E-Book, Deutsch, Band 56, 65 Seiten
Hepp / Schmahl / Stiglmayr Ratgeber Selbstverletzendes Verhalten
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8444-3178-0
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Informationen für Betroffene und Angehörige
E-Book, Deutsch, Band 56, 65 Seiten
Reihe: Ratgeber zur Reihe Fortschritte der Psychotherapie
ISBN: 978-3-8444-3178-0
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Selbstverletzendes Verhalten wie Ritzen oder Schneiden tritt vor allem im Jugendalter und im jungen Erwachsenenalter auf. Für die Betroffenen und deren Angehörige stellt es eine große Belastung dar. Häufig bekommt das Umfeld davon wenig oder gar nichts mit, manchmal sind Selbstverletzungen jedoch auch ein Mittel der Kommunikation in schwierigen Lebensphasen.
Dieser Ratgeber beschreibt die verschiedenen Formen sowie die psychologischen und biologischen Hintergründe von Selbstverletzungen. Er geht auf die Faktoren ein, die dazu führen, dass Menschen sich selbst verletzen oder die sie davon abhalten können. Neben der Regulation von Stress und Emotionen haben nichtsuizidale Selbstverletzungen häufig auch eine Funktion in der Kommunikation mit dem sozialen Umfeld, also innerhalb des Freundeskreises, in der Schule oder in der Familie. Ein besonderes Augenmerk legt der Ratgeber zudem auf die Kommunikation über Selbstverletzungen in den sozialen Medien. Weiterhin gibt der Ratgeber konkrete Tipps, wie Betroffene sich selbst helfen können bzw. wie sie Hilfe bekommen können. Schließlich zeigt er Behandlungsmöglichkeiten auf und erläutert die Elemente einer erfolgreichen Behandlung.
Zielgruppe
Menschen, die sich selbst verletzen, Angehörige, Psychotherapeut_innen, Psychiater_innen, Lehrkräfte, Sozialpädagog_innen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
Weitere Infos & Material
|28|2 Wie entsteht nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten und warum geht es nicht von allein weg?
Wie in Kapitel 1.3 beschrieben, hören viele Betroffene als Erwachsene ganz von allein wieder auf, sich selbst zu verletzen – auch ohne therapeutisches Eingreifen. Etwa 50?% aller Betroffenen verletzen sich nur ein einziges Mal und nutzen NSSV danach nie wieder. Bei einigen bleibt NSSV jedoch über Jahre hinweg bestehen und bedarf einer Behandlung. In diesem Kapitel stellen wir zwei wissenschaftliche Ansätze vor, die versuchen zu erklären, warum Personen damit anfangen, sich selbst zu verletzen, und warum sie damit weitermachen. Das zentrale Modell, auf das wir uns dabei beziehen, ist das sogenannte Nutzen-und-Barrieren-Modell (Benefits and Barriers Model) von Jill Hooley und Joseph Franklin. Das Modell erklärt, welche Barrieren Menschen normalerweise davon abhalten, sich selbst zu verletzen, und wie diese Barrieren kaputtgehen können. Zudem beschreibt das Modell einige „Benefits“ – also den Nutzen – den selbstverletzendes Verhalten für Betroffene hat. Dieser kann erklären, warum viele Betroffene nicht einfach so wieder damit aufhören können, sich zu verletzen. Das zweite Modell, das Vier-Funktionen-Modell, wird in Kapitel 2.3 beschrieben. 2.1 Barrieren, die von NSSV abhalten
Das Nutzen-und-Barrieren-Modell geht von fünf zentralen Barrieren aus, die die meisten Personen davon abhalten, sich jemals selbst zu verletzen: NSSV-Barrieren Fehlende Kenntnis von NSSV Ein guter Selbstwert oder ein positives Selbstbild Ein Bestreben, körperlichen Schmerz zu vermeiden Eine Abneigung gegen Reize, die mit NSSV zu tun haben Soziale Normen |29|Das Autorenteam nimmt an, dass schon eine einzige intakte Barriere genügt, um eine Person von NSSV abzuhalten. Zum Beispiel können wir uns eine Jugendliche vorstellen, die mehrere Freund:innen hat, die sich selbst verletzen. Sie kennt also NSSV als Verhaltensoption und Barriere 1 wäre somit nicht mehr intakt. Zudem wäre in diesem Freundeskreis NSSV wahrscheinlich akzeptiert oder vielleicht sogar respektiert. Die soziale Norm ihrer Gruppe würde NSSV also nicht entgegenstehen und Barriere 5 fehlt daher ebenfalls. Weiterhin können wir für das Beispiel annehmen, dass die Jugendliche unter einem negativen Selbstbild leidet, sodass Barriere 2 ebenfalls fehlt. Eines ihrer Hobbys ist vielleicht Kickboxen, wodurch sie eine Angst vor körperlichen Schmerzen größtenteils abgelegt hat, sodass Barriere 3 ebenfalls nicht mehr intakt ist. Die Jugendliche hat also ein sehr hohes Risiko für NSSV. Wenn wir jetzt aber davon ausgehen, dass sie auch einen großen Ekel vor Blut und Wunden allgemein hat, kann diese eine Barriere (Barriere 4: Abneigung gegen Gegenstände und Kontexte, die mit NSSV zu tun haben) allein genügen, um NSSV als Verhaltensoption auszuschließen. Im Folgenden beschreiben wir die einzelnen Barrieren im Detail. Abbildung 2 zeigt eine Übersicht des gesamten Modells. |30|2.1.1 Barriere 1: Fehlende Kenntnis über NSSV Die erste Barriere ist so zentral wie simpel: Wenn eine Person gar nicht weiß, dass NSSV existiert, also dass die Möglichkeit bestünde, sich selbst zu verletzen, wird sie es auch nicht tun. Dies ist auch einer der Gründe, warum es kritisch gesehen werden kann, dass die Darstellung von NSSV in verschiedensten Medien immer weiter zunimmt, da dadurch diese Barriere bei vielen – insbesondere jungen – Personen nicht mehr existiert. Inzwischen konnte auch in mehreren Studien gezeigt werden, dass Jugendliche, deren Freund:innen sich selbst verletzen, ein deutlich erhöhtes Risiko haben, auch mit NSSV anzufangen. Rückgreifend auf unsere Diskussion potenzieller Auswirkungen von NSSV-Darstellungen in sozialen Medien kann hier also nochmal betont werden, dass die Darstellung von NSSV immer auch andere Personen beeinflussen kann – nicht nur als Auslöser bei Personen, die sich bereits selbst verletzen, sondern auch als negative „Inspiration“ für Personen, die bisher noch gar nichts von NSSV wussten. 2.1.2 Barriere 2: Positives Selbstbild Die zweite Barriere beruht auf der Idee, dass eine Person, die sich positiv sieht, sich selbst keinen Schaden zufügen will. Anders ausgedrückt: Wenn das Selbstbild einer Person beinhaltet, dass sie eine wertvolle und liebenswerte Person ist, die sowohl Stärken als auch Schwächen hat und diese haben darf, die Fehler machen darf und trotzdem wertvoll und liebenswert bleibt, wird die Person wenig Gründe finden, sich selbst körperlichen Schaden zuzufügen. Studien zum Selbstbild von Personen mit NSSV konnten zeigen, dass sie deutlich höhere Werte an Selbstkritik aufweisen und es diesen Betroffenen schwerer fällt, sich selbst Fehler zu verzeihen, als Personen, die sich nicht selbst verletzen. Das Autorenteam des Nutzen-und-Barrieren-Modells geht davon aus, dass gerade diese selbstkritische (bis hin zu selbsthassende) Sicht Personen dazu motiviert, NSSV als Verhaltensoption zu wählen anstatt andere Problemverhaltensweisen wie Substanzkonsum oder restriktives Essverhalten. Häufig kommen aber auch mehrere oder sogar alle Verhaltensweisen gemeinsam vor. Zahlreiche Studien deuten auch darauf hin, dass ein negatives Selbstbild erklären kann, warum Faktoren wie Missbrauch und andere Traumata in der Kindheit mit einem erhöhten Risiko für NSSV einhergehen. |31|Es wurde gezeigt, dass sich diese Erlebnisse in einem tiefgreifend negativen Selbstbild niederschlagen können, das im Jugendalter (in dem NSSV häufig zum ersten Mal auftritt) besonders angreifbar ist. Ein weiterer Aspekt, der mehrfach untersucht wurde, ist Perfektionismus. Personen mit einem ausgeprägten Perfektionismus haben auch häufiger ein negatives Selbstbild (weil sie Dinge gefühlt nie gut genug machen können) und demnach auch ein höheres Risiko für NSSV. Natürlich heißt dies nicht, dass jede Person, die sich selbst verletzt, unter Traumata in der Kindheit oder Perfektionismus leidet. Dies sind lediglich Faktoren, von denen mehrere Studien zeigen konnten, dass sie in der Gruppe der NSSV-Betroffenen gehäuft auftreten. 2.1.3 Barriere 3: Vermeidung von körperlichen Schmerzen Die dritte Barriere besteht in einer Abneigung gegenüber körperlichen Schmerzen und dem Bestreben, diese zu vermeiden. Diese Barriere ist zunächst einmal universal gültig und allen Menschen gemein, da alle Menschen biologisch so „programmiert“ sind, dass sie versuchen, ihren Körper zu schützen und Verletzungen und Schmerzen zu meiden. Wie also kann es dazu kommen, dass manche Personen ein schmerzhaftes Erleben wie NSSV aktiv herbeizuführen? Hierzu gibt es viele verschiedene Erklärungsansätze, die weiterhin intensiv beforscht werden. Lange Zeit hielt sich die in Kapitel 1.4.4 bereits beschriebene Idee, dass Betroffene während der Selbstverletzung eine sogenannte Analgesie erleben, also gar keine Schmerzen währenddessen spüren. In großen Umfragestudien wurde inzwischen jedoch gezeigt, dass dies nicht immer der Fall ist. Stattdessen berichten viele Betroffene, normalerweise Schmerzen bei der Selbstverletzung zu spüren. Diese Schmerzen werden jedoch generell als eher gering ausgeprägt eingeschätzt. Eine mögliche Erklärung dafür, dass NSSV-Schmerzen von Betroffenen als eher gering eingeschätzt werden, ist, dass Betroffene eine höhere Schmerzschwelle haben. Dies wurde im Labor mehrfach untersucht, indem Personen mit und ohne NSSV verglichen wurden, die demselben Schmerzreiz ausgesetzt wurden, z.?B. einem Hitzereiz am Arm. Dann wurde gemessen, wie früh (also ab welcher Temperaturhöhe) die Teilnehmer:innen den Reiz als schmerzhaft wahrgenommen haben – dies ist die Schmerzschwelle. Bei Personen mit NSSV musste der Reiz deutlich heißer sein, damit er von den Teilnehmer:innen als schmerzhaft wahrgenommen wurde als bei Personen ohne |32|NSSV. Zudem wurde in diesen Studien...