Hensgen | Die neuen Bekanntschaften der Nora Budweis | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 363, 288 Seiten, Format (B × H): 132 mm x 215 mm

Reihe: Lindemanns Bibliothek

Hensgen Die neuen Bekanntschaften der Nora Budweis


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96308-150-7
Verlag: Lindemanns VERLAG & AGENTUR
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

E-Book, Deutsch, Band 363, 288 Seiten, Format (B × H): 132 mm x 215 mm

Reihe: Lindemanns Bibliothek

ISBN: 978-3-96308-150-7
Verlag: Lindemanns VERLAG & AGENTUR
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Eine Frau verlässt ihre vertraute Umgebung, zieht in eine Großstadt und tritt dort eine neue Stelle an. Warum ist die Geschichte von Nora Budweis lesenswert? In großen Worten: Diese Frau sucht nach einem Platz in der Welt, der es ihr erlaubt, in der Wahrheit zu leben. Ein radikaler Anspruch, der all jene irritiert, die sich in den üblichen Kompromissen eingerichtet haben. Nora Budweis ist keine zwanzig mehr, sondern vierzig Jahre älter, und stellt sich nüchtern den Folgen ihres Auftritts in der neuen Stadt. Auf den ersten Blick vor allem Verluste: Sie verlangen eine zweite, große Entscheidung.

Andrea Hensgen wuchs in einem Dorf an der luxemburgischen Grenze auf, studierte in Saarbrücken Geisteswissenschaften und lebt heute in Frankfurt a.?M. Viele ihrer Romane, Erzählungen, Kinder- und Jugendbücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. Die Autorin sucht nach immer wieder neuen Formen, wie der Reichtum der europäischen Kultur fruchtbar gemacht werden könnte, um den heutigen Herausforderungen zu begegnen. Diese Überlegungen rahmen ihre aufmerksame Zuwendung zu ihren Mitmenschen und deren Geschichten.
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Am Abend

Nora Budweis

Sie hatte diese Stelle in der unbedachten Hoffnung angetreten, von Eltern, die für ihren Nachwuchs eine Privatschule wählten und dafür ordentlich bezahlten, ein Mindestmaß an Verständnis und Interesse für ihre Kinder erwarten zu dürfen. Wem musste man denn noch erzählen, dass Kinder Liebe brauchten, am besten von ihren Eltern?

Auf der Suche danach strich Sascha wie ein kleiner, verlassener Hund um jeden Erwachsenen herum. Auch wenn die Schulkantine wenig an Geborgenheit einer Küche bot, war es doch der Platz, an dem es drei Mal am Tag Essen gab, und dazu Frau Lackner. Sascha hing an ihrer Schürze, oder klebte an ihrem Kittel, half ihr sogar beim Decken und Abräumen der Tische, obwohl es ausdrücklich verboten war. Die Angestellten der Schule durften den Schülern keine kleinen Dienste oder Aufgaben übertragen.

Wie sollten Saschas Eltern je davon erfahren! Wenn sein Vater ihn abends abholen kam, war die Küche blitzblank geputzt und Frau Lackner längst nach Hause gegangen – obwohl sie oft nach der Arbeit länger blieb, wenn Sascha darum bettelte. Er konnte mittlerweile Namen und Alter von Frau Lackners acht Enkeln aufzählen, sogar die Kosenamen von deren Haustieren nennen. Von ihren Enkeln erzählte Frau Lackner am liebsten.

Falls sie etwas von dieser Freundschaft zwischen ihrem Sohn und der Küchenhilfe geahnt hätten, wäre es Saschas Eltern kein Gedanke gewesen, dass sie sich in die lange Tradition der Reichen ihres Landes einreihten, die seit Jahrhunderten die Kinder der Obhut ihres Personals überließen. Im 19. Jahrhundert hatte es die Sprache verraten, die tiefe Kluft zwischen dem gepflegten Französisch der Eltern und der Derbheit der Ausdrücke, die die Kinder von den Dienern lernten.

Was und wieviel in Saschas Familie miteinander geredet wurde, darüber wollte Nora Budweis lieber keine düsteren Vermutungen anstellen.

Bei der letzten Theateraufführung hatte seine Mutter sich nach vorne zwischen die Lehrer gedrängt, um möglichst dicht vor der Bühne ihr Mobiltelefon über alle Köpfe zu strecken.

Später, während des Wartens, bis die Kinder sich wieder umgezogen hatten, waren sie über die Pläne für die Ferien ins Gespräch gekommen. Dabei hatte Saschas Mutter anklingen lassen, dass Sascha abends sehr müde sei, nach den doch langen und anstrengenden Schultagen.

„Für die Ferien steht deshalb passiver Konsum auf dem Programm, es wird ja viel geboten in der Stadt an Veranstaltungen für Kinder, im Kino und im Theater. Wir haben auch schon Karten für das Musical in der Jahrhunderthalle.“

Heute Abend war Nora Budweis in der Stimmung, dem völlig unvernünftigen Einfall nachzugeben und Saschas Eltern vorzuschlagen, den Jungen am Wochenende zu sich nehmen zu dürfen. Nur ab und zu, und ohne dass einer etwas davon erführe. Garantiert würden die Eltern zustimmen, könnten sie völlig sicher sein, dass es geheim bliebe.

In den Schulstunden ließ sich nicht wettmachen, was Sascha fehlte.

Herr Winter

In seinen fünfunddreißig Dienstjahren war es keinem anderen Lehrer je eingefallen, sich so zum Affen zu machen. Es war nur lächerlich. Klar, so gewann sie die Schüler, und mit den Schülern und Eltern verbrüderte sie sich ja. Mit wem sonst, von den Kollegen hatte sie nichts mehr zu erwarten.

Vom Fenster des Lehrerzimmers aus hatte man den gesamten Hof im Blick. Das wussten alle in der Schule, die Schüler so gut wie die Lehrer.

Heute Morgen hatte er sich seinen Stuhl ans Fenster geschoben. Der Heizungskörper war breit genug für die Kaffeetasse.

Sie lachte, rannte hinter den Schülern her und tat so, als seien sie ihr viel zu schnell. Ließ sie entwischen und ihr Grimassen direkt vor der Nase schneiden, vollkommen albern. Und völlig unmöglich, die Klasse nach solch einem Spektakel in der nächsten Stunde wieder ordentlich auf die Spur zu setzen.

Ein Räuspern in seinem Rücken. Einem der Kollegen war es aufgefallen, dass er seit Beginn der Pause bloß das Treiben der Neuen da unten verfolgte.

Er hatte nach seiner Tasse gegriffen und war zurückgekehrt an seinen Platz am Tisch.

Statt sie ins Krankenzimmer zu schicken, durften ihre Schüler sich hinten in ihrem Klassenzimmer auf eine Matratze legen. Kein Wunder, dass da fast jeden Tag einer Kopfweh hatte, das nahm sie hin. Wer nicht in der Stimmung war, um dem Unterricht zuzuhören, der durfte gemütlich eine Runde im Hof spazieren gehen.

Ein Budenzauber, wie er sonst nur Referendaren einfiel, um Eindruck zu machen. So unbedarft und leichtgläubig hatte er sie nicht eingeschätzt. Oder war sie doch bloß eine schräge, alleinstehende Alte, die unbedingt geliebt werden wollte?

Karl

In Mias Schoß hatte sein Kopf geruht, in den schweren, ratlosen Stunden. Und warm und gut, wenn er bloß erschöpft und müde gewesen war. Geduldig strich sie über seine Schläfen.

Mit ihren warmen Händen, im Sommer wie im Winter.

Mit ihren schönen Händen, den schmalen Fingern. Jeden Tag hatte er Mias Hände angesehen. Er war kein Dichter. Aber es waren Mias Hände, deshalb nannte er sie manchmal „meine kleine Gazelle ...“

Zu wem sollte er gehen? Wer würde ihn still in die Arme nehmen? Jetzt, wo jeder Tag mit der Angst um Mia begann und damit endete. Nie mehr würde es anders werden, bis Mia tatsächlich verloren war. Und da war niemand, weit und breit, vertraut genug für einen wortlosen Trost.

Herr Tarkin

Die Taunusanlage kannte er gut. Oft genug hatte er Kunden hingefahren, vor einem der Glaseingänge angehalten und den Koffer bis zu den ersten Stufen getragen. Bei den Kunden zur Taunusanlage gab es drei, vier Stammgäste, die erzählten ihm Dinge, darüber redete man mit Freunden, und am besten mit niemandem sonst.

Zum ersten Mal war er heute an den zwei Türstehern vorbeigegangen. Standen zu beiden Seiten des Eingangs, auf der obersten Stufe, in ihren blauen Jacken und Kappen, und sahen ihn an, wie die Kontrolleure in der U-Bahn einen der Kerle, die sie sofort nach seiner Karte fragten, einen dieser dunklen Männer mit einer Plastiktasche. Ein alter Taxifahrer, der eher slawisch als deutsch aussah, spazierte selten mit einem feinen, kleinen Jungen an der Hand in ihren Turm hinein.

Es gehörte zu seinem Auftrag, den Jungen bei seinem Vater abzuliefern. Die Antwort auf ihre Frage hatte er sich zurechtgelegt. Sie nickten nur stumm und traten einen Schritt zur Seite.

Den zwei Frauen in der Halle hatte er den Namen des Vaters genannt. Sie sollten sich in die Sessel setzen und warten, der Junge würde gleich abgeholt. Das Kind kauerte im Sessel, die Arme um die eingezogenen Beine geschlungen, nur Angst in den Augen. Er hieß Jona. Der Prophet war vor Gottes Auftrag abgehauen und hatte geglaubt, mit der Flucht auf ein Schiff, tief unten versteckt, Gottes Auge entgehen zu können.

Um den Jungen abzulenken, begann er ein Gespräch.

„Bist Du denn zum ersten Mal bei Deinem Papa? Hast Du ihn noch nie besucht?“

Jona schüttelte den Kopf, sagte kein Wort. Dass er in die zweite Klasse ging und seine Lehrerin gut fand, so viel bekam er am Ende aus ihm raus.

„Was macht denn Deine Mama?“

„So was wie Papa.“

„Und wo ist sie jetzt?“

Jona zuckte mit den Schultern.

„Wohnt Ihr denn weit weg von hier.“

„Nicht so weit, glaube ich.“

Er tat dem Kind keinen Gefallen damit, es auszufragen, und sah sich um in der Halle. Alles zu groß und zu leer und Geld genug, um sich Platz zu kaufen, den keiner brauchte. Zwischen den Sesseln und der Theke eine riesige Fläche, glänzender, schwarzer Boden, und an den Wänden die gleichen Bilder wie überall in den Häusern der Reichen. Mit ein paar wilden, dunklen Farbstrichen füllten sie eine halbe Wand. In den ersten Jahren hatte er oft gedacht, sie sollten weiterziehen, in eine andere Stadt als Frankfurt. So wie die Halle war ihm die ganze Stadt vorgekommen, zu groß, zu kalt und zu glatt.

Die Stadt hatte die Messen und den Flughafen, und all die Leute, die von da nach dort wollten.

Auf Laufkundschaft wartete in dieser Halle keiner. Von den zwei Frauen brauchte man nur eine. Er beobachtete die beiden, bis sie es spürten und damit begannen, so zu tun, als hätten sie was zu tun. Sie beugten sich über Broschüren und fingen an, darin zu blättern. Hübsch waren sie alle zwei.

Aber nicht hübscher als Valeska, und Valeska verfolgte einen anderen Plan als irgendwann als Empfangsdame hinter einer Theke zu stehen, nett anzusehen. Valeska und Milena, wenn er auf den nächsten Kunden wartete, war Zeit genug, an die beiden zu denken. Meist stand er auf dem Platz vor dem Bahnhof. Er hatte aufgehört damit, den anderen Fahrern von seinen zwei Töchtern zu erzählen.

Bernhard

Schmale, hohe Kisten, vor dunklem Hintergrund, mehr schief als gerade, bedeckt mit dicht gedrängten, gelben Flecken – Jonas Hochhausbilder. Luisa hatte ihm Tisch und Stuhl vor das Fenster mit Blick auf die Nachbartürme gestellt.

Wie immer ein mühselig langes Abendessen, den Rand seines Brots mit der Zunge von links nach rechts, Jona kaute seit Minuten drauf herum.

Teller und Gläser zur Seite, und in einer langen Reihe die einzelnen Blätter quer über den Küchentisch.

„Das sieht ja aus wie in echt, das sieht richtig gut aus.“

Jonas strahlende Augen, könnte ihn öfter mal loben.

„Und mit Luisa hast Du Dich doch gut verstanden, oder?“

Endlich, das Brot verschwand, er kletterte auf seinen Stuhl und beugte sich über den Tisch.

„Bis wir...


Andrea Hensgen wuchs in einem Dorf an der luxemburgischen Grenze auf, studierte in Saarbrücken Geisteswissenschaften und lebt heute in Frankfurt a.?M. Viele ihrer Romane, Erzählungen, Kinder- und Jugendbücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. Die Autorin sucht nach immer wieder neuen Formen, wie der Reichtum der europäischen Kultur fruchtbar gemacht werden könnte, um den heutigen Herausforderungen zu begegnen. Diese Überlegungen rahmen ihre aufmerksame Zuwendung zu ihren Mitmenschen und deren Geschichten.



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