wandel und zeitgenössische Deutung;903
14.1.4;Aporien der Industriegesellschaft;912
14.1.5;Terrorismus;923
14.1.6;Politik als Krisenmanagement;929
14.1.7;Alte und neue Fronten;933
14.1.8;Weltwirtschaftskrise und Weltwirtschaftspolitik;938
14.1.9;Das Ende der sozialliberalen Ära;946
14.2;18. Weltwirtschaft und nationale Politik;961
14.2.1;Globalisierung und nationale Wirtschaftspolitik;961
14.2.2;InnenpolitischeTransformationen;979
14.2.3;Von der Ausländerdebatte zur Asylkampagne;989
14.2.4;Politische Kultur der achtziger Jahre;996
14.2.5;Rückkehr der Geschichte;1010
14.2.6;Deutschland, die Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges;1022
14.2.7;Europäische Beschleunigung;1034
14.3;19. Aufschwung, Krise und Zerfall der DDR;1047
14.3.1;Die Hauptaufgabe;1047
14.3.2;Integration und Opposition;1057
14.3.3;Schuldenkrise;1073
14.3.4;Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung;1080
14.4;20. Deutschland um 1990: Zweierlei Vereinigung;1091
14.4.1;Erosion des Ostblocks;1093
14.4.2;Ein deutscher Herbst;1103
14.4.3;Demos und Ethnos;1114
14.4.4;Gipfeldiplomatie;1121
14.4.5;Die Einheit und ihre Kosten;1127
14.4.6;Die deutsche Einheit und die Europäische Union;1131
14.5;21. Neue Einheit;1137
14.5.1;Das Ende der Geschichte?;1137
14.5.2;Vereinigungskrise;1143
14.5.3;In der neuen Weltordnung;1158
14.5.4;Asylpolitik und multikulturelle Gesellschaft;1171
14.5.5;Maastricht;1180
14.5.6;Zwei Vergangenheiten;1193
14.6;22. Millennium;1207
14.6.1;New Economy;1207
14.6.2;Rot-Grün und der Krieg im Kosovo;1220
14.6.3;Dritte und Neue Wege;1231
14.6.4;Das Ende des 20. Jahrhunderts;1238
15;Anhang;1253
15.1;Anmerkungen;1255
15.2;Verzeichnis der Abkürzungen;1343
15.3;Quellen und Literatur;1349
15.4;Dank;1439
15.5;Personenindex;1441
Einleitung
Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist in zwei Epochen geteilt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die erste Hälfte war von Kriegen und Katastrophen gekennzeichnet, wie sie die Welt nie zuvor gesehen hatte. In ihrem Mittelpunkt stand Deutschland, mit dessen Namen seither die furchtbarsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verbunden sind. Die zweite Hälfte führte schließlich zu politischer Stabilität, zu Freiheit und Wohlstand, wie sie nach 1945 völlig unerreichbar schienen. Die Beschäftigung mit dem Problem, wie sich erste und zweite Hälfte des Jahrhunderts in Deutschland historisch zueinander verhalten, bildet den einen Argumentationsbogen dieses Buches. Wenn man für diese Epochenteilung ein symbolisches Datum nennen sollte, dann vielleicht den Sommer 1942, als mit dem Beginn der Aktion Reinhard die systematische Ermordung nahezu aller polnischen Juden begann und zugleich die Massendeportationen der Juden aus Westeuropa nach Auschwitz in Gang gesetzt wurden. Wie die Entwicklung in Deutschland von der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte des Landes um die Jahrhundertwende zu diesem Tiefpunkt führen konnte, ist die eine Frage. Wie die Deutschen in den folgenden sechzig Jahren aus dieser Apokalypse herausfanden, die zweite.
Gleichwohl, die Menschen wussten fünfzehn oder zwanzig Jahre zuvor nicht, was im Sommer 1942 geschehen würde, sie konnten es nicht einmal ahnen. Das gilt sogar für die Antisemiten und die zu dieser Zeit noch ziemlich wenigen Nationalsozialisten. Das begrenzt die Frage, «wie es dazu kommen konnte», und verweist auf die Offenheit des Geschehens, auf die Alternativen und die zahlreichen Nebenwege und Seitengassen der Geschichte. Noch im Juni 1914 war der Erste Weltkrieg abwendbar. Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 erzielten die Nationalsozialisten ganze 2,6 Prozent der Stimmen. Noch im Herbst 1939 war das Schicksal der europäischen Juden ungewiss. Wer nur nach der Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart oder der zeitlich je unterschiedlichen Gegenwarten fragt, folgt einer verborgenen Teleologie und blendet jene Entwicklungen aus, die abgebrochen wurden, die scheiterten oder im Sande verliefen.
Eine Zwangsläufigkeit enthält die Entwicklung zwischen der Jahrhundertwende und der Apokalypse des Massenmords nicht, obwohl die Kräfte, die dahin drängten, deutlich auszumachen sind. Aber ebenso wenig war nach 1945 der Wiederaufstieg zunächst des westlichen, dann des ganzen Deutschlands zu Freiheit und Wohlstand zwangsläufig. Dass ein wirtschaftlicher Aufschwung folgen konnte, war angesichts der industriellen Potentiale immerhin nicht ausgeschlossen, obwohl angesichts der Zerstörungen bei Kriegsende nur wenige daran glaubten. Aber dass es noch einmal gelingen konnte, in diesem Volk und seiner Führung den Sinn für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde zu wecken, und diese auch dauerhaft umzusetzen, schien doch nahezu ausgeschlossen. Die langsame Verwandlung von einer nationalsozialistisch geprägten in eine zunehmend westlichliberale Gesellschaft, wie wir sie in der Bundesrepublik verfolgen können, ist eine der bemerkenswertesten Entwicklungen in diesem Jahrhundert, und zwar umso mehr, je klarer das tatsächliche Ausmaß der Belastung durch die personellen und mentalen Hinterlassenschaften der NS-Diktatur vor Augen tritt.
Die zweite Hälfte des Jahrhunderts war wiederum geteilt, wenngleich auf andere Weise, mit der Folge, dass die Menschen im östlichen Teil Deutschlands erst am Ende des Jahrhunderts Gelegenheit bekamen, an der Freiheit und dem Wohlstand der Westdeutschen teilzuhaben. Den Menschen im Westen erging es nach 1945 viel besser als jenen im Osten, wenngleich nicht aus eigenem Verdienst, sondern durch die Launen des Schicksals und der Besatzungsmächte; und bald schien es, als hätten die Deutschen im Osten die Folgen des Krieges alleine zu tragen. Dabei war die Geschichte der DDR nicht weniger, sondern eher noch stärker auf das Jahr 1945 bezogen als jene der Bundesrepublik – als Produkt der Besatzungspolitik der sowjetischen Siegermacht, aber auch als Reaktion der deutschen Kommunisten auf Faschismus und Krieg. Die hier vorliegende Darstellung ist von einer vergleichenden Geschichte der beiden deutschen Staaten weit entfernt. Aber es ist ganz unvermeidlich, dass die Bezüge, Verflechtungen, Antagonismen beider Staaten hier ebenso eine Rolle spielen wie Unterschiede und Ähnlichkeiten.
Dieser erste Argumentationsbogen, dem dieses Buch folgt, besitzt ohne Zweifel eine exklusiv deutsche Signatur. Die deutsche Geschichte in diesem Jahrhundert unterscheidet sich von der Geschichte aller anderen Länder, und sie geht nicht in der europäischen Geschichte auf. Sie ist gleichwohl eine europäische Geschichte, und daher steht der zweite Argumentationsbogen dieses Buches zu dem ersten in Widerspruch, weil er die Zäsur des Jahres 1945 überwölbt.
Er bezieht sich auf die Durchsetzung der Industriegesellschaft in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und die Auswirkungen dieser fundamentalen Umwälzung auf die Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und namentlich auf die Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert. Anders als in den Jahrzehnten zuvor waren die der Industrialisierung innewohnenden Tendenzen seit der Jahrhundertwende nämlich nicht mehr auf spezifische Gruppen und wenige Regionen begrenzt, sondern verwandelten das Leben nahezu Menschen – und zwar innerhalb einer Generationenspanne und so grundlegend wie nie zuvor in der Geschichte.
Intensität und Dynamik dieser Veränderungen stellten die Zeitgenossen vor außerordentliche Herausforderungen. Die in den Folgejahrzehnten festzustellenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bewegungen, die mit großer Radikalität auftraten, sind vor allem als Versuche der Reaktion, der Antwort auf diese Herausforderungen zu verstehen, die zum einen als nie gekannter Fortschritt, zugleich aber als tiefe, existentielle Krise der bürgerlichen Gesellschaft empfunden wurden. Die Suche nach einem Ordnungsmodell von Politik und Gesellschaft, das auf diese rasenden Veränderungen reagierte und sowohl Sicherheit wie Dynamik versprach, Gleichheit wie Wachstum, prägte die folgenden Jahrzehnte.
Dabei verlor das liberalkapitalistische Ordnungsmodell in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, der Inflation und besonders nach der Weltwirtschaftskrise an Legitimität und Überzeugungskraft und sah sich der Konkurrenz der radikalen Alternativen von links und rechts gegenüber, die gegen Pluralität und Diversität das Prinzip der Einheit und der Dichotomien setzten, in den Kategorien der Klasse oder der Rasse. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts kann in weiten Teilen als eine Geschichte dieser Konkurrenz verstanden werden. Dabei verkörperten Nationalsozialismus und Kommunismus keine «antimodernen» Gesellschaftsformationen, sondern andere Entwürfe zur Ordnung der modernen Welt, in der der liberale Dreiklang aus freier Wirtschaft, offener Gesellschaft und wertbezogenem Universalismus auf je spezifische Weise durchbrochen wurde. Beide sind zu verstehen als komprimierte Antworten auf die seit der Jahrhundertwende sich vollziehende Wandlungsdynamik, radikalisiert durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und durch die Auseinandersetzungen mit den je konkurrierenden Ordnungsentwürfen.
Durch den Sieg und die überlegene militärische und wirtschaftliche Kraft des Westens, vor allem der USA, wurden die Prinzipien des liberalen, demokratischen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg wieder reaktiviert und entfalteten in Deutschland wie in ganz Europa nach dem Kriege eine Anziehungskraft, wie man sie in den dreißiger Jahren nicht mehr für möglich gehalten hatte. Aber erst als sich in den 1950er Jahren freie Marktwirtschaft und liberales System als stabil und erfolgreich erwiesen, setzte sich die liberale Option tatsächlich durch – als «Soziale Marktwirtschaft» deutlich in Konkurrenz zu der Konzeption des sowjetischen Sozialismus in der DDR und eingebunden in die globale Konfrontation des Kalten Krieges.
Hier bildete sich in Westdeutschland wie in den meisten anderen westeuropäischen Gesellschaften sukzessive ein Modell heraus, das Kapitalismus und Sozialstaat integrierte, liberale Ideen mit immer weiter reichenden Planungskonzepten verband und nationalstaatliche Orientierungen mit der Einbindung in die europäische Integration verband – verstanden als eine Geschichte des Fortschritts, der Eindeutigkeit und der Kohärenz und nach wie vor orientiert auf die Herausforderungen der Industriegesellschaft, wie sie sich im späten 19. Jahrhundert herausgebildet hatte. Ihren Höhepunkt erlebte die klassische Industriegesellschaft in den 1960er Jahren, danach begann sie an Prägekraft zunehmend zu verlieren. Die bis dahin unangefochtene Stellung von Schwerindustrie und industrieller Massenarbeit geriet ins Rutschen, und das Modell des industriellen Fortschritts geriet an seine Grenzen – sowohl im Westen, wo die Bergwerke, Stahlunternehmen und Schiffswerften geschlossen wurden, als auch in der DDR und den anderen Ländern des sowjetischen Imperiums, die in ihrer politischen und gesellschaftlichen Ordnung vollständig auf Schwerindustrie und Massenarbeit orientiert waren und mit der Erosion der klassischen Industriegesellschaft zusammenbrachen. Der liberale Kapitalismus des Westens erwies sich als flexibler und passte sich seit den 1970er Jahren den neuen...